Gast­kom­men­tar Felix Badelt – Plä­doyer für umfas­sende ärzt­li­che Zusammenarbeit

25.05.2022 | Aktuelles aus der ÖÄK

Felix Badelt, Arzt für All­ge­mein­me­di­zin, repli­ziert auf den Gast­bei­trag von Irene Nemeth „Plä­doyer für die Wis­sen­schaft“ in ÖÄZ-Aus­gabe 7/​22.

Sehr geehrte Frau Kollegin!
Über die Rele­vanz Ihres Wis­sen­schafts­be­griffs – bezo­gen auf Medi­zin – gehen unsere Mei­nun­gen aus­ein­an­der. Wäh­rend Sie Wis­sen­schaft offen­bar auf einen aus­schließ­lich natur­wis­sen­schaft­li­chen, mecha­nis­ti­schen For­schungs- und Hand­lungs­zu­gang redu­zie­ren, und geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Aspekte offen­bar aus­gren­zen, erfor­dert ärzt­li­ches Han­deln aus mei­ner Sicht einen viel wei­te­ren Hori­zont und ist auch einem sozio-psy­cho­so­ma­ti­schen Men­schen­ver­ständ­nis ver­pflich­tet. In man­chen tra­di­tio­nel­len euro­päi­schen (etwa in der Homöo­pa­thie) und asia­ti­schen Behand­lungs­me­tho­den (z.B. TCM) sind diese Hori­zonte mitberücksichtigt.

Auch müs­sen the­ra­peu­tisch heil­same Wirk­kräfte nicht unbe­dingt an ein quan­ti­fi­zier­ba­res Sub­strat, eine quan­ti­fi­zier­bare Maß­nahme gebun­den sein, son­dern kön­nen auch über Spra­che, bewährte Vor­stel­lun­gen, Bil­der, Bild­spra­che ein­wir­ken, sug­ges­tiv ver­mit­telt oder auto­sug­ges­tiv akti­viert wer­den – etwa bei der Nut­zung tra­dier­ter homöo­pa­thi­scher Arz­nei­mit­tel­bil­der (sie ent­spre­chen dort indi­vi­du­ell unter­schied­li­chen, kom­ple­xen Krank­heits­bil­dern) zu dia­gnos­ti­schen und the­ra­peu­ti­schen Zwe­cken. In der TCM die­nen Tai Chi und Pha­sen­wand­lungs­lehre als Gesund­heits­bil­der, wäh­rend Meri­di­an­bil­der eine Ein­ord­nung häu­fig erleb­ter Qi-Fluss-Phä­no­mene und der sie beglei­ten­den Yin-Yang Dyna­mik erlau­ben. In der psy­cho­so­ma­ti­schen Ent­span­nungs­the­ra­pie wer­den erfolg­reich bild­hafte sug­ges­tive und auto­sug­ges­tive Metho­den ein­ge­setzt (z.B. Auto­ge­nes Trai­ning, Bauch­hyp­nose; Qi Gong). Auch unsere kon­ven­tio­nelle Medi­zin ver­wen­det bild­hafte Ver­glei­che zur Erklä­rung von Wirk­sam­keit (tech­ni­sche Ver­glei­che, che­misch ‑phy­si­ka­li­sche Mecha­nis­men, Schlüs­sel – Schloss Prin­zip) wie­wohl auch sie nur ver­ein­fachte Dar­stel­lun­gen von Vor­gän­gen in einem an sich kom­ple­xen Milieu sind. Bil­der beschrei­ben Zusam­men hänge erleb­ter Phä­no­mene – zunächst unab­hän­gig von logi­schen Über­le­gun­gen aber umso über­zeu­gen­der, je öfter sie bei Ärz­ten und Pati­en­ten wahr­ge­nom­men wer­den (Erfah­rungs­heil­kunde).

Im Ver­gleich zu den erwähn­ten sub­jek­tiv heil­sa­men Bil­dern und Erklä­run­gen wirkt der „Gold­stan­dard“ west­lich natur­wis­sen­schaft­li­chen Den­kens, wie es sich in einer bewusst objek­ti­vie­ren­den, ran­do­mi­sier­ten Dop­pel­blind­stu­die offen­bart, wie ein aka­de­mi­sches Kunst­pro­dukt mit höchst ein­ge­schränk­ter Aus­sa­ge­kraft für die täg­li­che Pra­xis. Kein Arzt behan­delt absicht­lich blind und zufäl­lig aus­ge­wählte Pati­en­ten, die selbst nicht wis­sen dür­fen, was sie bekom­men. Pati­en­ten sind und füh­len sich auch nicht wie Objekte, son­dern als Men­schen, deren oft stark beein­träch­tigte Befind­lich­keit sich eben nur begrenzt objek­ti­vie­ren lässt. Bei aller Wert­schät­zung natur­wis­sen­schaft­lich ein­ge­for­der­ter Objek­ti­vie­rung för­dert der in man­chen Krei­sen um sich grei­fende medi­zi­ni­sche Objek­ti­vie­rungs­wahn lei­der nicht nur Fort­schritte, son­dern begüns­tigt auch eine zuneh­mende Ent­mensch­li­chung in unse­rer Medi­zin, was euro­pa­weit bei vie­len Men­schen wie­derum Distanz gegen­über solch einem ein­sei­ti­gen Wis­sen­schafts­ver­ständ­nis hervorruft.

Mit Recht beto­nen Sie die Wich­tig­keit einer ver­trau­ens­vol­len Arzt-Pati­en­ten-Bezie­hung – als wesent­li­cher Anteil des (im Volks­mund und von Phar­ma­ko­lo­gen so oft abge­wer­te­ten) Pla­cebo-Phä­no­mens, des­sen inzwi­schen natur­wis­sen­schaft­lich beleg­bare posi­tive Wirk­sam­keit (zumin­dest bei der Schmerz­the­ra­pie) bewie­sen ist. Eine mit Pla­cebo zusätz­lich ver­bun­dene Ent­span­nung wirkt sich dar­über hin­aus wohl ebenso güns­tig auf das Immun­sys­tem aus. Pla­cebo kann tat­säch­lich umfas­send heil­sam wir­ken. „Zwerge (spe­zi­fi­scher Wirk­stoff) die auf Rie­sen (Umfeld, psy­cho­so­ma­ti­sches Milieu des Wirk­stof­fes) sit­zen“ – die­ser bild­hafte Ver­gleich gibt zu den­ken. Pla­cebo nicht zu nüt­zen, wäre dann nicht nur unöko­no­misch, son­dern käme aus die­ser Sicht einem Kunst­feh­ler nahe.

Ihre ver­kür­zende Gleich­set­zung von Aku­punk­tur mit Schein – oder Pla­cebo-Aku­punk­tur kann ich nicht tei­len. Sie bezie­hen sich dabei wohl auf eine viele Jahre zurück­lie­gende große deut­sche Stu­die, erwäh­nen aber nicht, dass dort die Behand­lungs­er­folge dreier Grup­pen (NSAR, Aku­punk­tur und Pla­cebo-Aku­punk­tur) ver­gli­chen wur­den. Dabei zeigte sich, dass sowohl Aku­punk­tur als auch Schein­aku­punk­tur einer NSAR-Behand­lung gegen chro­nisch dege­ne­ra­tive Gelenks­be­schwer­den deut­lich über­le­gen waren. Wie unter­schied­lich kön­nen doch Stu­di­en­ergeb­nisse inter­pre­tiert werden!

Trotz aller ihrer auch wert­schät­zen­den Pla­cebo-Inter­pre­ta­tio­nen in die­sem Arti­kel betrachte ich den heute gän­gi­gen Usus, natur­wis­sen­schaft­lich zunächst noch nicht erklär­bare Bes­se­run­gen oder Hei­lun­gen ver­ein­facht als Pla­cebo oder als Spon­tan­ver­läufe „durch die Blume“ abzu­wer­ten, ins­ge­samt eher als Aus­rede. Oft ist es ein Aus­druck von Hilf­lo­sig­keit jener, auf einem Auge noch blin­den, pri­mär phar­ma­ko­lo­gisch aus­ge­rich­te­ten Ver­tre­tern der Medi­zin, die mit Pla­cebo fälsch­lich min­der­wer­tige Schein­me­di­ka­tion assoziieren.

Ihrem Lob­ge­sang auf die wis­sen­schaft­li­che Basis, mit­tels derer diese Pan­de­mie bis­lang bewäl­tigt wurde, kann ich nur bedingt zustim­men. Abge­se­hen von den hygie­ni­schen, labor­tech­nisch-dia­gnos­ti­schen Fort­schrit­ten, den beschleu­nig­ten Impf­stoff­ent­wick­lun­gen und den heute weni­ger inva­si­ven For­men der Sau­er­stoff­ver­ab­rei­chung, erachte ich die bis­he­ri­gen medi­ka­men­tö­sen the­ra­peu­ti­schen Fort­schritte unse­rer kon­ven­tio­nel­len Medi­zin zur COVID‑, Post- und Long-COVID-Behand­lung bzw. ihrer Sym­ptome – gemes­sen an den welt­wei­ten wis­sen­schaft­li­chen Bemü­hun­gen – als ver­hält­nis­mä­ßig beschei­den, bzw. sind sie teil­weise (Fati­gue Syn­drom) sogar als insuf­fi­zi­ent einzustufen.

Gerade in Zei­ten von The­ra­pie­not­stand, Bet­ten­man­gel und Per­so­nal­über­las­tung zu allem Über­fluss noch den Wert bestehen­der kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­scher Diplome der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer in Frage zu stel­len – statt zur Zusam­men­ar­beit mit deren Inha­bern und ihren erwei­ter­ten Sicht­wei­sen auf­zu­ru­fen, um so unsere the­ra­peu­ti­schen Mög­lich­kei­ten (z.B. mit­tels Homöo­pa­thie und TCM) sowohl im vor­sta­tio­nä­ren als auch im sta­tio­nä­ren Bereich zu ver­bes­sern, geht in die völ­lig ver­kehrte Rich­tung, weil dadurch nur latente ärzt­li­che Spal­tungs- und Aus­gren­zungs­ten­den­zen ver­schärft werden.

Hin­ter die­ser (beson­ders in den Kri­sen­zei­ten der letz­ten Monate) erfolg­ten ver­stärk­ten Aus­gren­zung kom­ple­men­tä­rer Medi­zin – beson­ders im sta­tio­nä­ren Bereich, kann Unwis­sen­heit oder Angst vor Gesichts­ver­lust ste­hen. In vie­len Fäl­len signa­li­siert sie wahr­schein­lich auch Abhän­gig­kei­ten von anders­den­ken­den, kon­kur­rie­ren­den tech­ni­schen oder phar­ma­zeu­ti­schen Bröt­chen­ge­bern, oder ist ein­fach ein Zei­chen von höchst unwis­sen­schaft­li­cher Into­le­ranz oder Ignoranz.

In Letz­te­rer sehe ich die Haupt­ur­sa­che unse­rer unse­li­gen gesell­schaft­li­chen Spal­tung, wel­che offen­bar auch inner­halb der Ärz­te­schaft immer mehr um sich greift. Durch Ihre unbe­dachte Ver­men­gung ein­zel­ner nega­ti­ver Extrem­bei­spiele („Chips in Imp­fun­gen“ als Nocebo) mit kri­ti­schen Stim­men anders­den­ken­der, teil­weise kom­ple­men­tär­me­di­zi­nisch täti­ger Ärz­tin­nen und Ärzte im glei­chen Abschnitt Ihres Arti­kels ver­tie­fen Sie bewusst oder unbe­wusst diese Kluft – schade. Gerade von einer Fach­ärz­tin für Phy­si­ka­li­sche Medi­zin und Reha­bi­li­ta­tion mit Ihren Zusatz­qua­li­fi­ka­tio­nen hätte ich mir Kon­struk­ti­ve­res erwartet.

Aller Gegen­winde zum Trotz werde ich mich den­noch hoff­nungs­voll für eine zuneh­mende Inte­gra­tion der kom­ple­men­tä­ren Medi­zin in die kon­ven­tio­nelle Medi­zin auch im sta­tio­nä­ren Bereich ein­set­zen und verbleibe

mit freund­li­chen Grüßen
Felix Badelt ist Arzt für All­ge­mein­me­di­zin und Man­da­tar der Liste Inte­gra­tive Medi­zin in der Ärz­te­kam­mer für Wien

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 11 /25.05.2022