Gastkommentar Irene Nemeth: Plädoyer für die Wissenschaft

11.04.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

„Es gibt nur Medizin und Nicht-Medizin“, meint die Gerichtspsychiaterin und Buchautorin Heidi Kastner, gefragt nach der Schulmedizin und attestiert ­Österreich damit eine gewisse Wissenschaftsfeindlichkeit. Tatsächlich scheinen Daten aus dem Europa-Barometer Distanz zur Wissenschaft zu bestätigen – ­Österreich rangiert auf den hinteren Rängen.

Irene Nemeth*

Doch wo endet die Medizin und wo beginnt die Nicht-Medizin? Wie stehen Schulmedizin und Komplementärmedizin zueinander? Schulmedizin – damit verwendet man einen Begriff, der in der NS-Zeit geprägt wurde, um die universitäre „jüdische“ Medizin zu diskreditieren. Immerhin werden komplementärmedizinische Verfahren durch die Ärztekammer legitimiert: Sie vergibt Diplome unter anderem für chinesische Diagnostik und Arzneitherapie, Homöopathie, anthroposophische Medizin oder funktionelle Myodiagnostik. Methoden, deren Erklärungsmodelle auf tönernen Füßen stehen; Konzepte, die teils aus vormodernen Zeiten stammen. Wo ist der Stellenwert dieser alternativen Methoden?

Mitunter scheinen komplementärmedizinische Behandlungsmethoden mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu kollidieren. In Süddeutschland ist beispielsweise die Anthroposophie sehr präsent. Über Hintergründe, Vernetzung, Einstellung zur Impfung und Implikation auf Impfquote und Infektionsgeschehen hat das Satireensemble „Die Anstalt“ kürzlich eine gut recherchierte und sehenswerte Sendung gestaltet.

Kontroversiell diskutiert wurde auch ein Postgraduate-Lehrgang an einer Wiener FH. Ist ein Master of Science gerechtfertigt und passend für einen Lehrinhalt, der sich in erster Linie auf nicht-evidenzbasierte Methoden bezieht? Bei „Ganzheitliche Therapie und Salutogenese“ wird unter anderem Homöopathie, Anthroposophie und Ayurveda gelehrt. Eine öffentliche Diskussion flammte darüber auf. Zuletzt wurde der Lehrplan gestoppt, das Curriculum soll überarbeitet werden.

Stellenwert der alternativen Methoden

„Aber es wirkt, es funktioniert. Das sehe ich jeden Tag in meiner Praxis“, mag die eine Kollegin, der andere Kollege einwenden. Was ist es, das wirkt? Kann der Nachweis der Wirksamkeit im Sinne einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT), dem Goldstandard, gelingen? Die Datenlage ist uneinheitlich, die Qualität der Studien scheint eher bescheiden. Vormoderne Konzepte wie Säfte­lehre, Energie(bahnen), feinstoffliche und geistige Phänomene und andere ungewöhnlich anmutende Hypothesen sind schon von der Grundannahme nur begrenzt mit einem rein naturwissenschaftlichen Zugang kompatibel. So nimmt es nicht wunder, wenn der Wirksamkeitsnachweis anhand eines zeitgemäßen und qualitätsvollen Studiendesigns ausbleibt: Akupunktur wirkt besser als keine Behandlung, aber ähnlich gut wie Scheinakupunktur. In der Homöopathie argumentiert man mit der individuellen Behandlung, die nicht dem Design eines RCT unterworfen werden könne. Evidenzbasierte Therapien sind jedoch seit vielen Jahrzehnten die Basis und haben der Medizin den Fortschritt gebracht, der heutzutage unsere selbstverständliche Grundlage bildet.

Mächtige Wirkung der Behandlung

Könnte es sein, dass bei manch einem Verfahren oder einer Therapie die spezifische Wirkung überschätzt und unspezifische Effekte unterschätzt werden? Alleine im Setting gibt es große Bandbreiten. Im privatmedizinischen Sektor können sich Behandelnde mehr Zeit nehmen und individueller auf Beschwerden eingehen als in der sprichwörtlichen 3-Minuten-Medizin. Sie hören zu, reduzieren Ängste, beenden quälende Ungewissheiten. Das therapeutische Gespräch, die Begegnung und zwischenmenschliche Interaktion kann ein mächtiger Wirkfaktor sein am Weg zur Genesung. Genauso gibt es ungüns­tige Umstände – wie Angst und Sorge, ein düsteres Zukunfts­szenario etc. – dazu geeignet, Beschwerden zu verschlechtern oder zu chronifizieren.

In der landläufigen Wahrnehmung hat der Begriff „Placebo“ eine anrüchige oder unseriöse Konnotation. Das wäre viel zu kurz gegriffen für dieses komplexe Phänomen. In den letzten Jahren ist die Forschung zu Placebo explodiert, unterstützt von verfeinerten bildgebenden Methoden, wie funktionelles MR, wo gezeigt werden konnte, dass diese „Placebo“- oder „Schein“-Reaktionen reale Korrelate auf somatischer Ebene haben. Insbesondere beim Schmerz ist hier eine große Wirksamkeit möglich, die die Stärke von Opioiden erreichen kann.

Zwerge, die auf Riesen sitzen

Generell kann man davon ausgehen, dass mit einer spezifischen Behandlung immer auch ein unspezifischer Effekt einhergeht. „Zwerge, die auf Riesen sitzen“ – dieses Bild wurde bemüht für Behandlungen, die zwar eine spezifische Wirkung haben, die wiederum nur relevant wird durch eine zeitgleiche unspezifische Reaktion. Oder anders gesagt: wenn Verum- und Placebo-Kurve nur wenig, aber immerhin signifikant voneinander abweichen. Es wirkt, aber nicht alles, was wir beobachten können, ist auf die Interaktion des Medikaments mit dem Organismus zurückzuführen.

Und nun die Pandemie mit all ihren Konsequenzen. Wir kennen sie zur Genüge – Lockdowns, Kontaktbeschränkungen, Impfung und Impfpflicht; tägliche Infektionszahlen und ausgepowertes Gesundheitspersonal. In Zeiten, wo das Internet quasi demokratisch und unbegrenzt Informationsfluss ermöglicht, scheint diese prolongierte Ausnahmesituation eine Fülle von Phänomenen und Reaktionen hervorzurufen.

Im Diskurs lässt die Pandemie Kontraste stärker hervortreten, macht scharfe Kanten, wo der Spielraum breiter war und Kontraste, wo Graubereiche zahlreiche Schattierungen hatten; sie schafft Gräben und harte Diskussionen.

Nur Gerüchte?

Wir Ärztinnen und Ärzte spielen in der Pandemie eine zentrale Rolle. Wir sind Vorbilder. Wir klären auf. Wir behandeln. Erstaunliche Gerüchte kursieren: Warnungen vor der Impfung von ärztlicher Seite wegen gleichzeitiger Implantation von 5G-Chips; Geimpfte, denen drei Monate lang das Betreten einer ärztlichen Ordination verwehrt wird; in einer anderen ärztlichen Praxis kann man eine „Tschüss-Corona“-Essenz zum Schutz gegen das Virus wohlfeil erwerben.

Verantwortungsvolles ärztliches Wirken ohne kritische Selbstreflexion scheint schwerlich vorstellbar. Ob es eine konkrete Methode ist, die hilft, oder anderes – diesen Überlegungen sollten wir uns nicht verschließen. Möglicherweise wird die spezifische Wirksamkeit überschätzt und unspezifische Faktoren unterschätzt – wie Placebo-Reaktion oder ein Spontanverlauf.

Auf wissenschaftlicher Basis

Unser tägliches Tun und der Umgang mit dem Virus bedürfen einer soliden Basis. Wir brauchen die Empfehlungen und Forschungsergebnisse jener Fachleute, die sich mit dem Thema auf naturwissenschaftlicher Basis im internationalen Austausch und Konsens auseinandersetzen. Um unserer Verantwortung in der Pandemie gerecht zu werden, ist es notwendig, auf diese Expertise zurückzugreifen. Unsere Arbeitsschwerpunkte sind unterschiedlich. Aber ein Virus ist ein Virus.

Schlusswort

Mit der Pandemie sind Kontraste härter geworden und Spalten zutage getreten. Es obliegt der Ärztekammer, den Rahmen der ärztlichen Tätigkeiten festzulegen, sowie deren Quali­tät zu überprüfen; conditio sine qua non auch hinsichtlich der Legitimierung von komplementärmedizinischen Diplomen. Wissenschaftliche Evidenz, Wissen über das weite Feld von unspezifischen Reaktionen, Kunst und Technik der Gesprächsführung – all das gehört zu unserem Handwerk, dem im Studium genügend Raum gegeben werden sollte und in dem wir im Laufe der Zeit eine Meister­schaft entwickeln können. Damit erübrigt sich auch, darüber nachzudenken, ob Bill Gates uns über Mikrochips steuert!

Literatur bei der Verfasserin

*) Dr. Irene Nemeth ist Fachärztin für Physikalische Medizin und allgemeine Rehabilitation im Landesklinikum Wiener Neustadt

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 07 / 10.04.2022