Lockdown und Demenz: Soziales Netzwerk schützt

10.04.2021 | Medizin


Soziale Interaktion – vor allem das Gespräch – aktiviert Menschen mit Demenz kognitiv stärker als passive Unterhaltung durch Fernsehen oder Radio. Nicht nur das: Das soziale Netzwerk schützt vor Depression – und Depression ist ein Risikofaktor für Demenz.
Sophie Fessl

Soziale Kontakte sind eine wichtige Ressource für Menschen mit Demenz. „Isolation und die Vermeidung von Kontakt wirken sich auf Menschen mit Demenz auf kognitiver, sozialer und emotionaler Ebene sehr schlecht aus“, berichtet Priv. Doz. Michaela Defrancesco von der Universitätsklinik für Psychiatrie I der Medizinischen Universität Innsbruck.

In zwei größeren Longitudinal-Studien wurde der Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Demenz untersucht: im Kungsholmen-Projekt in Schweden und im Rush Memory and Aging Project in den USA, berichtet Univ. Prof. Peter Fischer von der Psychiatrischen Abteilung der Klinik Donaustadt in Wien. Im Kungsholmen-Projekt wurde das soziale Netzwerk der Personen über den Verlauf erfasst. „Hier zeigte sich, dass das soziale Netzwerk vor Demenz schützt. Im Verhältnis zu den sozial sehr aktiven und verheirateten Menschen hatten Menschen, die allein leben und isoliert waren, ein doppelt so hohes Demenzrisiko.“

Auch das Rush Memory and Aging Project zeigte, dass das Ausmaß der Einsamkeit stark korreliert mit dem Risiko, eine Demenz zu entwickeln. Dieses Projekt untersuchte auch neuropathologische Daten von Personen mit Demenz. Dabei zeigte sich, dass einsamere Personen nicht mehr Alzheimer-Läsionen aufweisen, erläutert Fischer. „Das verwundert allerdings nicht, da die Einsamkeit nicht direkt die Entstehung von Plaques oder neurofibrillären Bündeln fördert, sondern auf den Kompensationsprozess einwirkt. Soziale Interaktion hilft, Defizite zu kompensieren.“

Diese Kompensationsprozesse fallen vor allem dann auf, wenn sie wegbrechen – etwa durch den Tod des Partners, berichtet Defrancesco aus der Praxis. „Defizite treten meist dann zu Tage, wenn der Partner verstirbt, zu diesem Zeitpunkt erfolgt häufig die Erstabklärung einer Demenz.“ Besonders im Anfangsstadium der Demenz übernehme oft der Partner viele Alltagstätigkeiten und Verantwortlichkeiten. Mit dem Tod eines Partners fällt dann die Kompensation aber weg und Defizite werden klinisch relevant.

Soziale Kontakte sind aber auch eine wichtige Ressource für Menschen mit Demenz, um sie emotional zu aktivieren. „Menschen mit Demenz können Sozialkontakte im Krankheitsverlauf nicht mehr eigeninitiativ gestalten und planen“, erläutert Defrancesco. „Aber die emotionale Stimulation, der Austausch und die Diskussion mit anderen sind wichtig, auch um Ängste abzubauen und die Sichtweise zu verändern.“ Die Interaktion, vor allem das Gespräch, ist auch ein kognitives Training, das Menschen mit Demenz kognitiv stärker aktiviert als passive Unterhaltung durch Fernseher oder Radio. Das Zuhören, Erfassen und Verarbeiten der gehörten Information seien wichtige Faktoren, die bei einer passiven Unterhaltungsform wegfallen. „Geis-tige Aktivierung kann auch anders geschehen, etwa über Klavierspielen oder Trainingsprogramme. Aber die typischste Aktivierung des Gehirns ist die soziale Interaktion, dafür ist unser Gehirn gemacht“, betont auch Fischer.

Wenig untersucht ist bisher, ob sich soziale Isolation direkt auf die Demenz auswirkt. „Wir wissen aus epidemiologischer Forschung, dass das soziale Netzwerk vor Depression schützt und Depression ein Risikofaktor für Demenz ist“, erläutert Fischer. „Ob sich soziale Isolation direkt auf die Demenz auswirkt, ohne Umweg über eine generalisierte Angststörung oder Depression, ist nicht klar.“ Defrancesco beobachtet, dass der Effekt der Isolation von der Resilienz und der Persönlichkeit abhängt, aber auch von der Ätiologie der dementiellen Erkrankung und der Lebenssituation: Während manche Patienten depressiv reagieren, werden andere aggressiv und verweigernd.

In vielen Fällen wurde versucht, das Wegfallen von persönlichen Gesprächen und Kontakten während der Lockdowns durch Telefonate und Videotelefonie zu ersetzen. Allerdings sind diese Gesprächsformen besonders für Menschen mit Demenz nur bis zu einem gewissen Grad ein Ersatz. „Mimik und emotionale Reaktion sind für Menschen mit Demenz extrem wichtig, um das Gegenüber einzuschätzen“, sagt Defrancesco. „Auch das haptische, den anderen an der Hand zu nehmen und Trost zu spenden, ist natürlich über Video nicht möglich.“

Auswirkungen hat Defranceso vor allem bei Menschen beobachtet, die nicht mehr zuhause wohnen und ihre Angehörigen im ersten Lockdown nicht sehen konnten. „Patienten mit mittelgradiger Demenz haben ihre Enkelkinder nach dem Lockdown nicht mehr erkannt, wussten ihre Namen nicht mehr. Angehörige berichteten, dass es den Patienten sowohl psychisch als auch kognitiv nicht gut ging.“ In Studien möchte Defrancesco diese Beobachtungen nun objektivieren. „In der Demenz heißt es: Use it or lose it. Was nicht täglich aktiviert wird, geht schnell verloren. Durch den Lockdown brach ein Element weg, das möchten wir nun in Studien erfassen.“ In einem Positionspapier der Österreichischen Alzheimer-Gesellschaft, dessen Erstautorin Defrancesco ist, wurden erste Auswirkungen des Lockdowns auf Menschen mit Demenz dokumentiert. „Demenz ist im Zusammenhang mit den Schließungen nur wenig thematisiert worden. Daher wollten wir verschriftlichen, welche Daten es für diese Hochrisikogruppe gibt und wie man mit den Auswirkungen gut umgehen kann.“

Die Auslastung der psychiatrischen Abteilung in der Klinik Donaustadt hat im Jahr 2020 nicht zugenommen, berichtet Fischer. „Aber das Leid äußert sich nicht in Inzidenzzahlen, es äußert sich am Menschen.“ Um den Wegfall der Besuchsmöglichkeit im Spital zu kompensieren, ermöglicht Fischer an der von ihm geleiteten Abteilung den Ausgang mit Antigen-Tests. „Im Spital ist kein oder nur ein eingeschränkter Besuch möglich. Wir möchten so den negativen Auswirkungen der Isolation vorbeugen.“

Als Hilfestellung im ersten Lockdown, als viele ältere Menschen nicht mehr das Haus verließen, informierte Defrancesco „ihre“ Patienten, wie sie mit der Situation umgehen können. „Eine gute Tagesstruktur und Routine sind wichtig mit einer genauen Einteilung der Aktivitäten und Verpflichtungen. Und den Angehörigen haben wir dazu geraten, die Patienten mit Demenz proaktiv zu kontaktieren, da viele Patienten es in dieser Situation nicht mehr selbst können.“ Um die Kontaktmöglichkeit zu stärken, rät Fischer dazu, in Frühphasen der Demenz ein Haustier anzuschaffen, wodurch eine körperliche Aktivierung und die Entstehung sozialer Kontakte gefördert werden. „Wenn Pflegebedarf besteht, sehen wir auch, dass ein intensiver Kontakt – etwa mit 24-Stunden-Pflegepersonal – einen günstigen Effekt auf den Verlauf hat.“

Um künftig Menschen mit Demenz vor ähnlichen Situationen wie im ersten Lockdown zu bewahren, rät Defrancesco dazu, älteren Menschen schon früh die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation näher zu bringen und sie dahingehend zu sensibilisieren. „Diejenigen, die mit Videotelefonie schon vertraut waren, hatten einen Vorteil in der Krise. Wir haben eine digitale Welt und es wäre günstig, ältere Menschen im Umgang damit zu schulen.“

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2021