Migräne-Pro­phy­laxe: Stress durch Angst

25.03.2021 | Medizin


Rund eine Mil­lion Men­schen in Öster­reich lei­det an Migräne; der Groß­teil von ihnen ist unter­ver­sorgt. Bei der Betreu­ung selbst nimmt die Pro­phy­laxe eine zen­trale Rolle ein. Dar­über hin­aus haben Migrä­ne­pa­ti­en­ten ein bis zu 2,5‑fach erhöh­tes Risiko für eine Depres­sion oder Angststörung.

Migräne ran­giert an zwei­ter Stelle der stark belas­ten­den und behin­dern­den Krank­hei­ten der WHO-Liste. In Öster­reich lei­det unge­fähr eine Mil­lion Men­schen daran; Frauen zwi­schen 20 und 50 Jah­ren sind drei­mal häu­fi­ger betrof­fen als Män­ner. Unge­fähr 75 Pro­zent der Betrof­fe­nen haben ein bis drei Migrä­ne­at­ta­cken im Monat. „Ein bis vier Pro­zent lei­den sogar täg­lich an Kopf­schmer­zen“, bestä­tigt Sebas­tian Eppin­ger, Lei­ter der Kopf­schmerz­am­bu­lanz der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Graz. „Es ist eine Volks­krank­heit, aller­dings ist der Groß­teil der Pati­en­ten maß­geb­lich unter­ver­sorgt oder kommt gar nicht zum Arzt“, sagt Eppin­ger. Und wei­ter: „Nur ein Bruch­teil wird vom Neu­ro­lo­gen oder in Spe­zi­al­am­bu­lan­zen betreut.“ Auch in der Akut­be­hand­lung wür­den nur 0,4 bis ein Pro­zent der Pati­en­ten mit Trip­ta­nen behandelt. 

Jede Migrä­ne­at­ta­cke bedeu­tet eine Ein­schrän­kung der Lebens­qua­li­tät. „Wenn jemand regel­mä­ßig meh­rere Tage lang einen Migrä­ne­an­fall hat, dann ist natür­lich die Angst vor dem nächs­ten da. Der Pati­ent hat Stress durch die Angst. Stress ist ein wesent­li­cher Trig­ger der Migräne“, erklärt Gabriele Mor­gen­stern von der Gail­tal­kli­nik Her­ma­gor. „Vor allem bei Kin­dern sind Über­las­tung und Stress auf­grund des Lern­pen­sums und der diver­sen Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten haupt­säch­li­che Aus­lö­ser“, sagt Mor­gen­stern. Die Kin­der kom­men des­we­gen nicht mehr dazu, sich zu ent­span­nen. „Jetzt in der Pan­de­mie ist das ein beson­de­res Pro­blem, vor allem wenn es eine fami­liäre Prä­dis­po­si­tion gibt.“ Bei Kin­dern sollte ins­be­son­dere bei Kla­gen über all­ge­mei­nes Unwohl­sein oder Bauch­schmer­zen eine Ana­mnese gemacht werden. 

Pati­en­ten, die beson­ders schwer von Migräne betrof­fen sind, sollte außer­dem eine psy­cho­lo­gi­sche Schmerz­be­glei­tung emp­foh­len wer­den. „Damit federt man den Pati­en­ten auf psy­chi­scher Ebene ab. Man darf nicht über­se­hen, dass Migrä­ne­pa­ti­en­ten ein zwei- bis 2,5‑fach erhöh­tes Risiko für eine Depres­sion oder eine Angst­stö­rung haben“, sagt Eppin­ger. Die Angst vor der nächs­ten Atta­cke „aus dem Nichts“ führe zum immer stär­ke­ren Rück­zug und könne in der Depres­sion enden. „Es ist die­ser Teu­fels­kreis, auf den man den Pati­en­ten anspre­chen und aus dem man ihm her­aus­hel­fen muss“, sagt Eppinger. 

Ent­span­nung als Prophylaxe

In den Leit­li­nien zur Migrä­ne­the­ra­pie und Migrä­ne­pro­phy­laxe wer­den häu­fige Migrä­ne­at­ta­cken und Migrä­ne­at­ta­cken mit star­ken Beschwer­den oder Aura als Vor­aus­set­zung für eine medi­ka­men­töse und nicht-medi­ka­men­töse The­ra­pie fest­ge­schrie­ben. „Eine Pro­phy­laxe ist indi­ziert, wenn die Lebens­qua­li­tät des Pati­en­ten ein­ge­schränkt ist“, sagt Eppin­ger. Dies gelte bei einer Fre­quenz von drei oder mehr Atta­cken im Monat bezie­hungs­weise bei Atta­cken mit einer Dauer von 72 Stun­den und mehr. „Vor The­ra­pie­be­ginn benö­tigt man eine genaue Ana­mnese, vor allem um den Belas­tungs­grad des Pati­en­ten zu ken­nen und um mul­ti­fak­to­ri­ell behan­deln zu kön­nen“, sagt Mor­gen­stern. Für die Behand­lung selbst ste­hen zahl­rei­che Optio­nen von der Schul­me­di­zin, über die Aroma‑, Phy­sio- und Psy­cho­the­ra­pie bis hin zu Ent­span­nungs­übun­gen zur Ver­fü­gung. „Wich­tig ist ein guter Tages­rhyth­mus mit einem defi­nier­ten Tages­pen­sum, um die Leis­tungs­grenze nicht per­ma­nent zu über­schrei­ten und Pau­sen zu haben“, so Mor­gen­stern. Ent­span­nungs­übun­gen und Aus­dau­er­sport soll­ten gezielt ver­ord­net und ange­bo­ten wer­den. Aus Stu­dien sei bekannt, dass sich die Sym­ptome bei bis zu 70 Pro­zent der Pati­en­ten, die regel­mä­ßig pro­gres­sive Mus­kel­re­la­xa­tion machen, verbessern. 

Pro­ble­ma­tisch: geringe Compliance 

Die klas­si­schen pro­phy­lak­ti­schen Phar­maka, die zum Ein­satz kom­men, stam­men aus der Gruppe der Anti­epi­lep­tika, Beta­blo­cker, Kal­zi­um­ka­nal­blo­cker, Anti­kon­vul­siva und Anti­de­pres­siva. „Viele der Arz­nei­mit­tel gehen mit unan­ge­neh­men Neben­wir­kun­gen ein­her. Daher ist die Adhä­renz auch nicht beson­ders gut“, so Eppin­ger. Stu­dien zufolge neh­men nach zwölf bis 18 Mona­ten nur noch 35 Pro­zent der Pati­en­ten ihre Arz­nei­mit­tel ein, sagt Eppin­ger. Und wei­ter: „Mit der Pro­phy­laxe wird eine zumin­dest 50-pro­zen­tige Reduk­tion der Anfalls­häu­fig­keit ange­strebt. Bei einem Pati­en­ten, der unter den Neben­wir­kun­gen lei­det, muss der Nut­zen gegen die Ein­schrän­kung der Lebens­qua­li­tät durch die Atta­cken abge­wo­gen wer­den.“ Mor­gen­stern ver­zeich­net seit eini­ger Zeit mit einem „Zufalls­be­fund“, wie sie es bezeich­net, sehr gute Erfolge bei Migrä­ne­pa­ti­en­ten: „Bei Pati­en­ten, die sich mit Botu­li­num­to­xin Fal­ten unter­sprit­zen lie­ßen, haben sich die Migrä­ne­at­ta­cken deut­lich ver­rin­gert. Seit­her spritze ich alle drei Monate Botu­li­num­to­xin in kleins­ten Men­gen in Kopf und Nacken.“ Ergeb­nis: Bei den Betrof­fe­nen hat sich die Zahl der Migrä­ne­tage um die Hälfte redu­ziert, womit die glei­che Wirk­sam­keit wie bei der The­ra­pie mit mono­klon­a­len Anti­kör­pern erzielt wer­den könne, so die Expertin.

Mono­klon­ale Anti­kör­per: gute Wirkung

Mono­klon­ale Anti­kör­per gegen den Cal­ci­to­nin Gene-Rela­ted Pep­tide (CGRP)-Rezeptor (Eren­umab) oder gegen CGRP selbst (Gal­ca­ne­zu­mab, Fre­ma­ne­zu­mab) wur­den spe­zi­fisch für Migräne ent­wi­ckelt. „CGRP ist ein poten­ter Vaso­dila­ta­tor, wel­cher im Rah­men eines Herz­in­fark­tes oder Schlag­an­falls ver­mehrt aus­ge­schüt­tet wird im Sinne eines res­cue Pro­te­ins. CGRP wird zudem in tri­ge­mi­na­len Gan­glia gebil­det und ist ein zen­tra­ler Bestand­teil der Über­tra­gung von Schmerz­rei­zen“, sagt Eppin­ger. Und wei­ter: „Sie zei­gen eine sehr gute Wir­kung in der Migrä­ne­pro­phy­laxe mit einer 50-pro­zen­ti­gen Ver­rin­ge­rung der Atta­cken bei 40 bis 50 Pro­zent der Pati­en­ten bei zugleich sehr guter Verträglichkeit“.Die Pati­en­ten­zu­frie­den­heit sei eben­falls sehr hoch, was die mono­klon­a­len Anti­kör­per „zum opti­ma­len Arz­nei­mit­tel“ mache. „Ein wei­te­rer Vor­teil ist, dass der Pati­ent nicht täg­lich ein Prä­pa­rat ein­nimmt, son­dern nur ein­mal im Monat bezie­hungs­weise alle drei Monate selbst sub­ku­tan sprit­zen muss“, erklärt Eppinger. 

Die Ver­ord­nung von mono­klon­a­len Anti­kör­pern erfolgt durch den Fach­arzt für Neu­ro­lo­gie, nach­dem doku­men­tiert wurde, dass keine andere Pro­phy­laxe ziel­füh­rend war oder bei Kon­tra­in­di­ka­tio­nen. Nach drei Mona­ten wird kon­trol­liert, ob eine Reduk­tion der Atta­cken um die Hälfte erreicht wurde; dann erst erfolgt die wei­tere Ver­ord­nung – unter „beson­de­rer Berück­sich­ti­gung der Lebens­qua­li­tät“, wie Eppin­ger betont. Denn: „Eine 50-pro­zen­tige Reduk­tion der Migrä­ne­tage ist in vie­len Fäl­len, ins­be­son­dere bei Pati­en­ten mit chro­ni­scher Migräne, nicht rea­lis­tisch“. Wich­tig sei in die­sen Fäl­len viel­mehr, dass es zu einer Abnahme der Migrä­ne­tage komme und die ein­zel­nen Atta­cken auch mil­der ver­lau­fen, wodurch die Akut­me­di­ka­tion auch bes­ser wirk­sam werde. Es wird emp­foh­len, nach einem Jahr eine The­ra­pie­pause ein­zu­le­gen. Wie die Exper­ten aus der Pra­xis berich­ten, habe sich jedoch gezeigt, dass sich der Zustand nach dem Abset­zen der Anti­kör­per­the­ra­pie sofort wie­der ver­schlech­tert. Mit die­ser The­ra­pie haben nach der zwei­ten Kon­trolle nach neun Mona­ten etwa zwei von zehn Pati­en­ten einen sta­bi­len Zustand erreicht und kön­nen auf eine andere The­ra­pie umge­stellt werden.

Posi­ti­ver Ein­fluss der Schwangerschaft

Zwi­schen 50 und 80 Pro­zent der Schwan­ge­ren berich­ten über eine Abnahme der Migrä­ne­at­ta­cken in der Schwan­ger­schaft; bei unge­fähr acht Pro­zent kommt es zu einer Zunahme der Kopf­schmer­zen. Tritt eine Migräne in der Schwan­ger­schaft erst­ma­lig auf, ist eine Migräne mit Aura wahr­schein­li­cher. Pro­phy­lak­tisch soll­ten schwan­gere Migrä­ne­pa­ti­en­tin­nen aus­lö­sende Trig­ger ver­mei­den und pri­mär auf nicht-medi­ka­men­töse Ansätze wie Ent­span­nungs­ver­fah­ren oder Bio­feed­back set­zen. „Bis zur 30. Schwan­ger­schafts­wo­che kann Ibu­profen ver­ab­reicht wer­den“, sagt Mor­gen­stern. Von der intra­ve­nö­sen Gabe von Magne­sium wird in den aktu­el­len Leit­li­nien auf­grund mög­li­cher Kno­chen­schä­den beim Fötus abgeraten. 

Bei der men­struell beding­ten Migräne – vor allem bei jun­gen Frauen mit einem regel­mä­ßi­gen Zyklus – ist eine Inter­ven­tion gut mög­lich. Mor­gen­stern dazu: „Als Kurz­zeit­pro­phy­laxe kann die Gabe von Napro­xen oder einem Trip­tan mit lan­ger Halb­werts­zeit ange­dacht wer­den“. Dabei wird zwei Tage vor dem erwar­te­ten Ein­set­zen der Migräne mit der Ein­nahme begon­nen und für ins­ge­samt unge­fähr eine Woche lang fort­ge­setzt. Bei Kin­dern erfolgt die Pro­phy­laxe pri­mär nicht-medi­ka­men­tös über Sport oder mit ver­hal­tens­the­ra­peu­ti­schen Maß­nah­men. „Kin­dern sollte pri­mär Par­acet­amol ver­schrie­ben wer­den“, sagt Mor­gen­stern. (MCW)

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 6 /​25.03.2021