Kindlicher Bauchschmerz: Von trivial bis lebensbedrohlich

10.04.2021 | Medizin


Ein funktioneller Bauchschmerz kann nur vorliegen, wenn kein Alarmzeichen vorhanden ist, betonen Experten. Gastrointestinale Symptome sind auch beim Multi-System Inflammatory Syndrome in Children, das im Anschluss an eine SARS-CoV-2 Infektion auftreten kann, häufig.
Sophie Fessl

In der industrialisierten Welt suchen 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zumindest einmal wegen Bauchschmerzen, die länger als zwei Monate andauern, einen Arzt auf“, berichtet a.o. Univ. Prof. Almuthe Hauer von der Klinischen Abteilung für Allgemeine Pädiatrie der Medizinischen Universität Graz. Die Schwierigkeit in der Behandlung des kindlichen Bauchschmerzes beruht auf dem Spektrum an Ursachen, die den Symptomen zugrunde liegen können. „Häufig hat der Bauchschmerz triviale Gründe, aber die Ursachen können auch lebensbedrohlich sein.“

Es kommt vor, dass bei Kindern und Jugendlichen, die wegen Bauchschmerz vorstellig werden, trotz umfangreicher Untersuchung keine offensichtlich organische Ursache festgemacht werden kann, und sie definitionsgemäß an funktionellen Magen-Darm-Beschwerden leiden. „Wesentlich ist daher zu unterscheiden, ob sich ein Kind in einem alarmierenden Zustand befindet oder nicht, und keine organische Ursache für die Symptome zu übersehen“, betont Hauer.

Univ. Prof. Alexander Rokitansky von der Abteilung für Kinder- und Jugendchirurgie an der Klinik Donaustadt in Wien zählt mehrere Warnzeichen bei Bauchschmerzen auf, die auf eine ernsthafte Grunderkrankung hindeuten. „Klopfempfindlichkeit, Erschütterungsschmerz sowie galliges Erbrechen sind Zeichen, die auf eine ernstere Situation hinweisen.“ Weitere Zeichen sind nächtliche Schmerzen, durch die das Kind aufwacht, persistierende Schmerzen, die zur Unterbrechung von Lieblingsaktivitäten wie Sport oder Spiel führen, sowie wässriger Durchfall, persistierendes Erbrechen, Melaena, tagelange undulierende Fieberzustände, Schluckprobleme, Gelenksschmerzen, Gewichtsverlust sowie Wachstumsverzögerungen und auch Hinweise auf eine auffallende Pubertätsverzögerung. „Ein funktioneller Bauchschmerz kann nur vorliegen, wenn keines dieser Alarmzeichen vorhanden ist“, betont Hauer. „Je nach individueller Problematik kann aber eine weiterführende Diagnostik sinnvoll sein, um organische Ursachen auszuschließen, denn das differentialdiagnostische Spektrum ist höchst vielgestaltig: vom beginnenden Harnwegsinfekt bis zur Milchzucker-Intoleranz.“  

Der erste Schritt bei der Diagnostik ist laut Rokitansky die ausführliche Anamnese und Beobachtung des Kindes: Kommt das Kind selbstständig in die Ordination? Läuft es vielleicht sogar herum oder wird es getragen? Sitzt es normal oder nimmt es eine Schonhaltung ein? Ist das Kind interessiert oder apathisch? „Für die klinische Untersuchung von Kindern sollte man sich jedenfalls ausreichend Zeit nehmen und eine vorsichtige Abtastung und Perkussion des Bauches versuchen“, berichtet Rokitansky aus der Praxis. Vor allem die vorsichtige seitenvergleichende Palpation der Bauchdecke kann Aufschluss über eine reflektorische einseitige Abwehrspannung (Defense) geben, deren Ursache abgeklärt werden muss. Auf die Messung der rektal-axillären Temperaturdifferenz, als Hinweis auf eine Appendicitis, wird heute in der Regel verzichtet. Die klinische Untersuchung sollte gegebenenfalls durch eine Prüfung des erbrochenen Mageninhalts beziehungsweise eine Stuhlinspektion ergänzt werden: Himbeergelee-Stuhl etwa weist auf eine Darm-Invagination hin, Melaena auf Colitis, hellrote Blutauflagerungen auf Rhagaden, Fissuren oder einen Darmpolypen.

Diese klinische Untersuchung wird neben dem vorrangigen Ultraschall durch Routinelaboruntersuchungen ergänzt mit einer Bestimmung des Blutbilds, der Elektrolyte und des C-reaktiven Proteins sowie gegebenenfalls einer wertsummierenden Blutgasanalyse (Hämoglobin, Hämatokrit, pH, pO2, pCo2, HCO3, Base-Excess, Laktat, Elektrolyte, Glukose,….) einer Bestimmung der Leber- und Nierenwerte und einer Harnuntersuchung. Amylase und Lipase sollten ebenfalls bestimmt werden. „Vor allem wenn ein Kind seit einem Sturz über Bauchschmerzen klagt, könnte es durch den Sturz zu einem Trauma oder einer Quetschung der Bauchspeicheldrüse gekommen sein – klassisch durch den Lenker des Dreirades beziehungsweise des Rollers oder des Fahrrades.“ Stuhlkeime sollten per PCR-Testung untersucht werden, da diese pathogene Stuhlkeime besser erfasst als eine herkömmliche Stuhlkultur. Auch Calprotectin sollte bestimmt werden, da damit inzipiente chronisch entzündliche Darmerkrankungen detektierbar sind.

Zum minimalen diagnostischen Programm, das im ambulanten Bereich jedenfalls durchgeführt werden kann, zählt für Hauer die Harnuntersuchung, eine Stuhluntersuchung auf Wurmeier, okkultes Blut und Calprotectin. Auch eine Analyse des Blutbilds inklusive Bestimmung von Entzündungswerten gehören dazu. Eine umfangreichere Laboranalytik ergibt sich aus der Eigen- und Familienanamnese, u.a. auch dann, wenn bei Verwandten ersten Grades ein Magen- oder Zwölffingerdarm-Geschwür, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen oder Zöliakie bekannt sind.

Außerdem sollte ein genaues Symptom- und Ernährungsprotokoll über mindestens drei Tage geführt werden. Dieses liefert häufig Aufschluss über die Ursache der Bauchschmerzen, weiß Hauer. „Wenn wir Umgebungsfaktoren, Ernährung und Symptome korrelieren, finden wir oft einen Auslöser. Wir sehen etwa, ob Bauchschmerzen immer montags auftreten und nie in den Ferien, oder ob eine Empfindlichkeit auf Sorbit vorliegt, sich jemand nicht ausreichend Zeit nimmt zum Essen, oder eine Milchzuckerunverträglichkeit die Symptome auslösen könnte.“  

Wird keine organische Ursache gefunden, handelt es sich beim Bauchschmerz um eine funktionelle Störung. Standardisierte Diagnosekriterien für funktionelle Magen-Darm-Störungen liegen mittlerweile in der vierten überarbeiteten Version als Rom-IV-Kriterien vor. Innerhalb der funktionellen Magen-Darm-Störungen wird zwischen zwei Altersgruppen unterschieden: einerseits Säuglinge und Kleinkinder bis zum vierten Lebensjahr, andererseits Kinder und Jugendliche zwischen vier und 18 Jahren. Innerhalb dieser Altersstufen gibt es weitere Verteilungen und Klassifizierungen. „Allein bei Neugeborenen wird zwischen sieben funktionellen Erkrankungen wie zyklischem Erbrechen oder funktioneller Verstopfung unterschieden. Bei den Kleinkindern gibt es, nur um die Schmerzproblematik kreisend, fünf verschiedene Erkrankungsgruppen wie die funktionelle Dyspepsie oder die abdominelle Migräne.“ Auch hier kann ein Symptomkalender Aufschluss über Auslöser geben. Die Ursache der funktionellen Magen-Darm-Störungen ist bisher unbekannt. „Eine Überempfindlichkeit die Nervenversorgung in der Darmwand betreffend liegt einer der Theorien zugrunde.“ Als Therapie werden daher auch entspannende Maßnahmen empfohlen wie Yoga oder Bauchhypnose.

Häufige Ursache: Koliken

Als häufigste organische Ursachen für chronische Bauch-
schmerzen bei Kindern unter zwei Jahren führt Hauer Koliken sowie nicht-erkannte Obstipation an. „Es ist noch immer nicht bekannt, welche Ursache Koliken haben. Man denkt, es ist ein Reifungsproblem, das zu einem ‚empfindlichen Darm‘ führt. Leider können Koliken nicht immer gut beeinflusst werden, allerdings wachsen sie sich in der Regel aus.“ Chronische Bauchschmerzen stellen sich auch häufig als nicht-erkannte Obstipation heraus, die mit Polyethylenglykol gut behandelbar ist. Bei hartnäckiger Obstipation sollte man den Schließmuskelapparat mittels Anal-Endosonografie untersuchen und prüfen, ob Analfissuren vorliegen. Bei einer atypischen Verdickung des inneren Schließmuskels empfiehlt sich die ultraschallgezielte intrasphinktäre Injektion von Botulinumtoxin A, so Rokitansky. Bei älteren Kindern steht weiterhin die Obstipation im Vordergrund, aber auch Gastritis, Zöliakie und chronisch entzündliche Darmerkrankungen.

Die häufigste Erkrankung mit Bauchschmerz-Symptomatik, aufgrund derer Patienten chirurgisch vorstellig werden, ist laut Rokitansky die Appendicitis. Bei extrem Frühgeborenen und gegebenenfalls Säuglingen sind häufige Auslöser von Bauchschmerz eine nekrotisierende Enterocolitis, der Mekoniumileus, eine inkarzerierte Leistenhernie, Choledochuszyste, abdominelle Missbildungen sowie die Darminvagination, die auch im Kleinkindalter auftritt. Bei Kleinkindern treten neben Invagination auch Meckel’sche Divertikulitis, schnell wachsende Tumore, Harnwegsinfekte, Analfissuren und Koprostasen auf. Bei Schulkindern und Jugendlichen stehen Appendicitis, Bauchtrauma, Cholelithiasis, Pankreatitis sowie entzündliche Darmerkrankungen im Vordergrund.

Außerdem sollte auch eine Ausstrahlung von Schmerzen in den Bauchraum beachtet werden, betont Rokitansky. „Gerade bei Kleinkindern kann bei Harnwegsinfekten die abdominelle Symptomatik im Vordergrund stehen, da sie die Lokalisation nicht so gut differenzieren können.“ Auch eine rechtsbasale Pneumonie könne bis in den rechten Unterbauch ausstrahlen. Bei jugendlichen Mädchen muss auf jeden Fall eine Ovarialpathologie ausgeschlossen werden wie eine Ovarialtorsion oder große Follikelzysten. Bei Buben kann eine Hodentorsion bis in den Bauchraum ausstrahlen; vor allem bei Bauchschmerzen nach Sport muss daher auch eine Hodentorsion ausgeschlossen werden.

Sonographie zur weiteren Abklärung

Bei der Abklärung kommen nach der klinischen Untersuchung und dem Labor bildgebende Verfahren zum Einsatz. „Der Ultraschall ist das Stethoskop in der Kinderchirurgie“, erklärt Rokitansky. „Wir versuchen zunächst, mit Zuwendung den Patienten dazu zu bringen, die entsprechende Compliance für eine klinische Untersuchung aufzuweisen. Gelingt das nicht, so können wir im Ultraschall auch viele indirekte Erkrankungszeichen erkennen.“ Die Sonographie steht im Vordergrund und erlaubt die Beurteilung der parenchymatösen Organe, der ableitenden Harnwege, der Peristaltik sowie des Appendix. Strukturelle Auffälligkeiten (zum Beispiel Appendix mit einem Durchmesser größer als sieben Millimeter), freie Flüssigkeit zwischen den Darmschlingen, eine Lymphadenitis mesenterialis oder auch eine Invagination des Darms können so abgeklärt werden.

Schlussendlich werden invasive diagnostische beziehungsweise bereits auch therapeutische Vorgehensweisen eingesetzt. „Endoskopie, Laparoskopie und schließlich die Laparotomie geben Aufschluss über die Ursache, erlauben aber auch therapeutische Aktionen. So können etwa Ovarialzysten gefenstert oder ausgeschält werden“, führt der Experte weiter aus.

Auch in der Kinder- und Jugendchirurgie wird mittlerweile eine COVID-Problematik beobachtet, berichtet Rokitansky. „Beim Multi-System Inflammatory Syndrome in Children, kurz MIS-C, das im Anschluss an eine SARS-CoV-2 Infektion auftreten kann, sind gastrointestinale Symptome durchaus häufig.“ Im Jahresvergleich der am Donauspital behandelten Blinddarmentzündungen hat sich gezeigt, dass sich die Diagnose der perforierten Blinddärme zwischen 2020 und 2019 verdoppelt hat und die gangränösen Blinddarmentzündungen um 20 Prozent häufiger aufgetreten sind. „Das ist unabhängig von der prästationären Phase. Der Grund ist also nicht, dass Kinder im Rahmen der Pandemie später ins Spital kommen. Wir denken, dass sehr wohl ein Konnex zur sich entwickelnden immunologisch bedingten Entzündung der kleinen Gefäße besteht.“ Bei Bauchschmerzen rät Rokitansky daher, medizinisch rasch zu handeln. „Man sollte Eltern nicht zum Zuwarten raten, sondern derzeit dazu, eine Institution aufzusuchen, wo eine rasche Abklärung stattfinden kann.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2021