Psychische Erkrankungen bei Kindern: Alterstypisches Auftreten

10.09.2021 | Medizin

Angststörungen und Depressionen bei 14- bis 18-Jährigen haben aktuellen Studien zufolge während der Corona-Pandemie zugenommen. Wenn Angst, Wut, Aggression und Traurigkeit bei Kindern und Jugendlichen auch immer im Kontext mit ihrer Entwicklung beachtet werden müssen, können grenzüberschreitendes Verhalten sowie eine plötzliche starke Wesensveränderung auf eine Erkrankung hinweisen.
Sophie Fessl

Aktuelle Studien an 14- bis 18-Jährigen in Österreich zeigen, dass Angststörungen und Depressionen in der COVID-19-Pandemie zunehmen, berichtet Univ. Prof. Paul Plener von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien. „Dieses Signal ist nicht einzigartig für Österreich: weltweit haben Angst und Depression während der Pandemie deutlich zugenommen, besonders stark bei den 14- bis 25-Jährigen.“

Angst, Wut, Aggression und Traurigkeit sind Emotionen, die alle Kinder erfahren. Doch bei manchen Kindern und Jugendlichen können diese Emotionen pathologisch werden. „Die Angststörung ist die häufigste psychische Erkrankung im Kindes- und Jugendalter. Gleichzeitig ist die Angst, ganz wertfrei, eine Emotion, die uns schützt, und an sich nichts Pathologisches“, so Plener. Charakteristisch für die Angststörung sind irrationale Ängste vor ungefährlichen Situationen oder Objekten. „Pathologisch wird die Angst dort, wo sie irrational ist und zu einem Vermeidungsverhalten führt, das in der Teilhabe am Leben beeinträchtigt“, erklärt Plener. „Die Vermeidung ist damit das zentrale Kriterium der Angststörung. Der Betroffene vermeidet Situationen, in denen er sich seiner irrationalen Angst stellen müsste.“

Angst oft alterstypisch

Bei Kindern müssen diese Ängste außerdem vor dem Entwicklungshintergrund gesehen werden, betont Univ. Prof. Belinda Plattner von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Salzburg. „In verschiedenen Altersstufen treten verschiedene Ängste ganz typischerweise auf.“ Bei Kleinkindern ist das zunächst das „Fremdeln“ zwischen dem sechsten und dem neunten Lebensmonat sowie die Trennungsangst zwischen dem neunten und dem 20. Lebensmonat. Im Kindesalter tritt die Umweltangst auf, also Ängste etwa vor Tieren, Dunkelheit oder Einbrechern. Im Vorschulalter beginnen soziale Isolationsängste; das heißt Ängste, sich in die Gesellschaft einzubringen. Zwischen dem neunten und dem zwölften Lebensjahr tritt auch die Real-Angst auf. „Die Kinder haben Angst davor, welche Entwicklung sie nehmen werden. Gleichzeitig entstehen Ängste aus ihrem nun gewonnenen Bewusstsein der Realität heraus, etwa vor Kriegen oder Krankheit.“ In der Pubertät wiederum treten soziale Ängste auf, die durch die Entwicklung aus der Familie heraus bedingt sind.

Die Diagnose „Angststörung“ könne bei Kindern und Jugendlichen sehr diffizil sein und erfordere ein feinfühliges Vorgehen, berichtet Plattner. „Einerseits gibt es Eltern, die zu rasch eine Entwicklung der Kinder verlangen und Ängste pathologisieren. Andererseits gibt es jene Eltern, die sehr beschützend sind und es nicht aushalten können, dass ihr Kind sich auch manchen Ängsten stellen muss. Damit ist die Einschätzung oft eine Gratwanderung.“

Ängste werden oft deutlich durch eine körperliche Symptomatik begleitet. Sie reicht von schnellerer Atmung, über Hitzewallungen, Kälteschauer, Schwindelgefühlen bis hin zu beschleunigtem Herzschlag. „Diese psychosomatischen Beschwerden sind ein Aspekt, bei dem Ängste und Angstsymptomatik in der allgemeinmedizinischen Praxis eine Rolle spielen. Ein anderer Aspekt ist das Vermeidungsverhalten“, erläutert Plener. Daher sollte bei Symptomen wie Bauchschmerz, Kopfschmerz oder Durchfall, die während der Schulzeit, jedoch nicht in den Ferien auftreten, an Ängste gedacht und diese angesprochen werden.

Eine Abklärung sollte erfolgen, wenn die Ängste ein solches Ausmaß annehmen, dass sich das Kind nicht mehr innerhalb seiner Entwicklungsstufe entwickeln kann. „Wenn das Kind nicht mehr im vollen Umfang am Leben teilnehmen kann und Situationen vermeidet, kann eine Angststörung vorliegen“, berichtet Plener. Durch das Vermeidungsverhalten nimmt die Angst sofort ab, was zu einem belohnenden Gefühl führt. „Damit nimmt die Vermeidung Raum ein, was aber auch eine verminderte Teilhabe bedeutet.“

Bei der Therapie der Angst setzen sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen in einem sicheren Rahmen und mit vertrauensvoller Haltung gemeinsam mit einem Psychotherapeuten oder Psychiater ihren Ängsten aus. Diese Auseinandersetzung kann in Stufen erfolgen oder als Exposition. In der Psychotherapie könne das Kind außerdem seine Ängste durch regelmäßige Gespräche, Beobachtungen und zum Teil Rückmeldungen bearbeiten, berichtet Plattner. „Wenn ein Kind eine störende Angst vor Krankheiten hat, kann es helfen, wenn es diese Angst mit einem Arzt bespricht, der auch beruhigt und rückmeldet, welche befürchtenden Situationen wahrscheinlicher und welche weniger wahrscheinlich eintreten.“ Medikamente zur Therapie der Angststörung können in Österreich im Kindes- und Jugendalter nur off-label eingesetzt werden. Dazu zählen selektive SSRIs, die als Augmentation zur Psychotherapie Einsatz finden können.

Umgang mit Wut: Entwicklungsprozess

„Wut und Angst sind Emotionen, die sehr nahe beieinander liegen“, berichtet Plattner. Und weiter: „Wut ist auch eine Abwehr von Angst, die zum Teil physiologisch passend ist, etwa als Schutzreaktion bei Verfolgung.“ Für sich gesehen ist auch Wut eine wertneutrale Emotion, die zeigt, dass das Kind mit einer Situation nicht gut leben kann. „Die Frage ist, was das Kind mit der Wut macht: Kanalisiert es diese konstruktiv, um sich aus der Situation zu befreien, oder wird sie destruktiv gegen Menschen oder Objekte eingesetzt?“, erläutert Plener. „Das Erlernen der Impulskontrolle ist ein Entwicklungsprozess. Kinder erlernen eine bessere Kontrolle der Wut und das Umgehen mit Situationen, indem ihre Bezugspersonen dieses Verhalten vorleben.“ Jedoch gibt es für diesen Entwicklungsprozess keinen fixen Zeitrahmen. „Ab der Kindergartenreife sollte ein Kind seine Wut so im Griff haben, dass es in die Gruppe gut integrierbar ist. Allerdings hängt es auch von der Persönlichkeit des Kindes ab“, betont Plattner.

Zu den Diagnosen, bei denen Wut ein Aspekt darstellt, zählt die Störung des Sozialverhaltens. Bei dieser Störung werden altersinadäquat Normen und Rechte verletzt in einem Muster, das eine zeitliche Persistenz aufweist. Bei der Störung des Sozialverhaltens ist der Faktor, dass das gezeigte Verhalten altersinadäquat ist, wesentlich. „Wenn ein Dreijähriger zur Durchsetzung seiner Interessen aufstampft und schreit, ist das nicht pathologisch, sondern eine normale altersadäquate Trotzreaktion. Wenn ein Zwölfjähriger mit diesem Verhaltensmuster reagiert, ist es nicht mehr altersadäquat, da ein Lernprozess stattfinden hätte sollen, und es sollte eine mögliche Pathologie bedacht werden“, erklärt Plener.

Bei der Behandlung der Störung des Sozialverhaltens liegt großes Augenmerk auf dem Elterntraining und einer Veränderung der Erziehungsbedingungen. „Diese zeigen eine bessere Effektivität bei jungen Kindern, am besten im Kindergartenalter. Bei Jugendlichen ist es schwieriger und es müssen individuelle Maßnahmen erfolgen.“ Für die Störung des Sozialverhaltens ist keine Medikation zugelassen. Bei der Behandlung einer Impulskontrollstörung bei Kindern mit unterdurchschnittlicher Intelligenz können für einen kurzen Zeitraum Antipsychotika zum Einsatz kommen.

Kalte und heiße Aggression

Man unterscheidet zwei Grundformen der Aggression, die sich auch neurobiologisch unterschiedlich darstellen: die „heiße“ und die „kalte“ Aggression. Die „heiße“ Aggression ist reaktiv, impulsiv und emotional aufgeladen; bei einer Provokation wird überschießend mit mangelnder Impulskontrolle reagiert. Die „kalte“ Aggression ist proaktiv; dabei wird kein stark emotional aufgeladener Zustand erlebt. „Bei der kalten Aggression plant jemand relativ kühl eine aggressive Handlung, die anderen schaden kann, weil er oder sie sich einen Vorteil für sich erwartet“, berichtet Plener.

Eine Pathologie liegt bei Wut und Aggression dann vor, wenn die Grenzen von anderen massiv überschritten werden. „Hilfe sollte geholt werden, wenn es zu aggressiven körperlichen Übergriffen auf andere Kinder kommt, und wenn es nicht ein einmaliger Akt der Verzweiflung war, sondern ein Muster erkennbar ist“, rät Plener. Auch das Ausmaß der Aggression und die Stärke der Reaktion spielen eine Rolle. Ein weiteres Anzeichen, dass Hilfe hinzugezogen werden sollte, ist die Störung des Familienlebens durch massive Wutausbrüche und Aggressionen. Zwar sind Wut und Aggression vor allem im Kindergartenalter teils altersadäquat, da sich die Impulskontrolle noch entwickelt, doch Plener weist auf einige Warnsignale hin. „Wenn die Aggression dauerhaft das Familienleben schädigt, wenn kleine Geschwister immer wieder körperlich Schaden nehmen oder wenn Tiere gequält werden, sollte Rat gesucht werden.“ Im Beratungsgespräch sollten Eltern daher beschreiben, wie häufig Wutausbrüche stattfinden, ob Menschen oder Tiere dabei verletzt werden, sowie typische Situationen schildern, um die Verhältnismäßigkeit hinsichtlich Auslöser und Reaktion abschätzen zu können.

Plattner betont, dass die Individualität des Kindes zugelassen werden müsse und das Spektrum der Emotionen zu respektieren sei. Angst, Wut und Aggression seien individuell unterschiedlich ausgeprägt. Als Warnzeichen nennt sie, wenn sich eine große Veränderung im Verhalten zeigt. „Wenn Handlungen nicht dem Grundcharakter eines Kindes entsprechen, würde mich das psychiatrisch mehr beunruhigen, als wenn sie dem Grundcharakter entsprechen“, erklärt Plattner. „Angst, Wut und Aggression müssen vor dem Hintergrund der Persönlichkeit gesehen werden, wobei plötzliche Veränderungen und für das Kind untypisches Verhalten beunruhigend sind.“

Störungsbilder, in denen die Aggression eine Rolle spielt, sind die emotionale instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus, ADHS mit begleitenden aggressiven Impulsdurchbrüchen, eine Störung des Sozialverhaltens, in manchen Ausprägungen der Autismusspektrumsstörung, aber auch bei psychotischen Erkrankungen. Im ICD-11 wird auch ein Subtyp der kalten Aggression dargestellt: die Störung des Sozialverhaltens mit geringen prosozialen Emotionen.

Rund fünf bis zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden an einer Depression. Meist tritt eine Depression nach dem Einsetzen der Pubertät auf, seltener davor. Im Kindesalter können gereizte Verstimmtheit, Irritabilität und Launenhaftigkeit auf eine depressive Entwicklung hinweisen. Erst ab dem Schulalter wird zunehmend von Traurigkeit berichtet. Weiters geht der Antrieb verloren und das Kind zeigt wenig Interesse an motorischen Aktivitäten. Auch Ein- und Durchschlafstörungen sowie psychosomatische Schmerzstörungen können auftreten. In der Pubertät treten ähnliche Symptome wie im Erwachsenenalter auf.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 /10.9.2021