Interview Michael Musalek: Ent-Solidarisierung durch Corona

17.08.2021 | Medizin

Durch die Corona-Pandemie ist es nicht nur zu einer Ent-Solidarisierung gekommen – generell zeigt sich bei jedem Zweiten erhöhte Reizbarkeit. Besonders bei Beziehungsproblemen fungiert die Pandemie als Brandbeschleuniger, sagt Psychiater Univ. Prof. Michael Musalek im Gespräch mit Manuela-C. Warscher.

Wie sieht es mit den psychischen Spät- und Langzeitfolgen bei Erwachsenen nach der Corona-Pandemie aus? In Bezug auf Post-Corona-Folgen lassen sich drei Gruppen unterscheiden. Zunächst jene Personen, die durch die Pandemie wirtschaftliche Probleme erlitten haben, deren volle Auswirkung erst noch kommen wird. Diese wirtschaftlichen Problematiken führen in weiterer Folge zu psychosozialen Problemen. Die zweite Gruppe umfasst jene Menschen, die bereits vor der Pandemie mit psychischen Problemen zu kämpfen hatten, wo die Pandemie sozusagen ein Brandbeschleuniger war. Das sehen wir vor allem bei Beziehungsproblemen. In diese Gruppe fallen aber auch jene Personen, deren psychischer Zustand sich erst aufgrund der Pandemie entwickelte. Schließlich fallen in die dritte Gruppe Genesene, die an den eigentlichen Corona-Spätfolgen wie Erschöpfung, Gereiztheit und Depressionen leiden.

Wie stark ist hier die Überschneidung dieser Gruppen? Weniger stark als gedacht. Wir haben im Mai 2020 die psychischen Zustände von Personen untersucht und festgestellt, dass je ein Viertel der Bevölkerung psychisch beziehungsweise wirtschaftlich belastet war. Die Überschneidung lag bei etwas mehr als zehn Prozent. Eine Nachuntersuchung im Februar und März 2021 hat nun gezeigt, dass bereits ein Drittel psychische Belastungen aufweist, während der Anteil der wirtschaftlich Belasteten unverändert bei einem Viertel liegt. Die wirtschaftlichen Folgen werden allerdings wahrscheinlich erst in einem Jahr zum manifesten Problem, dessen Ausmaß aufgrund der derzeit unklaren allgemeinen Wirtschaftsentwicklung sehr schwer abschätzbar ist. Je massiver das individuelle wirtschaftliche Desaster dann ausfällt, umso größer wird die Überschneidungsfläche werden.

Wie sieht die Verteilung dieser Stimmungen oder Krankheitsbilder aus? In unserer Nachuntersuchung vom Februar/März 2021 konnten wir nachweisen, dass ungefähr 50 Prozent eine erhöhte Reizbarkeit aufweisen. Bei rund 30 Prozent wurde eine erhöhte Gereiztheit eruiert, wo banale Reize, die normalerweise nicht zu einem aggressiven Verhalten führen, nun in Aggression münden. Und immerhin wies ein Fünftel eine gereizte Missgestimmtheit auf. Diese Personen sind auch ohne vorhandene Reize schon gereizt. Das alles ist das Resultat der Überforderung durch ein Zusammenspiel aus Home-Schooling, Pflege von Angehörigen und Home-Office auf wenigen Quadratmetern.

Gibt es Gruppen, die besonders stark unter psychischen Langzeitfolgen leiden oder leiden werden? Eine Krisensituation ist der plötzliche Einbruch des gewohnten Lebens, für die uns die Bewältigungsstrategien fehlen. Menschen, die sich in einer permanenten Krise befinden, sind daher auch – zumindest kurzfristig – resilienter. Darunter fallen primär chronisch psychisch Erkrankte. Alle anderen, die bereits vorher psychische Probleme aufwiesen, werden natürlich in einer Krise stärker belastet. Besonders für Beziehungsprobleme stellte sich die Pandemie als Brandbeschleuniger heraus. Die Folgen der nun folgenden psychosozialen Krise werden uns die nächsten ein bis zwei Jahre beschäftigen.

Welche Symptome werden Allgemeinmediziner verstärkt sehen? Grundsätzlich müssen wir eine wesentlich größere Sensibilität für psychosoziale Probleme entwickeln, um sie nicht zu übersehen oder fehlzuinterpretieren. Allgemeinmediziner werden zunehmend Symptome aus drei Clustern sehen: Zunächst jene aus dem Angst-Cluster, der nicht übersehen werden kann, weil Patienten die Angst in der Regel vor sich hertragen. Dann Personen mit erhöhter Reizbarkeit und Aggressivität. Diese Symptome werden häufig missinterpretiert, weil diese Personen als unangenehme oder böse Zeitgenossen abgetan werden. Bei mehr als 90 Prozent handelt es sich aber um eine chronische Überforderung, auf die wir tendentiell mit Gereiztheit reagieren und – je stärker diese ausfällt – mit aggressivem Verhalten am Arbeitsplatz oder häuslicher Gewalt. Der dritte Symptomcluster sind Depressionen, die am häufigsten übersehen werden, weil diese Menschen sehr still und zurückgezogen leben, dazu tendieren, die Schuld auf sich zu laden, sich als Versager zu sehen. Hier muss der Arzt mit der größtmöglichen Sensibilität agieren, um die Depression zu erkennen.

Welche therapeutischen Angebote sollten vonseiten der Allgemeinmediziner folgen? Nachdem nur zwischen 20 und 30 Prozent aller Depressionen erkannt werden, weil Patienten nicht über die Symptome sprechen, ist es dringend notwendig, aktiv nachzufragen – vor allem bei offensichtlichen Symptomen wie Freudlosigkeit, Schlaflosigkeit oder Appetitlosigkeit. Insgesamt ist eine genaue psychische Anamnese bei allen Patienten ratsam, um depressive Störungen nicht zu übersehen.

Wie gehen Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit möglichen psychischen Problemen um – vor allem nach dem monatelangen Home-Office? Natürlich hat das Home-Office zu einer massiven Verschiebung im Sozialverhalten geführt. Doch die Befürchtung der Arbeitgeber, dass im Home-Office zu wenig gearbeitet werden würde, ist nicht eingetreten. Im Gegenteil: Arbeitnehmer arbeiten seit vielen Monaten mehr, unstrukturierter und haben weniger Freizeit. Bewusst strapaziere ich jetzt nicht die Bezeichnung Work-Life-Balance, da sie suggeriert, dass Arbeit außerhalb unseres Lebens stattfinden würde. Das ist aber nicht richtig. Vielmehr ist Arbeit ein zentraler Lebensbestandteil und eine der essentiellsten Kraftquellen. Doch hat die empfindliche Reduktion der Freizeit dazu geführt, dass die Überarbeitung überhandnahm. Das muss der Arbeitgeber zur Kenntnis nehmen und den Weg zurück zu einer strukturierteren Arbeit aufzeigen. Denn Burnout ist nicht nur das Resultat von übermäßigem, sondern vor allem von unstrukturiertem Arbeiten beziehungsweise unstrukturierten Arbeitsverhältnissen.

Apropos Sozialleben: Die Gesellschaft wurde in den vergangenen Monaten zunehmend klassifiziert und in Gruppen eingeteilt. Was macht eine derartige Klassifizierung mit dem Individuum und der Gesellschaft? Das Problem ist, dass eine virale Krise von diesem Ausmaß immer zu einer psychosozialen Pandemie führt. Beziehungskrisen auf allen Ebenen – der individuellen, gesellschaftlichen und politischen – sind die Folge. Dadurch kommt es vermehrt zu einem Auseinanderdriften der einzelnen Gruppierungen. Um der Krise Herr zu werden, müssen wir daher gemeinsam dagegen vorgehen, der Einzelne ist machtlos. Anders ausgedrückt: Es braucht mehr Verständigung zwischen den einzelnen Gruppierungen. Derzeit leben wir jedoch in einer Schuldzuweisungs-Kultur, die die Probleme nicht zu lösen vermag. Ein Beispiel: Einfach zu sagen, die Impfgegner sind schuld, dass Impfungen nicht funktionieren, bringt nichts. Brandmarken ist wirkungslos, vielmehr sollte man sich mit den dahinterliegenden Gründen der Ablehnungshaltung beschäftigen. Teilweise werden diese Gründe nachvollziehbar sein, teilweise nicht. Was allerdings nicht bedeutet, dass man sich nur mit den einen oder den anderen beschäftigen muss. Nur sprechen und kommunizieren ermöglicht Veränderung.

Hat Corona aus der Gesellschaft also ein Einzelkämpfertum gemacht? Es kam zu einer Ent-Solidarisierungierung. Daher müssen wir zurück zur Solidarisierung finden. Durch die Gesellschaft ziehen sich Gräben: Viele wollen mit den anderen nichts mehr zu tun haben. Der Rückzug in den eigenen Graben ist sogar familienintern zu beobachten. Nicht zuletzt war das unrühmliche ‚social distancing‘ kontraproduktiv, weil zwar zur Bekämpfung des Virus körperliche Distanz benötigt wird, aber in jedem Fall Zusammenhalt wichtig ist. Übrigens kann die soziale Nähe zum anderen bei körperlicher Distanz am einfachsten durch ein Lächeln hergestellt werden …

Haben wir unsere Spontaneität eingebüßt? Der Mensch hat den großen Vorteil gegenüber allen anderen Lebewesen: Er ist keine Reaktionsmaschine, sondern kann selbst etwas ändern und tun. Eine Krise macht Funktionsuntüchtiges sichtbar und ist daher von jeher die Öffnung eines Weges zur etwas Besserem, eine Chance zur Verbesserung. Zudem birgt die Krise das Potential einer Neuorientierung oder Neu-Fokussierung, nämlich auf das Schöne. Es gibt das Schöne auch während der Krise, es wurde nur überschattet. Schönes ist für uns alle eine Kraftquelle – vor allem auch für die Herausforderungen im Herbst.

Welche positiven Aspekte aus der Pandemie können wir also mitnehmen? Vieles, was uns vertraut war, wurde schon lange nicht mehr als etwas Schönes wahrgenommen. Früher haben wir uns mit anderen getroffen, weil es nett war. Die ersten Treffen nach der langen Lockdown-Zeit hatten jedoch eine unglaubliche, noch nie empfundene Qualität. Ebenso hat der Gesundheitsaspekt eine neue Bedeutungsdimension erhalten. Menschen, die nichts falsch gemacht haben, die gesund waren, sind verstorben oder schwer krank auf der Intensivstation behandelt worden. Viele Genesene leiden unter chronischer Erschöpfung. Gesundheit hat plötzlich eine ganz andere, viel wichtigere Bedeutung. Sie wird als etwas Kostbares gesehen. Und schließlich: Vergessen wir nicht auf Beziehungen – vor allem auf analoge Beziehungen und das analoge Zusammensein. Beziehungen sind es in besonderem Maße wert, etwas dafür zu tun.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2021