Porträt Tibor Harkany: Brückenbauer zur Medizin

10.09.2021 | Politik

Mit den Auswirkungen von mütterlicher Fettleibigkeit während der Schwangerschaft auf die neuroendokrine Entwicklung des Kindes befasst sich der Molekularbiologie Univ. Prof. Tibor Harkany an der MedUni Wien. Für sein Projekt FOODFORLIFE erhielt er kürzlich einen 2,5 Millionen Dollar-Grant des European Research Council.
Ursula Scholz

Vor 20 Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich zum Einfluss von Cannabis auf das Gehirn forschen würde. Vor zehn Jahren war es genauso wenig zu erwarten, dass ich mich der Obesität widmen würde. Meine Forschungsfragen ergeben sich immer ganz natürlich eine aus der anderen – und gerade diese Freiheit der Wissenschaft empfinde ich als Privileg.“ So beschreibt der Molekularbiologe Univ. Prof. Tibor Harkany die evolutionäre Entwicklung seiner Forschungsarbeit: Jede neue Erkenntnis wirft weitere Fragen auf. Wichtig ist ihm dabei, dass er mit seiner Grundlagenforschung immer eine Brücke zum medizinischen Alltag schlagen kann. „Jede einzelne Schwangere, die aufgrund unserer Erkenntnisse einen positiven Einfluss auf die neuronale Entwicklung ihres Babys ausüben kann, ist für mich ein Erfolg“, erklärt der Leiter des Departments für Molekulare Neurowissenschaften am Zentrum für Hirnforschung der Medizinischen Universität Wien. Parallel dazu ist Harkany auch noch als Professor für Neurobiologie am Stockholmer Karolinska Institutet tätig.

Schon der zweite Grant

Für sein Projekt FOODFORLIFE, das die Auswirkung mütterlicher Fettleibigkeit während der Schwangerschaft auf die neuroendokrine Entwicklung des Kindes erforscht, wurde ihm ein Grant des European Research Council (ERC) in der Höhe von 2,5 Millionen Euro zugesprochen. Es ist nicht sein erster: Schon vor fünf Jahren wurde sein Labor mit ebendieser Summe bedacht. Nicht die Tatsache, dass er nach so kurzer Zeit einen zweiten ERC-Grant erhalten hat, konnte ihn erstaunen, vielmehr, dass er überhaupt einmal einen zugesprochen bekommen hat. Denn in den ersten 15 Jahren seiner Forschungstätigkeit hatte er sich mehrfach vergeblich darum beworben und die Hoffnung fast schon aufgegeben. Nun reiht sich Erfolg an Erfolg.

Sein aktuelles Projekt widmet sich am Mausmodell wie in Beobachtungsstudien an Schwangeren der Frage, auf welche Weise und aufgrund welcher Mechanismen sich mütterliche Adipositas auf die kindliche Gehirnentwicklung auswirkt. Deskriptive Studien schildern bereits Veränderungen im kindlichen Gehirn, das in utero einer Disbalance zwischen Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren ausgesetzt war. Harkany und sein Team untersuchen nun Hypothalamus-Zellen von Mäusen mit adipösen Mausmüttern und analysieren auftretende Veränderungen mittels molekularbiologischer Methoden.

„Die Schwierigkeit besteht darin, dass endokrine Zentren im Gehirn oft nur aus wenigen Tausend Zellen bestehen. Sie sind so klein, dass in vivo in bildgebenden Verfahren keine Veränderungen zu sehen sind.“ Erst Untersuchungen auf zellulärer Ebene können entschlüsseln, welche Vorgänge hier stattfinden. Im Labor von Harkany werden aber auch Genaktivitäten beobachtet. „Wir wollen verstehen, zu welchen genetischen Modifikationen die mütterliche Fetteinnahme führt.“ Die Studie befasst sich sowohl mit jener Form der Adipositas, die erst in der Schwangerschaft auftritt als auch mit der bereits davor bestehenden.

Aufs Fett gekommen ist Harkany durch seine Forschung zu Endocannabinoiden, die der menschliche Organismus selbst produziert. Ein Präkursor für Endocannabinoide ist die über fettreiche Nahrung aufgenommene Omega-6-Fettsäure, weshalb Mütter durch fettreiche Ernährung das Gehirn ihrer Ungeborenen einer etwas anderen Art von Cannabis-Rausch aussetzen. Dabei limitieren und stören Endocannabinoide die interne Kommunikation zwischen den Nervenzellen auf eine Art, die auch bei Cannabis-Abusus der Fall ist, so Harkany. Für sein Forschungsteam von besonderem Interesse ist auch die Frage, wie weitreichend der Einfluss des fettinduzierten Rausches auf das
kindliche Gehirn ist. „Eventuell hat ein Baby einer Mutter mit hohem BMI eine endokrinologische Programmierung, die sich auch erst nach zehn oder 20 Jahren auswirkt oder möglicherweise das ganze Leben beeinflusst. Das müssen wir erst herausfinden. Deshalb haben wir unser Projekt auch FOODFORLIFE genannt.“

Sein eigenes Essverhalten, glaubt Harkany, haben die im FOOD-FORLIFE-Projekt gewonnenen Erkenntnisse nicht verändert. Wohl aber seine Sicht auf die Ernährung seiner vier (teils schon erwachsenen) Kinder. „Man sieht mit einem anderen Blick auf die Essensvorlieben der Elfjährigen, wenn man sich vor Augen hält, dass ihre Organe und ihr Nervensystem noch in einem Entwicklungsprozess stehen.“ Trotzdem wurde nicht jede Nuss-Nougat-Creme aus dem Haushalt der Harkanys verbannt; Radikalität ist nicht seine Art.

Hoffnung auf Medikamente

„Sobald wir die Auswirkung der mütterlichen Obesität auf das kindliche Gehirn verstanden haben werden, können hoffentlich auch Medikamente entwickelt werden, um die Schäden zu minimieren. Noch viel wichtiger aber ist mir die Prävention, dass wir den Frauen die Botschaft mitgeben können, wie sie durch bewusste Ernährung das kindliche Gehirn schützen können.“ Nicht der Nobelpreis ist das Ziel von Harkany – obwohl er sich gut machen würde unter seinen zahlreichen bisherigen Awards. Es ist jedes einzelne Baby, das durch seine Erkenntnisse ein gesünderes Leben führen kann, das ihn anspornt, seine Forschung weiter zu betreiben. Zur Ruhe kommt er dabei kaum. „Die Zeit zwischen 16 und 19 Uhr reserviere ich für meine Kinder, helfe ihnen bei der Hausübung, schwimme mit ihnen im Pool und richte ihnen das Abendessen. Davor und danach wird gearbeitet.“

Rückkehr nach Schweden geplant

Trotz dieser scheinbaren Ruhelosigkeit schmiedet Harkany Pläne für seinen Ruhestand. Er will nach Schweden zurückkehren, wo der gebürtige Ungar fast 20 Jahre seines Erwachsenenlebens verbracht und mit seinem Sohn zusammen ein kleines Holzhaus gebaut hat. Gelebt und geforscht hat er schon in Ungarn, den Niederlanden, Schweden, Schottland und Österreich. Sein Herz hat er allerdings an Schweden verloren. „Die derzeitigen beruflichen Bedingungen an der Medizinischen Universität in Wien sind hervorragend und deshalb arbeite ich auch gerne hier.“ Aber alt werden möchte er im hohen Norden. An Schweden schätzt er die skandinavische Lebenseinstellung, die harmonisch zwischen sozialer Verantwortung und Verständnis für die Individualität oszilliert und von tiefer Toleranz getragen ist. Und dann ist da noch das Motorschlitten-Fahren … Am wenigsten Probleme damit, Ausländer zu sein, hatte er in Schottland. „Ein ideales Land, das alle Vorteile an einem Ort bietet, gibt es eben nicht in der Realität“, erklärt er pragmatisch. Nach Österreich zu kommen, war für ihn ein wenig, als wäre er nach Ungarn zurückgekehrt. „Man merkt schon, dass die beiden Länder eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte haben.“

Zukunftspläne beruflicher Natur entwirft Harkany nicht. Er vertraut darauf, dass ihn die Erkenntnisse in seinem Labor zur rechten Zeit zur nächsten Forschungsfrage lenken werden. Förderungen wie der soeben erhaltene ERC-Grant sorgen dafür, dass er seinen aufkeimenden Interessen dann auch nachgehen kann.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 /10.09.2021