Impfstoffproduktion in der Pandemie: Produzieren – liefern – impfen

25.03.2021 | Politik


Normalerweise dauert die Produktion eines Impfstoffs bis zu drei Jahre; die Herstellung der Impfstoffe gegen das Corona-Virus erfolgt innerhalb von drei bis vier Monaten. Beispielsweise 280 Inhaltsstoffe von 86 verschiedenen Zulieferern in 19 Ländern für einen einzigen Impfstoff: Das sind die Rahmenbedingungen für die Produktionsformel in der Pandemie: ‚produzieren – liefern – impfen‘.
Manuela-C. Warscher

Die Pharmaindustrie ist mit einer unglaublichen Dimension sowohl hinsichtlich der Entwicklung als auch der Produktion von Corona-Impfstoffen konfrontiert“, sagt die Präsidentin des Österreichischen Verbandes der Impfstoffhersteller, Renée Gallo-Daniel. Diese Dimension sei nur mit Wissensaustausch und Pharmakooperationen zu bewältigen. Bereits im Februar 2020 waren 18 Impfstoffkandidaten in Entwicklung; aktuell sind es 240. Und schließlich erfolgte knapp elf Monate nach dem Auftreten der ersten Corona-Fälle die erste bedingte Zulassung eines COVID-19-Impfstoffes. „Wir wussten: Verlässt das Virus China, betrifft es die ganze Welt. Mit herkömmlichen Zyklen wären wir hier nicht weit gekommen. Daher hat die Industrie früh Sequenzierungsergebnisse untereinander geteilt, Wissenschafter in internationale Gremien entsendet und Datenbanken zugänglich gemacht, um die Entwicklung anzutreiben“, erklärt Alexander Herzog, Generalsekretär der Pharmig (Verband der pharmazeutischen Industrie).

Produktion unter Zeitdruck

Im Allgemeinen dauert die Produktion eines Impfstoffs zwischen einem und drei Jahren. In einer Pandemie findet dieser Produktionsprozess für einen globalen Markt unter enormem Zeitdruck statt. „COVID-19-Impfstoffe werden innerhalb von drei bis vier Monaten produziert“, sagt Gallo-Daniel. Um diese Zeitvorgabe einhalten zu können, werden zahlreiche Schritte parallel gesetzt, stark komprimiert und laufend weiter optimiert. So finden die Planung der Produktionsstätten, die Prozessdefinition, Bedarfsplanung der benötigten Rohstoffe und Hilfsmittel sowie Distribution und Logistik bereits in der Entwicklungsphase statt. Dazu der Geschäftsführer der PfizerCorporation Austria, Robin Rumler: „Wir konnten durch laufende Prozessoptimierungen die Produktionszeit einer Charge mit einer bis drei Millionen Impfstoffdosen von 120 auf 60 Tage verkürzen.“

Die Produktion eines pandemischen Impfstoffes folge der Formel „ich produziere, ich liefere, ich impfe“. In anderen Worten: „Es gibt in einer Pandemie keine Lagerhaltung. Das bedeutet: Es wird produziert, ausgeliefert und geimpft“, so Gallo-Daniel. „Das zweite wesentliche Merkmal der pandemischen Impfstoffproduktion ist das Fehlen des Privatmarktes. Das heißt: die Industrie liefert direkt an den Staat. Und drittens müssen Hersteller in kürzester Zeit den Weltmarkt versorgen, ohne regionale oder zeitliche Peaks wie bei Influenza zählen zu können.“ Dabei müssen Hersteller ihre Produktion auf eine „Milliardenmenge“ hochskalieren. Herzog ergänzt: „Impfstoffe wurden der Industrie bisher nicht gerade aus den Händen gerissen. Jetzt in der Pandemie müssen Hersteller komplexe, schwierige Dinge lernen und tragen dabei die volle Verantwortung für die Qualität und Sicherheit des Impfstoffes“. Die Qualitätskontrollen dabei fänden über den gesamten Produktionsweg hindurch statt, bestätigt Gallo-Daniel.

Unkalkulierbare Herausforderungen

Die Herstellung von pandemischen Impfstoffen beinhaltet eine Reihe an schwer kalkulierbaren Faktoren, die die Produktionsmenge beeinträchtigen können. Diese betreffen neben den Inhaltsstoffen und dem Equipment zur Abfüllung des Impfstoffes in Mehrfachbehältnisse insbesondere die Zulieferer und Rohstoffe. Vor allem die weltweite Bereitstellung des Rohstoffes stellt eine besondere Herausforderung dar. „Für einen COVID-Impfstoff benötigt man bis zu 400 verschiedene Bestandteile. Probleme sind vorprogrammiert, weil es sich um biochemische Prozesse handelt. Tritt zusätzlich ein Problem bei einem Zulieferer auf, dann steht die Produktion“, erläutert Herzog. Darüber hinaus können auch Arbeitsschritte innerhalb einer Produktionsstraße wegen des komplexen Herstellungsprozesses und der hohen Sicherheitsstandards kaum ausgetauscht werden. „Ist die Impfstoffproduktion die Champions League der Pharmaproduktion, dann gilt das für pandemische Impfstoffe umso mehr“, sagt Herzog. Die Produktion läuft an sieben Tagen 24 Stunden durchgehend, wobei die einzelnen Produktionsschritte in unterschiedlichen Produktionsstätten stattfinden. Gallo-Daniel dazu: „Die Wirkstoffproduktion, Endformulierung und Abfüllung passieren in der Regel sogar in unterschiedlichen Ländern“.

280 Inhaltsstoffe

So wird beim mRNA-Impfstoff von BioNTech/Pfizer die Wirkstoffsubstanz bei BioNTech in Marburg (Deutschland) hergestellt, diese dann nach Klosterneuburg geliefert, wo sie bei Polymun mit den Lipid-Nanopartikeln zusammengeführt wird und schließlich nach Puurs in Belgien zur Fertigstellung geliefert, schildert Rumler. „Insgesamt hat unser Impfstoff 280 Inhaltsstoffe, die von 86 verschiedenen Zulieferunternehmen in 19 Ländern stammen.“ Eine ausgeklügelte Logistik sichert den Transport des halbfertigen Impfstoffes zu den diversen Produktionsstätten. „Eine Verzögerung an nur einem Standort wirkt sich sofort auf die gesamte Produktionskette aus“, so Gallo-Daniel. Bei Produktionsschwankungen und Chargenausfällen nach Qualitätskontrollen komme es sofort zu „Lieferengpässen.“

Dynamische Rahmenbedingungen

Kennzeichen der pandemischen Impfstoffherstellung sind die dynamischen Rahmenbedingungen. Tatsächlich machen Virusmutationen einen gleichbleibenden Prozess unmöglich. Die Hersteller können dieser Dynamik – so Gallo-Daniel – auf zwei Wegen begegnen. „Einerseits werden beim raschen Weg bestehende Impfstoffe auf die Wirksamkeit bei auftretenden Varianten überprüft.“ So wirken die derzeit verfügbaren Impfstoffe zwar bei der britischen Variante, allerdings weniger gut bei der südafrikanischen. „Der längerfristige Weg bedeutet andererseits, dass man bestehende Impfstoffe adaptiert. Ähnliches macht man jährlich bei Influenza.“ Allerdings müsse dabei bedacht werden, dass der bestehende Impfstoff weiterhin zur Immunisierung der anderen Variante benötigt wird. „Das Umstellen der Produktion ist hier der absolute Flaschenhals“, sagt Gallo-Daniel.

Bis Ende des Jahres werde Pfizer/BioNTech laut EU-Vertrag 11,1 Millionen Impfdosen nach Österreich liefern und damit „60 Prozent der Bevölkerung“ immunisieren können, so Rumler. Waren ursprünglich weltweit 1,3 Milliarden Impfstoffdosen geplant, so liegt der Bedarf aktuell bei zwei Milliarden. In Europa hat sich der Bedarf von 300 Millionen auf 600 Millionen verdoppelt und in Österreich verdreifacht: von 3,5 auf 11,1 Millionen. „Unsere Produktion war auf die ursprünglichen Zahlen ausgerichtet“, sagt Rumler. Und weiter: „Bereits im ersten Quartal haben wir mehr produziert und ausgeliefert als jemals geplant war. Bis Ende April 2020 werden wir zwei Millionen Dosen in Österreich ausgeliefert haben.“

Um den „Wahnsinnsleistungen“ (Rumler) adäquat zu begegnen, habe Pfizer nach Partnern mit entsprechender Infrastruktur gesucht. „Ein Werk benötigt mindestens fünf Jahre, bis es produktionsbereit ist“, erklärt Rumler. Daher sei es besser, auf existente Produktionsstätten auszuweichen. So wird etwa Sanofi ab Sommer 2021 für Pfizer/BioNTech vorerst bis Ende des Jahres 125 Millionen Dosen in Frankfurt-Höchst abfüllen und verpacken. „Wir sehen, dass einige Unternehmen mit Herausforderungen bei ihrer Produktion konfrontiert sind. Daher unterstützen wir dort, wo wir über die richtigen Fertigungskapazitäten verfügen, um uns gemeinsam im Kampf gegen COVID zu engagieren“, sagt eine Unternehmenssprecherin von Sanofi Pasteur auf Anfrage der ÖÄZ. Neben der Kooperation zwischen Sanofi und Pfizer/BioNTech unterstützt beispielsweise auch Merck; AstraZeneca und Novartis wiederum kooperieren mit Curevac. Was die weitere Produktion anbelangt, zeigt man sich bei Pfizer zuversichtlich: „Das neue Werk von BioNTech in Marburg ist in der Lage, jährlich bis zu 750 Millionen Dosen zu produzieren“, betont Rumler  

Neuland für alle

„Wir haben alle Neuland betreten“, sagt Herzog und nur „durch die enge Kooperation mit den Zulassungsbehörden konnte die Verfügbarkeit der Impfstoffe deutlich beschleunigt werden.“ Versäumnisse ortet Gallo-Daniel allerdings auf EU-Ebene: „Man hätte früher mit der Planung des Impfdosen-Einkaufes beginnen müssen. Dann könnten wir jetzt auch auf ein größeres Kontingent zurückgreifen.“ Mit dieser Kritik steht Gallo-Daniel nicht allein da. Dennoch sehen Abgeordnete des Europa-Parlaments die späte und zu geringe Impfstofflieferung „nicht als Kern des Problems“. Diese liege laut dem CDU-Abgeordneten Peter Liese im Exportverbot in den USA und einer „UK-first Politik“ beim AstraZeneca-Impfstoff in Großbritannien. „Wenn Europa die Welt beliefert, während alle anderen aber nur an sich selbst denken, dann kann die Sache nicht aufgehen“, sagt Liese.

Stand: 15. März

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2021