Arzneimittel: zielgerichtet und individualisiert

27.09.2021 | Schwerpunkt Forschung

Bislang konnten die charakteristischen Mutationen der 50 häufigsten Karzinome dokumentiert werden. Diese Genom-Daten sind der Schlüssel der Präzisionsonkologie – ermöglichen sie doch durch den Vergleich mit individuellen Analysen der Tumor-DNA den individualisierten Einsatz von Arzneimitteln.
Manuela-C. Warscher

Tamoxifen gilt als die Substanz, mit der die erste zielgerichtete Krebstherapie durchgeführt werden konnte. Der selektive Östrogenrezeptormodulator wurde in den 1970er Jahren zugelassen. Ebenfalls in den 1970er Jahren wurde die Tumor-hemmende Wirkung von Metall-haltigen Wirkstoffen entdeckt; allerdings sind bis heute nur wenige zugelassen, darunter Cisplatin und Arsentrioxid. Aktuelle Forschungsansätze konzentrieren sich unter anderem auf alternative Wege im Wirkstoffdesign dieser Kandidaten. So untersuchen Wiener Forscher um Univ. Prof. Samuel Meier-Menches vom Institut für Chemie der Universität Wien derzeit, wie Arsentrioxid in einer Kombinationstherapie bei akuter Promyelozytenleukämie Tumorzellen umpolen könnte, so dass die entarteten Zellen im Zuge der Behandlung ihre ursprüngliche Funktion wiedererlangen und sich normal in Neutrophile entwickeln können. Einen Durchbruch verzeichneten die Forscher auch beim rutheniumhaltigen Wirkstoffkandidaten BOLD-100: Sie konnten aufzeigen, dass er über Albumin zielgerichtet in die Tumorzelle gelangt und dort selektiv aktiviert, was den Tod der Krebszelle zur Folge hat. Vor allem bei neuroendokrinen Tumoren konnte damit Erfolge erzielt werden. „Heute gibt es eine steigende Zahl an Erkrankungen, bei denen es uns gelingt, am Punkt des Tumorwachstums molekular einzugreifen“, sagt Univ. Prof. Christoph Zielinski, Präsident der Central European Cooperative Oncology Group.


Tumor-Therapeutika in Entwicklung

Folgende Tumor-Therapeutika sind aktuell in der Pipeline der medizinischen Forschung:

a) Checkpoint-Inhibitoren

Checkpoint-Inhibitoren aktivieren die Immunabwehr gegen Tumore durch eine Blockade von spezifischen Zelloberflächenproteinen (Checkpoints). Bislang sind Inhibitoren gegen die Checkpoints CTLA-4 und PD1/PD-L1 als monoklonale Antikörper zugelassen. Aktuell werden zusätzlich klinische Studien zum Nierenzellkarzinom, rezivierenden Ovarialkarzinom und Melanom durchgeführt. Insgesamt waren 2020 exakt 164 klinische Studien im Laufen; die Mehrzahl davon in Europa (14) und den USA (30). Bei den Kombinationstherapien – also platinbasierte Chemotherapie in Kombination mit einer Immuntherapie mit einem Anti-PD1-Checkpointblocker – konnten in den letzten Jahren Fortschritte bei nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom gemacht werden.

b) Gen-Therapie

Sie kommt vor allem bei Hämophilie A und anderen seltenen Krankheiten zum Einsatz. 2020 gab es insgesamt 179 aktive klinische Gen-Studien. Für Hämophilie A sind derzeit drei Produkte in der Spätphase der Entwicklung; außerdem werden Beta-Thalassämie, Sichelzellanämie, Muskeldystrophie & andere Dystrophien sowie ophthalmologische Erkrankungen klinisch erforscht. Die meisten Studien laufen in Europa (28) und den USA (68).

c) Zell-Therapien

Die CAR-T (Chimeric Antigen Receptor-T)-Zelltherapie ist kein klassisches Arzneimittel, denn der Bestandteil der Therapie ist das Blut des Patienten, das gentechnisch aufbereitet und infundiert wird. Auf diese Weise kann das Blut Tumorzellen bekämpfen, die die Immunabwehr bislang nicht erkannt hat.

Weltweit werden knapp 1.100 klinische Studien zu Advanced Therapies durchgeführt, davon betreffen 204 Zell-Therapien (Stand: Ende 2020). Mehr als die Hälfte der Advanced Therapies betrifft die Onkologie (62 Prozent). Im Jahr 2020 wurden 238 klinische Studien zu CAR-T-Zellen durchgeführt; davon vier in Phase III. Die Forschung zum Einsatz von CAR-T-Zellen für solide Tumore (Pankreas) wurde intensiviert. Vier neue Studien befassen sich mit der Anwendung von CRISPR zur Editierung des genetischen Materials von T-Zellen. CRISPR ist eine neue, molekularbiologische Methode, um DNA gezielt zu schneiden und zu verändern, sodass einzelne DNA-Bausteine eingefügt, entfernt oder modifiziert werden können.


Die Arbeit von Meier-Menches beruht auf Multiomik, einer kombinierten Datenanalyse des Protein- und Genexpressionshaushaltes. Genom-Daten sind der Schlüssel der Präzisionsonkologie. Sie ermöglichen durch den Vergleich mit individuellen Analysen der Tumor-DNA den individualisierten Einsatz von Arzneimitteln. Weltweit dokumentieren seit mehr als zwölf Jahren Forscher von internationalen Forschungsverbünden des Internationalen Krebsgenom-Konsortiums und vom „The Cancer Genome Atlas“ die charakteristischen Mutationen der 50 häufigsten Krebsarten. Damit sollen DNA-Veränderungen der einzelnen Krebsarten identifiziert werden. Bislang konnten mehr als 22.000 Genome entschlüsselt werden.

Biomedizinische Forschung findet in einem komplexen Umfeld statt: Ein Erwachsener besteht aus rund zehn Billionen Zellen, eine Zelle aus ähnlich vielen Atomen. Außerdem gibt es ungefähr 500 histologisch eindeutige Zelltypen, die verschiedene Funktionen ausüben und sich gegenseitig beeinflussen. Ziel biomedizinischer Forschung sei es daher, „spezifische Patienten zu identifizieren, die von der Therapie mit möglichst wenig Nebenwirkungen profitieren“, erklärt Assoz. Prof. Armin Gerger von der Klinischen Abteilung für Onkologie der Medizinischen Universität Graz. Eine bessere Arzneimittelverträglichkeit könne anhand von pharmakokinetischen Analysen über Blutmarker erreicht werden, sagt Gerger. Die Entwicklung von zielgerichteten Arzneimitteln erfordere allerdings das Wissen darüber, „welche molekularen Änderungen welche Tumore zur Fortpflanzung treiben“, ergänzt Zielinski. Allein in den letzten sechs Jahren wurden mehr als 60 Arzneimittel zugelassen, die „gezielt auf molekulare Veränderung wirken.“ Die Wirkung der unterschiedlichen Wirkstoffkandidaten auf Proteine in der Zelle kann mit einer kürzlich entwickelten hochskalierbaren Methode der CeMM-Forscher um Stefan Kubicek eruiert werden. Da die Methode die parallele Untersuchung von Hunderten von Proteinen erlaubt, könnte die Arzneimittelwirkstoffentwicklung künftig drastisch beschleunigt werden. All diesen Projekten ist gemein, dass das ‚one drug fits all‘ zunehmend der Vergangenheit angehört, bestätigt Gerger.

Marker für personalisierte Therapie

Interessante Marker für die Entwicklung von personalisierten Therapien scheinen – laut den Innsbrucker Forschern – G3BP-Proteine zu sein. Diese Proteine hemmen das Signalprotein MTOR (Mechanistic Target of Rapamycin). Fehler in der Aktivierung von MTOR können zu Karzinomen, entzündlichen Erkrankungen oder Fehlentwicklungen des Nervensystems wie Epilepsie führen. „MTOR ist wie eine Computerplatine in der Zelle, die alles misst, was mit Nahrungsaufnahme und metabolischem Grundverhalten von Zellen zu tun hat“, präzisiert Univ. Prof. Lukas A. Huber vom Institut für Zellbiologie der Medizinischen Universität Innsbruck. Daher wird auch der endosomale Proteinkomplex LAMTOR näher untersucht, der eine Vielzahl essentieller Vorgänge in der Zelle steuert und in die Entstehung von Stoffwechselerkrankungen und Krebs involviert ist. „LAMTOR1 ist die Klammer, die den Proteinkomplex an das Lysosom, die mobile Müllentsorgungs- und Signalsteuerungsplattform der Zelle, heftet“, so Huber. Und weiter: „Das Wissen um die kritischen Aminosäuren-Positionen gibt uns gleichsam eine Vorschau auf potentielle neue Arzneimittel, die den Komplex in Erkrankungen wie Krebs oder Stoffwechselstörungen abschalten könnten, bei denen der mTORC-Signalweg überaktiv ist.“

Neue Bedeutung für Präzisionsmedizin

Das jeweilige Organ in Zusammenhang mit der Onkologie zu sehen, ist aktuell jener Trend, der in der kardiovaskulären Forschung einen Schwerpunkt vorgibt. So sind die Beobachtungen der Veränderung der Herzfunktion bei Mäusen mit einem subkutan wachsenden Tumor, die seit Jänner 2021 am Zentrum für Biomedizin der Medizinischen Universität Wien stattfinden, auch „brandaktuell“, wie Univ. Prof. Bruno Podesser, Leiter des Zentrums, unterstreicht. „Die Frage ist, wie sich die Herzfunktion im Laufe der Weiterentwicklung des Tumors verhält. Erste Ergebnisse, die in enger Abstimmung mit dem Team um Univ. Prof. Erwin Wagner durchgeführt werden, weisen tatsächlich darauf hin, dass das Tumorwachstum eine direkte Wirkung auf die Auswurfsleistung des Herzens zeigt“. Podesser weiter: „Hier bekommt Präzisionsmedizin eine neue Bedeutungsebene, denn ich muss der Frage nachgehen, ob ich für jeden Tumor ähnliche negative Auswirkungen erwarten darf, ob ich die Behandlung überdenken oder völlig neu aufstellen muss.“


Überblick: Translationale Forschung

In der Onkologie bildet Translationale Forschung die Schnittstelle zwischen klinischer und experimenteller Wissenschaft, sie verbindet also Grundlagenforschung mit der praktischen klinischen Anwendung erzielter Forschungsergebnisse. Folgende Methoden und Aspekte werden im Rahmen der Translationalen Forschung in der Präzisionsmedizin angewendet und berücksichtigt:

  • Molekulare und zelluläre Grundlagen der Präzisionsmedizin (omics, biomarker, imaging, ex vivo pathology, preclinical phenotyping)
  • Medizintechnische Ansätze (sensor technology, therapy monitoring und support solutions, PoC)
  • Systemmedizin (integrative analysis algorithms, holistic approach, predictive/prognostic modeling, patient stratification, disease pathomechanism, systems biology)
  • Regulatorische Anforderungen (clinical trials, etc.)

Repurposing

Das Repurposing von Arzneimitteln sei „Teil des Formenkreises der personalisierten Medizin“, betont Univ. Prof. Lukas A. Huber vom Institut für Zellbiologie der Medizinischen Universität Innsbruck. Unter Repurposing von bekannten Substanzen oder Therapien versteht man, bereits für andere Indikationen zugelassene Arzneimittel hinsichtlich ihrer Wirksamkeit bei anderen Krankheiten zu untersuchen. Häufig wird dabei der Fokus zusätzlich auf zelluläre Proteine des Menschen, die beispielsweise ein Virus für seine Vermehrung im Körper benötigt, gelegt. An der Medizinischen Universität Innsbruck arbeiten Forscher um Huber daran, mittels Organoiden seltene angeborene Gen-Erkrankungen bei Kindern zu erforschen. Dafür werden beispielsweise aus Gewebeproben der Betroffenen dreidimensionale Minidärme im Reagenzglas kultiviert, um die Microvillus Inclusion Disease (MVID) zu ergründen. Es gelang, das Protein Syntaxin 3 als mögliche Ursache für MVID zu identifizieren „Im Grunde geht es immer um Erkenntnisgewinn, um daraus ein therapeutisches Regime ableiten zu können, an die man bislang nicht gedacht hat, weil das Wissen fehlte“, führt Huber aus.

Großtierforschung mit neuer Herzlähmungs-Lösung

Auch auf europäischer Ebene konnten die Experten des Wiener Zentrums für Biomedizin aushelfen: Da es in Europa kaum Zentren für hochqualitative Großtierforschung gibt, unterstützte das Zentrum Versuche für eine Herzlähmungs-Lösung, die benötigt wird, um das Herz während eines operativen Eingriffs ruhig zu stellen. Dieser Ansatz, der ursprünglich von einem Wissenschafter-Team um David Chambers vom King‘s College London stammt, wurde in Wien im Klein- und Großtiermodell getestet. „Die Ergebnisse waren dermaßen vielversprechend, dass wir nun jeweils eine First-in-Man-Studie in England und Österreich machen. Dabei werden wir diese Lösung während einer Herz-Operation einsetzen“, schildert Univ. Prof. Bruno Podesser vom Zentrum für Biomedizin der Medizinischen Universität Wien. Entsprechende Studien an zehn Patienten sind im dritten und vierten Quartal 2021 geplant.

Wien: Großtiermodell entwickelt

Wissenschafter um Univ. Prof. Bruno Podesser vom Zentrum für Biomedizin der Medizinischen Universität Wien haben erstmals die vom Auslands- Österreicher Univ. Prof. Peter Zilla vom Groote Schuur Hospital in Kapstadt entwickelte Kunststoff-Herzklappe außerhalb von Südafrika getestet. Das Besondere daran: Diese Großtierversuche an 60 Kilogramm schweren Schweinen vor CE (Conformité Europeénne)-Kennzeichnung fanden während des Corona-Lockdowns via Videokonferenzschaltung vom österreichischen Operationssaal zum südafrikanischen Forschungslabor statt. „Für unsere südafrikanischen Partner war es wichtig, einerseits die technische Handhabung in fremden Händen zu prüfen und andererseits die Stabilität der neuen Klappe zu untersuchen“, erklärt Podesser. Das Modell funktioniere sowohl im Kurzzeitverlauf (ein Monat) als auch im Langzeitverlauf (sechs Monate). „Die Klappe kann über die Herzspitze und in Zukunft auch über die Leiste eingeführt werden. Diese Versuche waren Voraussetzung für die CE-Kennzeichnung einerseits und für die First-in-Men-Studien andererseits, die als nächster Schritt in Südafrika stattfinden werden“, führt der Experte weiter aus.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 /25.09.2021