Interview Artur Wechselberger – „Evidenz statt Politdeals“

25.03.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Artur Wechselberger, langjähriger Präsident der Tiroler Ärztekammer und ­ehemaliger Präsident der Österreichischen Ärztekammer, spricht im Interview mit Sophie Niedenzu über Erfolge als Ärztevertreter, über Stärken und Schwächen im Gesundheitssystem und zieht Bilanz nach zwei Jahren Pandemie.

Wenn Sie auf Ihre Funktionsperioden als Tiroler Ärztekammer­präsident und als ÖÄK-Präsident zurückblicken, welche Errungenschaften für die Ärzteschaft sind für Sie besonders wichtig gewesen? Auf Tirol bezogen war es wohl mein erster Honorarabschluss mit der damaligen TGKK. Nachdem es drei Jahre lang keinen Abschluss gegeben hatte, war das ein wichtiges Signal an die Kollegenschaft, dass es wieder aufwärts geht. Gleichzeitig ist es damals gelungen, die Gesamthonorar­deckelung wegzuverhandeln und damit eine vernünftige Basis für zukünftige Honorarsteigerungen zu legen. Für die Spitalsärzte war das „Modell Tirol“, eine Betriebsvereinbarung mit der TILAK, ein Meilenstein, der eine jahrzehntelange positive Entwicklung einleitete. Das Modell wurde von den übrigen Tiroler Krankenhäusern übernommen und diente auch anderen Bundesländern als Beispiel.

Auf ÖÄK-Ebene denke ich gerne an die Verhandlungen mit dem Bundesministerium für Finanzen zurück, die 1996 einen Ausgleich für den Entfall des Vorsteuerabzuges für ärztliche Leistungen nach dem EU-Beitritt zum Ziel hatten. Damals konnte ich als junger Funktionär mit dem steirischen Kammeramtsdirektor Herbert Emberger einen Erfolg verbuchen, der sich heute, also nach 25 Jahren, noch positiv auswirkt. Zur Festschreibung des Vorsteuerausgleichssatzes je nach Fachgebiet im Gesundheits- und Sozialbereich-Beihilfengesetz 1996 verzichtete damals der Bund zudem noch auf die Rückzahlung schon lukrierter Vorsteuer für getätigte Investitionen. In Summe, kumuliert über die Jahre, wohl mein größter finanzieller Erfolg für die Ärzteschaft.

In meine ÖÄK-Präsidentschaft fiel mit der Novelle der Ärzte­ausbildung 2015, ein erfolgreich abgeschlossenes Monster­projekt. Auch das Engagement der ÖÄK für die Qualitätssicherung und die Patientensicherheit gehört zu den Entwicklungen, an die ich gerne denke. So konnte ich 2009 im ÖÄK-Vorstand den Antrag zum Aufbau von CIRSmedial.at stellen und seither das nationale Fehlermeldesystem und seine erfolgreiche Entwicklung begleiten.

Wo sehen Sie Stärken und Schwächen im österreichischen Gesundheitssys­tem? Die Stärken liegen im hohen fachlichen Standard, in der guten Flächendeckung, in der zeitnahen Verfügbarkeit und in der sozialen Absicherung, die jedem in diesem Land freien Zugang zum Versorgungssystem gewährt. Die größte Schwäche ist die in der Verfassung verankerte Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, die eine konstitutionelle Pattstellung der Verantwortung zur Folge hat. Sie verfestigt die sektorale Trennung zwischen niedergelassenem Versorgungsbereich und den Krankenhäusern durch ein kaum durchlässiges Finanzierungssystem und unzeitgemäßen, starren Kompetenzzuteilungen. Sie blockieren die in einem modernen Gesundheitssystem notwendigen Verschränkungen in der Versorgung aber auch im Einsatz von Personal- und Materialressourcen. Das Finanzierungssystem ist es auch, das zulässt, dass die sozialen Krankenversicherungen die weitaus großzügigeren Vorgaben des ASVG unterlaufen und sich vor der ambulanten Versorgungsverantwortung und deren Finanzierung drücken können.

Was ist Ihr Resümee aus dem Pandemiemanagement? Wir mussten die Dynamik der weltweiten Ausbreitung eines gefährlichen Virus erleben. Eine Erkrankungswelle, mit der wir nicht gerechnet hatten und auf die wir schlecht vorbereitet waren. Nicht nur wir in ­Österreich, sondern alle Länder der Erde. Wir haben aber auch erlebt, wie schnell und effektiv unser Gesundheitssystem darauf reagieren kann. Wie stabil unser Wirtschaftssystem auch unvorhergesehene Belastungen tragen kann und wie diszipliniert unsere Bevölkerung notwendige Maßnahmen mitzutragen bereit ist. Es hat sich auch gezeigt wie flexibel und engagiert die Ärzteschaft und die Wissenschaft auf die neuen Herausforderungen reagierte. Es wurde allerdings auch offenkundig, wie rasch Kollateralschäden entstehen, wenn die vorhandenen Ressourcen anderweitig gebraucht und dementsprechend umgeschichtet werden. Wir sahen, dass selbst ein hoher Versorgungsstandard an sein Limit gerät und dass es ein verantwortungsloses Spiel mit der Gesundheit der Bevölkerung ist, wenn Sparen zur obersten Devise und zur „heiligen Kuh“ der Gesundheitsplanung und –organisation wird.

Sie haben sich medial gegen die Impfpflicht positioniert. Welche Maßnahmen sehen Sie kritisch? In verschiedenen Bereichen hat sich während der Pandemie immer wieder die Kluft zwischen politischen Entscheidungen und medizinischer Evidenz, zwischen staatlichem Pandemieregime und der Behandlung von Individuen, dem Umgang mit Sorgen, Ängsten und Nöten der Bevölkerung gezeigt. So auch in der Frage der Impfpflicht. Die Entscheidung dafür war im November 2021 am Achensee in Tirol bei einem Treffen der Landeshauptleute mit Bundeskanzler und Gesundheitsminister als politischer Deal für den Dezemberlockdown getroffen worden. Ohne Berücksichtigung der Entwicklung der Durchimpfungsrate, des Auftretens der „Omikronwelle“ mit ihrer hohen Infektiosität bei eher milden Verläufen und der vielen negativen Stellungnahmen hatten National- und Bundesrat den unter gänzlich anderen ­Prämissen vereinbarten Politkompromiss in ein Gesetz gegossen und ab 5. Februar 2022 in Kraft gesetzt. Selbst die warnenden Stellungnahmen von Bundesländern, Behörden und Justiz waren nicht berücksichtigt worden.

Die Entscheidungsgrundlagen des Gesetzgebers basierten auf dem medizinischen und epidemiologischen Wissen der Weihnachtszeit. Ebenso blieb die zunehmende Frontstellung zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern, blieben die Gräben in der Bevölkerung und deren Auswirkungen, die sich in Ängsten aber auch Aggressionen – nicht zuletzt gegen Angehörige von Gesundheitsberufen – äußerten, unberücksichtigt. Deshalb mein Appell innezuhalten, „Luft aus der gespannten Situation zu lassen“, die Impfpflicht auszusetzen, um die Situation unter Berücksichtigung der Auswirkungen der „Omikronwelle“ und der damit geänderten Gefahrensituation neu zu evaluieren. Eine Meinung, mit der ich nicht allein war.

Was sollten Politiker aus der Pandemie lernen und für die Zukunft verbessern? Eine wesentliche Erkenntnis sollte sein, dass vorausschauende Investitionen in unser Gesundheitssys­tem keine Verschwendung von Mitteln sind, sondern dass ökonomischer Druck und die Reduktion auf eine Minimalausstattung große Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung in sich bergen. Zudem gilt, dass auch seltene Ereignisse wie Epidemien und Pandemien in das Assessment vor Inves­titionen mit einbezogen werden müssen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass wissenschaftliche Evidenz auch bei dünner Datenlage in der Entscheidungsfindung allemal besser ist, als politische Deals, die aus einem Bauchgefühl, politischem Kalkül, Opportunismus oder Populismus getroffen werden. Die letzten Monate haben uns auch vor Augen geführt, dass Expertisen verschiedener nichtmedizinischer Fachexperten nur streng nach ihrem oft sehr engen Spezialgebiet beurteilt und nicht verallgemeinert auf weitergehende Fragestellungen ausgedehnt werden dürfen und dass in Österreich zudem ein großer Aufholbedarf im Gebiet von Public Health besteht. Ganz wesentlich aber ist die Erfahrung, dass der limitierende Faktor in der Bekämpfung einer Pandemie das qualifizierte Personal darstellt und deshalb diese Ressource in jeder Planung besonders berücksichtigt werden muss.

Was würden Sie dem neuen Gesundheitsminister gerne noch mitgeben? Vertrauen in die Ärzteschaft und in ihre Erfahrungen, die sie aus dem tagtäglichen Umgang mit ihren Patienten schöpfen. Zusammen mit ihrem hohen wissenschaftlichen Standard sind sie gute Ratgeber in Fragen der Weiterentwicklung des Gesundheitssystems. Generell sollten die politischen Entscheidungen mehr auf objektiver und seriös erhobener Evidenz, anstatt auf politischem oder ökonomischem Druck verschiedenster Interessensgruppen basieren. Das sollte auch in den Verhandlungen mit Ländern und Sozialversicherungen gelten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 06 / 25.03.2022