Impfkampagne in Israel: Wettlauf gegen das Virus

25.02.2021 | Coronavirus, Politik


Mit bisher mehr als 680.000 bestätigten COVID-19-Fällen verzeichnet Israel eine der höchsten Zahlen pro Einwohner weltweit. Gleichzeitig weist Israel die höchste Impfrate pro Kopf auf: Mehr als 3,4 Millionen Menschen sind zum ersten Mal geimpft; fast zwei Millionen bereits zum zweiten Mal. Wie ist dieses Rekordtempo möglich?
Winfried Schumacher

Wer hätte gedacht, dass in Israel zu leben sich mal als Sicherheitsvorteil herausstellt?“, sagt Sarah Stricker und lächelt. „Sonst fragen mich Israelis oft, warum ich freiwillig hier wohne, wo ich es mir doch auch im sicheren Deutschland gut gehen lassen könnte. Ist ganz schön, dass es ausnahmsweise Mal umgekehrt ist.“

Die bei Speyer aufgewachsene Schriftstellerin zog vor elf Jahren von Berlin nach Israel. Bekannt wurde sie mit ihrem mehrfach ausgezeichneten Roman „Fünf Kopeken“ und einer Reihe von Kurzgeschichten, in denen es häufig um Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Deutschen und Israelis geht. Heute ist sie gemeinsam mit ihrem Freund auf dem Weg zu einem besonderen Termin. Um 17.36 Uhr sollen die beiden ihre erste COVID-19-Impfung erhalten, nur fünf Minuten zu Fuß von ihrer Wohnung entfernt im Zentrum von Tel Aviv. „Ja, ein bisschen aufgeregt bin ich schon, aber vor allem glücklich. Gleichzeitig mischt sich auch ein wenig schlechtes Gewissen dazu, dass ich eine Dosis bekomme, während meine Eltern und viele hochbetagte Menschen in Deutschland vorerst leer ausgehen“, sagt die 40-Jährige. Das Paar geht eine Parallelstraße zum Rothschild-Boulevard entlang – zwischen renovierten Fassaden aus den Zwanziger Jahren, den Kindheitsjahren von Israels Lebestadt, Wirtschafts- und Kulturmetropole, und vergilbten Bauhaus-Wohnblöcken. Dafür, dass in Israel der dritte strikte Lockdown verlängert wurde, ist die Stadt recht belebt. Mütter mit Kinderwägen bringen den Nachwuchs zum Spielplatz. Palästinensische Bauarbeiter rauchen vor einem eingerüsteten Hauseingang. Ein Jogger ohne Mundschutz schert sich wenig um die ihm entgegenkommenden Passanten. Hinter der offenen Tür einer Synagoge haben sich ein paar Ultraorthodoxe bereits zum Abendgebet versammelt. Eigentlich dürfen Israelis ihre Wohnadresse im Moment nur für Notfälle, dringende Arbeit oder Lebensmittel-Einkäufe verlassen – und das höchstens in einem Umkreis von einem Kilometer. Es gibt jedoch eine Reihe von Ausnahmen und die wenigsten scheinen die staatlichen Anordnungen sonderlich ernst zu nehmen.

„Wie überall auf der Welt sind auch die Tel Aviver ziemlich Corona-müde. Außerdem ärgern sich viele, dass in ultraorthodoxen Vierteln die Pandemie oft ignoriert wird“, sagt Sarah Stricker. Unter den strengreligiösen Juden genauso wie unter den arabischen Israelis waren die Fallzahlen bisher deutlich höher als in anderen Bevölkerungsgruppen. Während die Ultraorthodoxen zum Teil gewalttätig gegen die Lockdown-Maßnahmen protestierten, werfen viele säkulare Juden der Regierung vor, die Einhaltung von Corona-Restriktionen in Stadtteilen, in denen diese die Mehrheit stellen, nur halbherzig zu überwachen. Die dramatischen Fallzahlen der letzten Wochen sind die Quittung dafür.

Nachdem Israel im Frühjahr 2020 recht glimpflich durch die Pandemie gekommen war, trafen die zweite Corona-Welle im September und die dritte im Dezember das Land mit voller Wucht. Israel verzeichnet mit bisher etwa 680.000 bestätigten COVID-19-Fällen eine der höchsten Zahlen pro Einwohner im weltweiten Vergleich. Vor allem in den letzten Wochen gerieten die Krankenhäuser und Aufnahmestationen an ihre Grenzen. Bisher sind mehr als 4.800 Menschen an den Folgen der Virus erkrankung gestorben.

Gleichzeitig machte Israel zuletzt Schlagzeilen als das Land mit der höchsten Impfrate pro Kopf weltweit. Mehr als 3,4 Millionen haben inzwischen ihre erste Impfdosis erhalten und fast zwei Millionen sind bereits zweimal geimpft (Stand: 5. Feber). Fast ein Drittel der Bevölkerung ist bereits erstgeimpft. Nachdem sich am 19. Dezember 2020 Premierminister Benjamin Netanjahu medienwirksam als erster Israeli impfen ließ, erfasste eine regelrechte Impf-Euphorie das Land. Innerhalb eines Monats waren bereits die meisten Einwohner über 50 Jahre geimpft.

Als am 19. Jänner auch über 40-Jährige zur Impfung zugelassen werden, soll auch Sarah Stricker schnell zu den Erstgeimpften gehören. Wie viele Israelis und Ausländer mit Aufenthaltsstatus im Land lässt sie sich über eine App ihrer Gesundheitskasse durch wenige Klicks einen Impftermin geben. Zunächst wird ihr ein Termin im Februar angeboten. „Wir sind dann wie viele andere doch schon einen Abend danach zum nächsten Impfzentrum gegangen, um vielleicht schon vorab eine der Dosen zu bekommen, die am Ende des Tages übrigbleiben und sonst weggeworfen werden müssen“, erzählt sie. Dort angekommen hätten sich bereits Dutzende jüngere Tel Aviver versammelt. „Dann wurde durchgefragt: Gibt es jemanden über 49? 48? 47? – Schon merkwürdig, wie man sich umdrehte und ausnahmsweise jeden mit ein paar grauen Strähnen beneidete. Verkehrte Welt – Ältersein war von einem Moment auf den anderen ein Vorteil.“ Über spontan initiierte Impf-Seiten auf Facebook und WhatsApp-Gruppen kamen auch bereits viele Jüngere an überschüssige Dosen. An diesem Abend durfte sich jedoch nur noch ein 43-Jähriger über seine erste Impfung freuen. Stricker und ihr Freund mussten ungeimpft nach Hause gehen. Am Tag darauf erhielt sie jedoch bereits eine Nachricht auf ihr Handy: Bereits am 24. Jänner seien noch Impftermine verfügbar.

Deal: Impfstoff für Daten

Einen großen Anteil am Erfolg der Impfaktion in Israel hat das digitalisierte und unbürokratische Gesundheitssystem. Wie aber hat Israel es geschafft, so schnell an den begehrten Impfstoff für seine rund neun Millionen Menschen zu kommen? Entscheidend waren sicher eine Reihe frühzeitiger Gespräche zwischen Netanjahu und dem israelischen Gesundheitsminister Juli-Joel Edelstein mit Albert Bourla, dem Chief Executive Officer von Pfizer. Die israelischen Politiker vereinbarten, für die Durchführung einer im Eiltempo vorangetriebenen Impfaktion Daten über die Auswirkungen der Pandemie an den Pharmakonzern weiterzureichen. Welche Summe für den BioNTech-Pfizer-Impfstoff floss,ist nicht bekannt; Medienberichten zufolge soll Israel deutlich mehr als etwa Europa und die USA gezahlt haben.

Die Kritiker von Netanjahus bemängeln diesen Impfstoff-für-Daten-Deal. Linke und internationale Menschenrechtsorganisationen empören sich, dass die palästinensischen Gebiete vorerst wohl weitgehend leer ausgehen, obwohl in Israel im kommenden März voraussichtlich mehr Impfstoff zur Verfügung stehen wird, als pro Einwohner nötig wäre. Siedler im Westjordanland, die in die israelische Krankenkasse einzahlen, werden hingegen versorgt. Weil für das Gesundheitswesen der Palästinenser die Autonomiebehörde zuständig ist, haben diese keinen Zugang zum Impfstoff. Am Sonntag ließ Verteidigungsminister Benny Gantz bestätigen, dass die Regierung den Palästinensern 5.000 Dosen bereitstellen will; damit soll vor allem medizinisches Personal geimpft werden.

Erste Auswertungen über die Wirksamkeit der Impfungen in Israel dürften Rückenwind für den Wahlkampf von Netanjahu sein. Den Daten der Krankenkasse Maccabi zufolge wirken die Impfungen sogar schneller als zunächst angenommen. Die Wahrscheinlichkeit für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf sinkt den Zahlen nach bereits 18 Tage nach der ersten Impfung deutlich. Schon zwei Tage nach der zweiten Impfung fällt bei 60-Jährigen und älteren, deren Daten ausgewertet wurden, das Risiko für eine stationäre Behandlung um 60 Prozent. Nach jüngsten Zahlen des israelischen Gesundheitsministeriums infizierten sich nur 0,01 Prozent aller, die bereits zwei Dosen erhalten hatten, mit dem Virus. Bisher erkrankte keiner davon schwer.

Als Sarah Stricker und ihr Freund beim Impfzentrum ankommen, stehen draußen bereits einzelne Tel Aviver, die auf ihren Termin warten. Lange Schlangen wie zu Beginn der Impfungen gehören in Israel vielerorts bereits der Vergangenheit an. Für Stricker geht nun alles ganz schnell. Sie zieht ihre Gesundheitskarte durch ein Lesegerät und wird keine zehn Sekunden später aufgerufen. Ein Stockwerk höher empfängt sie ein arabischer Pfleger, stellt drei Gesundheitsfragen und bittet sie, ihren Ärmel hochzukrempeln. Ein kurzer Stich. Ein gemeinsames Foto. Und schon steht sie wieder draußen auf der Straße.

„Die Israelis sind sehr gut darin, sich in Ausnahmesituationen nicht lange mit Planen aufzuhalten, sondern einfach mal zu machen. Das spart natürlich alles Zeit. Wenn ich höre, dass in Deutschland die Einladungen zur Impfung per Post verschickt werden, kann ich nur den Kopf schütteln.“ Den Termin für ihre zweite Impfung hat Stricker bei der Bestätigung des ersten Termins automatisch über die App erhalten.

Und inzwischen werden in Israel auch 35-Jährige und 16- bis 18-Jährige geimpft, die sich auf ihre Abschlussprüfungen vorbereiten.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4 / 25.02.2021