Inter­view Katha­rina Reich und Naghme Kama­leyan-Schmied – „Kein neues Mascherl umhängen”

11.10.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Chief Medi­cal Offi­cer im Gesund­heits­mi­nis­te­rium, Katha­rina Reich, und die All­ge­mein­me­di­zi­ne­rin Naghme Kama­leyan-Schmied, Obmann-Stell­ver­tre­te­rin der Bun­des­ku­rie der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte der ÖÄK, spre­chen im Inter­view mit Sophie Nie­denzu über den Fach­arzt für All­ge­mein- und Fami­li­en­me­di­zin, die Aus­wei­tung des Mut­ter-Kind-Pas­ses und Impfungen.

Das Posi­ti­ons­pa­pier für den Fach­arzt für All­ge­mein­me­di­zin und Fami­li­en­me­di­zin wurde kürz­lich beschlos­sen. Wie war der Weg dort­hin und was erwar­ten Sie sich für die Zukunft? Reich: Wir wis­sen aus Befra­gun­gen und Eva­lu­ie­rungs­sit­zun­gen, dass sowohl bei jun­gen, aber auch bei erfah­re­nen All­ge­mein­me­di­zi­nern Wert­schät­zung ein wich­ti­ges Anlie­gen ist, um das Fach zu attrak­ti­ve­ren. Zudem kamen bis­lang einige The­men im Cur­ri­cu­lum nicht so gut vor, wie es in der Pra­xis gebraucht wird, Stich­wort Fami­li­en­me­di­zin. Der Fach­arzt war ein guter Anlass, einer­seits die Aus­bil­dungs­the­men zu bear­bei­ten und ande­rer­seits dem Wunsch der All­ge­mein­me­di­zi­ner ent­spre­chend den Beruf auf­zu­wer­ten, weil die All­ge­mein­me­di­zin mehr tun möchte und das auch kann. Wir woll­ten der bestehen­den Aus­bil­dung nicht ein neues Mascherl umhän­gen, das wäre zu kurz gegrif­fen, son­dern die The­men mit­neh­men, die in einer moder­nen Her­an­ge­hens­weise an die­sen Beruf auch not­wen­dig sind – auch im Hin­blick dar­auf, dass wir viel in die Pri­mär­ver­sor­gung inves­tie­ren und Team­work mit ande­ren Berufs­grup­pen immer rele­van­ter wird. Das Posi­ti­ons­pa­pier war der erste Schritt, mal etwas hin­zu­le­gen, was erstaun­lich gut gelun­gen ist….
Kama­leyan-Schmied: … nach 30 Jah­ren. Der Fach­arzt wird in der Kol­le­gen­schaft posi­tiv ange­nom­men, aber es besteht auch ein wenig die Sorge, dass er eine Mogel­pa­ckung ist, sich also Fach­arzt nen­nen wird kön­nen, aber ansons­ten keine Ver­bes­se­run­gen kom­men. Wert­schät­zung ist sehr wich­tig, wir müs­sen aber auch sehr dran arbei­ten, dass sich das Image der All­ge­mein­me­di­zin ändert. Wir haben viele Kol­le­gen, die direkt am Pati­en­ten – die Urauf­gabe der All­ge­mein­me­di­zin – arbei­ten wol­len und von der Zet­tel­wirt­schaft abge­schreckt wer­den. Man darf nicht ver­ges­sen, dass Haus­ärzte sehr wich­tig und ver­trau­ens­bil­dend sind, denn sie wis­sen um die per­sön­li­chen Situa­tio­nen, die für eine Dia­gnose manch­mal wert­volle Infos lie­fern. 

Der Fach­arzt für All­ge­mein­me­di­zin gibt auch deut­lich mehr Raum für die Lehr­pra­xis. Wie sind Ihre Erfah­run­gen? Kama­leyan-Schmied: Ich bin eine sehr große Befür­wor­te­rin der Lehr­pra­xis, ich habe selbst extrem von der Lehr­pra­xis pro­fi­tiert, fach­lich und mensch­lich. Es ist schön zu sehen, wie die jun­gen Lehr­prak­ti­kan­ten in mei­ner Ordi­na­tion rei­fen, wie sie anfangs noch unsi­cher sind und an ihren Auf­ga­ben wach­sen. Der Fach­arzt für All­ge­mein­me­di­zin ist ein Beginn, aber wir müs­sen die­sen Roh­dia­man­ten noch etwas schleifen.
Reich: Das sehe ich genauso. Die Lehr­pra­xis bie­tet eine Aus­bil­dung, die das Spi­tal nicht bie­ten kann, und die Fami­li­en­me­di­zin ist auf­grund der Arzt­kon­ti­nui­tät im nie­der­ge­las­se­nen Bereich sehr wich­tig. Sie inklu­diert bei­spiels­weise die Behand­lung von chro­ni­schen Erkrank­ten und die Rück­sicht­nahme auf mög­li­che fami­liäre Ver­er­bun­gen. Es ist sinn­voll, nicht nur den ein­zel­nen Pati­en­ten zu sehen, son­dern auch immer das indi­vi­du­elle Umfeld. Außer­dem geht es auch um Vor­sorge und Gesund­heits­för­de­rung, da soll auch der Fach­arzt für All­ge­mein­me­di­zin hin­ge­hen. Es ist noch vie­les zu tun, aber wich­tige Schritte sind schon gesetzt.

Imp­fen ist aktu­ell eines der wich­tigs­ten The­men. Wie kön­nen die Impf­ra­ten gestei­gert wer­den? Kama­leyan-Schmied: Unser Grund­pro­blem ist, dass Öster­reich nicht zu den impf­wil­ligs­ten Län­dern gehört. Ich habe meine Ordi­na­tion im 21. Bezirk, da ist die Kauf­kraft weni­ger stark. Bei den Gra­tis­imp­fun­gen wie Influ­enza sind die Pati­en­ten dann tat­säch­lich gekom­men. Es ist also auch eine Kos­ten­frage, natür­lich auch eine Frage der Gesund­heits­kom­pe­tenz, da haben wir Nach­hol­be­darf. Eine Mög­lich­keit wäre, Impflü­cken über die Aus­wei­tung des Mut­ter-Kind-Pas­ses zu schlie­ßen. Die Impf­quote beträgt anfangs durch die Kopp­lung des Mut­ter-Kind-Pas­ses an das Kin­der­be­treu­ungs­geld fast hun­dert Pro­zent und fällt spä­ter rapide ab. In die Ordi­na­tio­nen kom­men Pati­en­ten dann nur, wenn sie gesund­heit­li­che Pro­bleme haben, nicht aber für die Vor­sorge, zu der auch die Imp­fun­gen gehö­ren. Hier sollte man sich Anreize über­le­gen, damit die Dis­kus­sion übers Imp­fen nach hin­ten rückt. Es sollte keine große Dis­kus­sion dar­über geben, son­dern ein­fach nor­mal sein, dass man impft.
Reich: Des­we­gen haben wir die Agenda Gesund­heits­för­de­rung mit einem gro­ßen Bür­ger­be­tei­li­gungs­pro­zess ins Leben geru­fen. Gesund­heits­kom­pe­tenz ist hier ein wich­ti­ges Thema. Das beschäf­tigt uns sehr, da das Imp­fen auch mit der Stei­ge­rung der Gesund­heits­kom­pe­tenz ein­her­geht und dann gelebte Pra­xis und All­tag ist.

Imp­fen ist auch ein öko­no­mi­sches Thema, gibt es hier Pläne, dem ent­ge­gen­zu­steu­ern? Reich: Ja, dafür haben wir das öffent­li­che Impf­pro­gramm ab Herbst 2023 ins Leben geru­fen. Das ermög­licht uns, dass wir mit einer Influ­enza-Imp­fung mit mini­ma­lem Selbst­be­halt für alle in der nächs­ten Sai­son star­ten – und zwar in allen Bun­des­län­dern ein­heit­lich. Das ist sozu­sa­gen unsere Blau­pause, um zu schauen, wie wir öster­reich­weit das glei­che nie­der­schwel­lige Sys­tem für den Zugang zu wei­te­ren Imp­fun­gen eta­blie­ren. Die Corona-Schutz­imp­fung soll an das Pro­gramm ange­hängt wer­den. Außer­dem ist geplant, lang­fris­tig alle wich­ti­gen Imp­fun­gen ein­zu­ar­bei­ten. Ganz oben steht bei­spiels­weise HPV, aber auch Hepa­ti­tis, Pneu­mo­kok­ken, Meningokokken.
Kama­leyan-Schmied: Das ist zu begrü­ßen, bei Gra­tis­imp­fun­gen, die wir in den Ordi­na­tio­nen lagernd haben, gibt es auch eine Grup­pen­dy­na­mik, das haben wir auch bei der COVID-19-Imp­fung gese­hen. Das hat auch mit dem Ver­trauen zum Haus­arzt zu tun.

Wie kön­nen Impflü­cken ver­mie­den wer­den? Reich: Wenn wir den Mut­ter-Kind-Pass ver­bind­lich für Kin­der und Jugend­li­che aus­bauen, in einer inhalt­li­chen Über­ar­bei­tung und auch in einer digi­ta­li­sier­ten Form, hät­ten wir hier ein star­kes Tool. Das ist ein wich­ti­ges Pro­jekt für uns.
Kama­leyan-Schmied: Eine App wäre viel ser­vice­ori­en­tier­ter, könnte an Imp­fun­gen erin­nern und mit einem Aus­bau wäre eine Gesun­den­un­ter­su­chung ab 16 Jah­ren auch mög­lich. Das könnte man mit einem Goo­die kom­bi­nie­ren, etwa, dass man bei regel­mä­ßi­gen Gesun­den­un­ter­su­chun­gen die Mög­lich­keit einer tele­me­di­zi­ni­schen Krank­mel­dung für drei Tage hat.
Reich: ELGA, eRe­zept, eImpf­pass, elek­tro­ni­sche Krank­schrei­bung, das alles sind The­men, die sich ergän­zen. Wir sind hier viel bes­ser, als immer getan wird. Seit dem eRe­zept wer­den zum Bei­spiel viel schnel­ler anti­vi­rale Covid-Medi­ka­mente ver­schrie­ben. Wir kön­nen mit Fug und Recht behaup­ten, dass wir im euro­päi­schen Ver­gleich vorne mit dabei sind. Wir müs­sen die Ein­zel­the­men aller­dings in das Gesamt­ge­füge bekommen.

Inwie­fern ist Long COVID ein Thema im nie­der­ge­las­se­nen Bereich? Kama­leyan-Schmied: Wir waren durch mei­nen Job Sha­ring Part­ner eine der ers­ten Ordi­na­tio­nen, die Long-COVID-Pati­en­ten behan­delt haben. Aller­dings: Die Betreu­ung die­ser Pati­en­ten ist sehr zeit­auf­wän­dig und in einer Ordi­na­tion, in der wir schon wenig Zeit für die Zuwen­dungs­me­di­zin haben, sehr schwie­rig. Wir haben eine Decke­lung bei der Hono­rie­rung und kön­nen die Behand­lung nur ein­mal ver­rech­nen – aber viele Long-COVID-Pati­en­ten kom­men regel­mä­ßig vor­bei. Long COVID ist außer­dem nur ein Auf­hän­ger, die post­vi­ra­len Sym­ptome sind ja bei diver­sen Virus­er­kran­kun­gen bekannt. Eine moderne Medi­zin muss die­sen Auf­wand auch wert­schät­zen, eine Decke­lung bei der Zuwen­dungs­me­di­zin ist absurd.
Reich: Der nie­der­ge­las­sene Bereich ist die erste Anlauf­stelle für Long COVID-Pati­en­ten. Die Öster­rei­chi­sche Gesell­schaft für All­ge­mein- und Fami­li­en­me­di­zin hat gemein­sam mit dem Gesund­heits­mi­nis­te­rium klare Leit­li­nien für die Pri­mär­ver­sor­gung in einem Web­tool ver­füg­bar gemacht, um Long-COVID-Pati­en­ten rasch zu iden­ti­fi­zie­ren. Die Bun­des-Ziel­steue­rungs­kom­mis­sion schaut auch nicht nur auf Long COVID, denn wir soll­ten nicht zu eng den­ken. Es ist ein schma­ler Grat zwi­schen Fokus­sie­rung und einem Den­ken, das breit genug ist. Letzt­end­lich gehört da auch die Awa­re­ness dazu, dass man sich mit einer Imp­fung nicht nur vor der vira­len Erkran­kung selbst, son­dern vor post­vi­ra­len Syn­dro­men, schützt. Post­vi­rale Syn­drome sind nicht neu, die gibt es schon lange und waren immer bekannt – aber nicht der brei­ten Bevölkerung.

Teil 2 des Inter­views lesen Sie in der nächs­ten Aus­gabe der ÖÄZ.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 19 /​10.10.2022