Interview Harald Schlögel: „Zeitgemäße Tarife nötig“

10.06.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Der neue Präsident der Ärztekammer Niederösterreich, Harald Schlögel, spricht im Interview mit Sophie Niedenzu über die Wiedereinführung eines Gemeindearztes, Einstiegshürden für dass manche notwendigen Entscheidungen, stark durch den Einfluss von Lobbys, politisch motiviert getroffen wurden. Die Pandemie hat vor Augen geführt, wie wichtig eine gute Abstimmung zwischen Bund und Ländern ist und dass es hier unbestrittene Autoritäten braucht, die ein Gegeneinander verhindern können.

Was haben Sie sich für Ihre Funktionsperiode vorgenommen, welche Themen wollen Sie prioritär behandeln? Im angestellten Bereich ist die ärztliche Ausbildung ein zentrales Anliegen. Wir brauchen merkbare Verbesserungen, denn die Ausbildung beeinflusst auch den Ärztemangel. Nur wenn Jungärzte ihre Ausbildung als positiv und sinnvoll erleben, werden sie langfristig im Bundesland tätig sein. Ausbildungsbereiche und –abläufe müssen evaluiert und effektive Lösungen gefunden und gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen umgesetzt werden. Wir brauchen eine Entlastung von administrativen, nichtärztlichen Tätigkeiten durch Stationssekretariate. Die fachliche Ausbildung muss auf dem qualitativ höchstmöglichen Level erfolgen. Ein dafür verantwortlicher Oberarzt muss mit den jungen Kollegen die Ausbildung strukturieren und sie unterstützen. Außerdem wollen wir das Vertrauen der Ärzteschaft in ihre Standesvertretung – siehe niedrige Wahlbeteiligung von nur rund 45 Prozent – zurückgewinnen, denn nur gemeinsam sind wir stark. Ich bin absolut überzeugt davon, dass die Ärzteschaft eine schlagkräftige und präsente Vertretung braucht. Ich werde daher in die Gemeinden und Spitäler fahren, um das Interesse an der Standespolitik wieder zu wecken.

Sie sind HNO-Kassenvertragsarzt, wie sehen Sie die aktuelle Situation für Kassenvertragsärzte allgemein und für die Jüngeren? Ich habe mich nach fast 16 Jahren im Krankenhaus aktiv für eine Kassenordination entschieden und bereue diesen Entschluss nicht. Gerade in meinem Fach ist schnelles Arbeiten möglich, wie es die Kassenmedizin erfordert. Leider wird dadurch das Patientengespräch oftmals deutlich verkürzt. Die theoretische Möglichkeit der Leistungserbringung im kassenfreien Raum ist auch auf Grund der Patientenstruktur nur sehr eingeschränkt möglich. Weiters ist die Limitierung von Leistungen fachlich nicht nachvollziehbar. Daneben sind die Einstiegshürden aufgrund finanzieller Belastungen für neue Vertragsärzte hoch. Für die jüngeren Kollegen ist die Kombination einer Fixanstellung im Krankenhaus zusammen mit einer Wahlarztordination eine gute Mischung aus sozialer Absicherung und medizinischer Tätigkeit frei von Beschränkungen.

Was sollte getan werden, um einem Kassenärztemangel entgegenzuwirken? Derzeit gibt es in Niederösterreich 29 vakante Stellen für Allgemeinmedizin und 23 vakante Facharztstellen, davon zehn für Kinder- und Jugendheilkunde und acht für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Die Tätigkeit in der Kassenordination muss so attraktiv sein, dass jene, die diese aktuell ausüben, mit Freude weitermachen und junge Ärzte gerne einen Kassenvertrag annehmen. Um dies zu erreichen, müssen wir über den Wegfall von Leistungslimitierungen oder ein allgemeines Dispensierrecht verhandeln. Die Abschaffung des Gemeindearztes hat sich massiv auf den Ärztemangel im Kassenbereich ausgewirkt. Vor allem in kleineren Gemeinden, wo das Führen einer Kassenordination häufig unrentabel ist, kann das fixe Gehalt einer Gemeindearztstelle wesentlich sein, um die medizinische Versorgung der Bevölkerung aufrecht zu erhalten.

Wie sollte das Gesundheitssystem verbessert werden, damit Patienten gezielter behandelt werden? Auch wenn mehrere Versuche gescheitert sind, muss es zu einer Lenkung der Patientenströme gemäß der Versorgungspyramide kommen. Keine Ambulanzgebühr, aber Routinetätigkeiten gehören in die Kassenordination. Der niederschwellige Zugang zur medizinischen Grundversorgung muss erhalten bleiben, aber es sollte primär der niedergelassene Bereich dafür herangezogen werden. Gerade unsere Spitäler sind für die Erbringung medizinischer Spitzenleistungen vorgesehen, in der Realität bindet der Ambulanzbereich jedoch immer mehr Personal, das für diese Spitzenmedizin fehlt. Die vielzitierte „Stärkung des niedergelassenen Bereichs“ muss von der Worthülse hin zu einem Maßnahmenbündel werden. Gemeinsam mit der Politik ist hier vieles zu tun.

Welche Meilensteine hat es in Niederösterreich bzw. Österreich gegeben, die zu einer Verbesserung der Arbeitssituation bei Ärzten geführt haben? Die Umsetzung der EU-Arbeitszeitrichtlinie 1998 war der wohl wichtigste Schritt im angestellten Bereich. Weg von einer hierarchisch geprägten Arbeitssituation hin zu einer zeitgemäßen Zeiterfassung und auch Bezahlung. Ich selbst hatte noch Dienste von Freitagfrüh bis Montagnachmittag und bekam dafür einen Ruhetag. Für viele junge Kollegen unvorstellbar, doch das war jahrzehntelang Realität. Eine gewaltige Verbesserung im niedergelassenen Bereich sind sicher die immer vielfältiger gestalteten Arbeitsformen: Gruppenpraxen, Anstellung Arzt bei Arzt, PVE. Hier haben sich Zusammenarbeitsformen etabliert, die eine Flexibilisierung der Leistungserbringung ermöglichen.

Stichwort junge Generation: Was halten Sie davon, dass österreichweit viele private Medizinunis neben den öffentlichen bestehen? Wie sehen Sie die Situation für Niederösterreich? Das Studienangebot und v.a. der Zugang zum Studium in Österreich ist meiner Meinung nach sehr gut. Dass sich neben den öffentlichen staatlichen Universitäten immer mehr private etabliert haben, bereichert das Angebot. Wichtig ist, dass es nicht von der finanziellen Situation abhängt, ob ein junger Mensch Medizin studieren kann. Auch bieten die Privatuniversitäten Möglichkeiten, die z.B. das Land Burgenland an der Donauuniversität Krems gerade nützt: Hier werden Studienplätze finanziell gefördert, um die Absolventen nach Abschluss des Studiums einige Jahre im Burgenland binden zu können.

Welche Anreize müssten geschaffen werden, damit junge Ärzte nach ihrer Ausbildung in Österreich bleiben? Wie oben bereits dargelegt, brauchen wir essentielle Verbesserungen in der Arbeitssituation in den Spitälern. Diese betreffen sowohl Ärzte in Ausbildung als auch Oberärzte. Wir werden auch die speziellen Bedürfnisse junger Ärztinnen und Ärzte mit betreuungspflichtigen Kindern berücksichtigen müssen. Ich denke hier an Betriebskindergärten, familienfreundliche Teilzeitarbeitszeitmodelle etc. Damit der niedergelassene Bereich wieder attraktiver wird, brauchen wir Kassenverträge mit zeitgemäßen Leistungen und Tarifen, ein Dispensierrecht, ärztliche Hausapotheken, flexible Zusammenarbeitsmodelle und auch die Wiedereinführung des Gemeindearztes.

Was zeichnet das österreichische Gesundheitssystem besonders aus, verglichen auch mit den Nachbarländern? Zugang zu medizinischen Leistungen für alle! Wir haben das Glück, dass es Limitierungen für Patienten, egal ob es medizinische Aspekte oder Altersfragen sind, de facto in Österreich nicht gibt. Wir haben ein vielfältiges intra- und extramurales Angebot, sei es öffentlich oder privat, Einzelordination oder Gruppenpraxis. Wenn auch mit immer größer werdenden Lücken bieten wir eine wohnortnahe Versorgung an. Auch ist die gesetzliche Regelung in der Transplantationsmedizin vorbildlich! Wenn man die Diskussionen dazu z.B. in Deutschland verfolgt, so merkt man rasch, wie privilegiert wir hier in Österreich sind. Die Möglichkeit, sowohl in der Anstellung als auch freiberuflich ärztlich tätig sein zu können, ist ein weiteres positives Merkmal.

Welche Lehren sollte man aus der Pandemie im Bereich der Gesundheitsversorgung ziehen? Ein Ereignis wie die Coronapandemie, das alle 100 Jahre einmal auftritt, kann man nicht planen. Dennoch war die Kommunikation mit der Bevölkerung von Beginn an schlecht. Die Pandemie wurde viel zu früh politisch besetzt. Von einzelnen Politikern wurden die Menschen darin bestärkt, dass sie Einzelinteressen vor das Gemeinwohl stellen. Dass die individuelle Entscheidung mehr Wert hat als die solidarische Gemeinschaft. Dass Misstrauen gegenüber der Politik, aber auch den Spezialisten aus der Medizin, nicht nur möglich, sondern sogar berechtigt ist! Dieser Vertrauensverlust ist für mich neben den medizinischen Katastrophen der letzten zwei Jahre der größte Schaden für uns alle. Im Nachhinein ist es immer leichter, Fehler oder Schwächen zu kritisieren. Eine kritische Nachbetrachtung und Aufarbeitung möglicher Fehler und die Entwicklung geeigneter Strategien zu deren Vermeidung ist sicher legitim.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2022