Interview Stefan Kastner: Demaskierte Probleme

11.04.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Der neu gewählte Ärztekammerpräsident in Tirol, Stefan Kastner, spricht im Interview mit Sophie Niedenzu über strukturelle Reformen, inter- und intraprofessionelle Arbeit in den Spitälern, Idealismus, schlechte Datenqualität und falsche Versprechen in der Pandemie.

Sie übernehmen nun nach jahrzehntelanger Tätigkeit von Artur Wechselberger die Präsidentschaft in Tirol. Was haben Sie sich für Ihre Funktionsperiode als Tiroler Ärztekammerpräsident vorgenommen, welchen Themen werden Sie sich widmen? Ich kenne und schätze Artur Wechselberger schon seit 30 Jahren, ich habe ihn schon als Studentenvertreter kennengelernt und so erste Kontakte zur Ärztekammer aufbauen können. Seit damals und damit auch während meiner mittlerweile 20-jährigen Tätigkeit als Funktionär in der Ärztekammer für Tirol war Artur Wechselberger als sehr engagierter und umsichtiger Präsident Vorbild und Auftrag, sich für die Kollegen einzusetzen. Die Fußstapfen, in die ich da trete, sind sicherlich groß, dennoch freue ich mich sehr auf die neue Herausforderung und denke, dass ich dieser durch meine bisherige Erfahrung in der Ärztekammer und durch ein starkes Team an Kollegen gewachsen sein werde. Ich sehe mich in dieser Funktion als Brückenbauer zwischen den Kurien bzw. unterschiedlichen Interessensgruppen in der Ärzteschaft.

Was sollte im niedergelassenen Bereich verbessert werden? Das in die Jahre gekommene Krankenkassensystem frustriert Ärzte wie Patienten gleichermaßen. Die Zusammenlegung von Krankenhassen als einzige strukturelle Veränderung ist wertlos. Wo ist ein österreichweiter Leistungs- und Honorarkatalog der ÖGK? Es wird grundlegende strukturelle Reformen und Zusammenarbeitsformen benötigen und den Mut erfordern, neue Freiheiten zu finden. Diese müssen über die zu eng gedachten Strukturen von Primärversorgungszentren hinausgehen und eine familientaugliche und patientenorientierte Medizin im niedergelassenen ärztlichen Bereich ermöglichen. Längst notwendige Entwicklungsschritte wie die Einführung des Facharztes für Allgemeinmedizin oder die Etablierung einer weiteren praktikablen Digitalisierung harren der Umsetzung. Im Bereich letzterer hat die Corona-Pandemie mit dem elektronischen Impfpass und dem elektronischen Rezept einen kurzzeitigen Turbo gezündet.

Wo sehen Sie Verbesserungspotential im Spitalsbereich? Nach zwei Jahren Pandemie ist das Personal in den Krankenhäusern ausgelaugt und häufig frustriert. Die Arbeitsdichte ist teilweise so hoch, dass eine kürzere Arbeitszeit oft keine Verbesserung der Lebensqualität bringt. Das auf die Pandemie zu reduzieren ist zu wenig. Die Hoffnung, dass sich die Probleme lösen, wenn die Pandemie besiegt ist, wird sich nicht erfüllen. Die Pandemie hat vielmehr schwelende Probleme und Konflikte demaskiert. Die Probleme der Spitalsärzte wird man nicht losgelöst von der Pflege bewältigen können. Denn die inter- und intraprofessionelle Arbeit in einem Krankenhaus funktioniert nur dann wie ein Uhrwerk, wenn alle Zahnräder gut geölt ineinandergreifen. Die Kranken­hausbetreiber und die Politik sind gefordert, die Bedingungen zu verbessern. Ein wertschätzender Umgang mit der Ärzteschaft und der Pflege in den Kranken­häusern muss ein erster Schritt sein. Reformen einzufordern und zu entwickeln wird auch Aufgabe der Ärztekammer sein.

Was läuft gut im österreichischen Gesundheitssystem ver­glichen mit anderen Ländern? Der Zugang zur medizinischen Leistung ist aufgrund der solidarischen Finanzierung allen zugänglich. Im Gegensatz zu anderen Ländern steht hier eine umfassende Versorgung unabhängig von Alter, Einkommen, Wohnort oder sozialem Status zur Verfügung.

Sie waren auch jahrelang in der Ausbildungskommission der ÖÄK engagiert. Welche Herausforderungen gibt es in der Ärzte­ausbildung aktuell und ­welche Lösungsvorschläge haben Sie? Der Start in den Arztberuf erfolgt mit viel Idealismus und großen Erwartungen und Zielen. Primär wird ein gutes Ausbildungskonzept, wertschätzender Umgang, faire Bezahlung und eine gelebte patientenorientierte intra- und interprofessionelle Zusammenarbeit der Weg zu einem mit Freunde erfüllten Berufsalltag sein. Die Realität sieht aber ganz anders aus. Viele Auszubildende fühlen sich allein gelassen, der Alltagstrott in der Systemerhaltung dominiert den Tagesablauf. Die Ausbildung bleibt oft auf der Strecke. Gerade in den ersten Monaten an einer Ausbildungsstätte können Mentoring-Modelle bzw. Ausbildungs­assistenten den Einstieg enorm erleichtern. Aus meiner Sicht ist eine engagierte, wertschätzende und qualitätsvolle Ärzteausbildung einer der Schlüssel, um den Ärztemangel zu bekämpfen. Nur wenn eine Ausbildung an einem österreichischen Krankenhaus attraktiv ist, verhindern wir den Abgang junger Kolleginnen und Kollegen in das Ausland. Die Qualität der Ärzteausbildung zu fördern, einzufordern und zu überprüfen war ein wesentliches Ziel der Ausbildungskommission der ÖÄK im Rahmen der Genehmigungsverfahren und der Visitationen. Dieses Ziel ist durch den Entzug dieser Kompetenzen durch den Verfassungsgerichtshof in Gefahr. Die ÖÄK muss in den nächsten Wochen und Monaten in Verhandlungen mit den Ländern und dem Bund den Erhalt möglichst umfassender Kompetenzen erreichen versuchen.

Was muss getan werden, um die jungen Ärzte in Österreich zu halten? Zu allererst muss jungen Ärzten nach dem Studium eine Perspektive geboten werden. Es kann nicht sein, dass einerseits die Erhöhung der Studienplatzzahlen gefordert wird, andererseits aber jungen Kollegen keine Ausbildungsstellen angeboten werden. Es braucht hier mehr Flexibilität der Krankenhäuser, um die jungen Absolventen wertschätzend abzuholen, denn vor allem unsere deutschsprachigen Nachbarländer sind uns hier voraus.

Wie beurteilen Sie das Pandemiemanagement im Gesundheitswesen? Das ist eine Frage, die wohl ganze Bücher füllen könnte. In der Anfangszeit der Pandemie war vieles unklar, überraschend, beängstigend und neu. Aber schon nach dem ersten „Sommer wie damals“ kamen bis heute nahezu alle Maßnahmen verspätet oder halbherzig. Ich kann und möchte hier nur als Beispiel die viel zu späte Einführung der Maskenpflicht in Innenräumen im Herbst 2020 und 2021 anführen. Die schwachen Versuche zur Bewerbung der Impfung gegen das Coronavirus ist ein anderes Beispiel.

Was sollten Politiker und Manager im Gesundheitswesen aus der Pandemie lernen? Lernen können wir alle aus dieser Pandemie sehr viel. Für mich muss das Management einer Pandemie einer klaren Linie folgen, die Politik muss Expertenmeinungen aus verschieben Bereichen transparent bewerten, daraus Maßnahmen ableiten und deren Umsetzung begleiten. Dazu gehört eine klare Kommunikation und ein Schulter­schluss möglichst aller politischen Kräfte und Institutionen. Falsche Versprechungen wie ‚die Pandemie ist für Geimpfte vorbei‘ verunsichern und enttäuschen.

Was sollte in Zukunft verbessert werden? Es war für mich erstaunlich, wie schwer es in Österreich gefallen ist, eine gute Datenqualität sicherzustellen, funktionierende EDV-Schnittstellen zwischen den einzelnen Registern und Meldesystemen einzurichten und das Pandemiemanagement nicht an schlechter Datenqualität oder falsch verstandenem Datenschutz scheitern zu lassen. Wir waren in ganz Europa auf eine Pandemie nicht vorbereitet. Eine sach­orientiere Aufarbeitung und Vorbereitung auf ähnliche Anforderungen in der Zukunft werden notwendig sein.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 07 / 10.04.2022