Interview Katharina Reich und Naghme Kamaleyan-Schmied – „Fehlende Flexibilität blockiert das System“

26.10.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Katharina Reich, Chief Medical Officer im Gesundheitsministerium, und die Allgemeinmedizinerin Naghme Kamaleyan-Schmied, Obmann-Stellvertreterin der Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte der Österreichischen Ärztekammer, sprechen im zweiten Teil des Interviews mit Sophie Niedenzu über Flexibilität im Arztberuf, Gesundheitskompetenz und den Umgang mit der ärztlichen Ressource.

Bei der Wirkstoffverschreibung scheiden sich die Geister – wie stehen Sie dazu? Kamaleyan-Schmied: Wenn das kommen sollte, dann gehen die Patienten in die Apotheke und bekommen ein gleiches Präparat in einer neuen Verpackung, sind verwirrt und fragen dann in der Ordination nach. Gerade ältere Patienten sind ihre Medikamente schon gewohnt und kennen sich dann nicht mehr aus, wenn es plötzlich anders gefärbt ist oder anders eingenommen werden muss. Im schlimmsten Fall brechen Patienten ihre Therapie ab oder nehmen ihre Medikamente falsch ein. Das kann nicht das Ziel sein, deswegen sprechen wir uns als Bundeskurie niedergelassener Ärzte der Österreichischen Ärztekammer klar dagegen aus.
Reich: Wir müssen die Kosten im Blick behalten – bei gleichzeitigem Beibehalten von Qualität und Patientensicherheit. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass es laufend Probleme bei Verfügbarkeiten gibt. Da gibt es zwar noch keinen Stein der Weisen, aber eine Taskforce, die sich damit befasst, wie eine kontinuierliche und effektive Versorgung mit Medikamenten sichergestellt werden kann. Die Compliance hängt natürlich davon ab. Aber außerhalb von Österreich gibt es eben auch ökonomische Bedingungen wie z.B. der Kostendruck am globalen Markt, die wir nicht ignorieren können. Die Wirkstoffverschreibung wäre ein wichtiger Baustein für mehr Versorgungssicherheit. Die Qualität muss damit nicht gefährdet werden – hier gibt es jahrelange internationale Erfahrung.

Was geschieht auf EU-Ebene als Reaktion auf Lieferengpässe und um am Medizinmarkt unabhängiger von anderen zu sein? Reich: Die EU hat sich dieses Themas angenommen. Es gibt mittlerweile eine eigene Task-Force, die sich mit der Problematik befasst, wie man nationale Produktionen und nationale Projekte stärken kann. Aber auch damit, wo nationale Macht und Einfluss ein Ende haben. Die Health Emergency Preparedness and Response Authority (HERA) koordiniert den Zusammenschluss der Staaten bezüglich der Versorgungssicherheit in Gesundheitskrisen. Zentrale Fragen sind für uns: Wo sollte der Einflussbereich gestärkt werden, wo sind wir nach wie vor abhängig und wie können wir das lösen?
Kamaleyan-Schmied: Diese Abhängigkeit von anderen Ländern ist fatal, das haben wir in der Pandemie gemerkt, man denke nur an die Masken aus Asien, die für uns die falsche Größe hatten, ebenso wie die Schutzmäntel. Man sollte hier noch einmal resümieren, was gut funktioniert hat und was nicht, denn eine Pandemie oder Epidemie kommt sicher wieder. Die Zentralisierung war der falsche Weg, wir haben an den falschen Stellen gespart.

Was braucht es, um die Patientenversorgung auch in Zukunft sicherzustellen? Reich: Ohne menschliche Ressource geht es in unserem Gesundheitssystem einfach nicht. Die Versorgung mit Sachleistungen, also die versorgungswirksame Krankenbehandlung, ist ein großes Thema: Wie können wir den Ärztemangel, die Attraktivierung des ärztlichen Berufs angehen? Primärversorgungszentren sind ein Baustein, aber der Ärztemangel an sich ist ein multifaktorielles Thema. Mit den Fragen „Was brauche ich, um mich direkt der Patientenversorgung zu widmen?“ und „Wie ist die Ausbildung für mich gestaltet, ist sie attraktiv genug?“ beschäftigen wir uns intensiv in der Ärztausbildungskommission und in der Zielsteuerung-Gesundheit.
Kamaleyan-Schmied: Wir bilden zwar genug Ärzte aus, aber wir haben nicht genügend im System. Ich habe immer wieder Studenten und Lehrpraktikanten in der Praxis, denen die Arbeit gefällt, die aber die hohe Patientendichte in Kombination mit dem niedrigen Honorar kritisieren. Eine der wichtigsten Fragen sollte also sein: Wie bekomme ich die Ärzte dazu, in diesem solidarischen System, das ich sehr schätze, zu arbeiten? Da muss man sich auch anschauen, was unsere jungen Kollegen brauchen. Ich habe zum Bespiel in meinem Kassenvertrag die Verpflichtung, dass ich zwei Nachmittage in der Woche arbeite. Ich habe Kolleginnen, die aufgrund der Kinderbetreuung nachmittags nicht offen haben können. Da braucht es dann eine Ausnahmeregelung, dass man beispielsweise nur vormittags Ordinationszeiten hat. Ohne Flexibilität gehen uns Ressourcen verloren, wir sind in einem sehr engen Korsett der Krankenkassen und können oft nicht so arbeiten, wie wir es gerne würden. Primärversorgungszentren sind eine gute Idee, aber auch hier gibt es Schwächen. Die Kassen sind hier so streng und von heute auf morgen muss man beispielsweise ein gemeinsames Konto in einer gemeinsamen Ordination haben, bevor man den Partner wirklich gut kennengelernt hat. Das ist wie in einer Beziehung, ich ziehe nicht sofort mit jemandem zusammen und teile mir ein Konto mit ihm. Außerdem nimmt ja jeder seine Patchworkfamilie mit den Ordinationsassistenten mit. Durch die fehlende Flexibilität der Krankenkassen wird das System blockiert.
Reich: Wenn wir nicht auf die Bedürfnisse der neuen Generationen eingehen, dürfen wir uns nicht wundern, dass wir keine Ärzte im System haben. Deswegen ist die Flexibilisierung natürlich ein wichtiger Punkt – neben der wohnortnahen Versorgung und Infrastruktur in Österreich. Das behandeln wir auch in der Bundes-Zielsteuerungskommission, um dieses Problem anzugehen. Da ziehen Bund, Länder, Sozialversicherung bereits an einem Strang.

Wie herausfordernd ist der Föderalismus im Gesundheitsbereich? Reich: Der Föderalismus gehört zu Österreich und man muss schauen, dass man die Schwächen schwächt und die Stärken stärkt. Wir müssen im Gesundheitsbereich gemeinsame Ziele definieren und die Umsetzung dann flexibel an die jeweilige regionale Struktur anpassen. In Tirol sind die Bedürfnisse anders als in Wien, das muss natürlich auch bei bundesweiten Impfprogrammen, wie etwa beim öffentlichen Impfprogramm ab Herbst 2023, bedacht werden.
Kamaleyan-Schmied: Wir haben den bundesweiten Honorarkatalog erarbeitet und es war schon spannend, wie unterschiedlich die Medizin ist, so gibt es natürlich in Tirol mehr Knochenbrüche als beispielsweise in Wien. Wichtig ist daher, dass wir einen fixen Rahmenvertrag als Basis für alle haben, aber auch Mut zur Ausnahme besteht. Wenn jetzt beispielsweise ein Arzt sagt, dass er unter seinen Patienten viele psychische Erkrankungen hat, dann wird auch möglicherweise ein Psychotherapeut vor Ort helfen. Oder man macht ein Kompetenzzentrum für Diabetes, wenn in einer Region der Bedarf groß ist. Immer mit dem Ziel vor Augen: Was kann die Bevölkerung in dieser Region brauchen?
Reich: Das geht Hand in Hand mit der Attraktivierung des ärztlichen Berufes. Die Patientenbehandlung am falschen Punkt ist für Patienten und Ärzte gleichermaßen frustrierend. Der Patient muss wissen: Wo bekomme ich was? Wo bin ich richtig? Der medizinische Zugang muss so logisch sein, dass der Patient einfach durch das System gelotst wird.
Kamaleyan-Schmied: Den Gedankengang hatten wir auch, das fällt in das Thema Gesundheitskompetenz. Wir haben bei der Ärztekammer für Wien das Projekt „Med4School“ entwickelt, das ist eine Gesundheitsdrehscheibe und wir gehen damit in die Volkschulen, um Kindern zu erklären, wie unser Gesundheitssystem funktioniert. Da geht es auch um Rat auf Draht, 141, 1450, wann die Rettung anzurufen ist oder wann man zu einem Arzt gehen sollte. Die Kinder saugen diese Informationen wie Schwämme auf und geben das natürlich auch ihren Eltern weiter, gerade bei Eltern mit Migrationshintergrund ist das ein wichtiger Faktor. Gesundheitsförderung muss schon im Volksschulalter anfangen.
Reich: Es muss uns gelingen, diese Ressourcen mit Bedacht einzusetzen.
Kamaleyan-Schmied: Wenn beispielsweise die Rettung unnötigerweise angerufen wird, dann fehlt das Rettungsteam woanders. Die Gesundheitskompetenz wird sich nicht in zwei Monaten ändern, aber wenn wir jetzt anfangen, die Samen zu säen, dann ernten wir vielleicht in 20 Jahren die Früchte. Man darf nicht vergessen, dass die Gesundheit immer teuer wird, die Bevölkerung wird älter und damit auch die Medikamente und mögliche Therapien wie Physiotherapien.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2022