Geriatrie & Pharmazie: Zwischen Über- und Unterversorgung

10.11.2021 | Medizin

Tritt bei multimorbiden über 65-Jährigen zusätzlich Frailty auf, beträgt die Lebenserwartung noch höchstens zehn Jahre. Stürze als Nebenwirkungen der Polymedikation sind mindestens ebenso problematisch wie die medikamentöse Unterversorgung etwa bei der Altersepilepsie. Und: Nahezu alle Bewohner von Alters- und Pflegeheimen sind bei der Aufnahme mangel- oder unterernährt.
Manuela-C. Warscher

Etwa ein Drittel der über 70-Jährigen leidet an zumindest fünf behandlungsbedürftigen Erkrankungen; bei den über 85-Jährigen sind es sogar 50 Prozent. In der Notaufnahme sind ältere Personen Hochrisikopatienten mit einer langen Aufenthaltsdauer und einer hohen Wahrscheinlichkeit für eine längere Hospitalisierung oder Institutionalisierung. Neben dem eigentlichen Lebensalter wirkt sich vor allem das biologische Alter signifikant auf Diagnosen und Therapien aus. Um es zu erfassen, bezeichnet ‚Frailty‘ ein über die Hinfälligkeit der Gebrechlichkeit hinausgehendes multidimensionales geriatrisches Syndrom. Es kennzeichnet eine erhöhte „Verletzbarkeit älterer Menschen gegenüber Sekundärereignissen“, so Univ. Prof. Regina Roller-Wirnsberger von der Abteilung für Innere Medizin der Medizinischen Universität Graz. Treffen Komorbiditäten und Frailty aufeinander, verringert dies die Lebenserwartung von Patienten zwischen 65 und 90 Jahren um bis zu zehn Jahre, wie rezente Studien belegen. Die frühestmögliche Erfassung von Frailty bei Betroffenem mittels geriatrischem Assessment bildet die Basis für das entsprechende Therapieangebot.

Somatische Sturz-Ursachen

Frailty geht häufig mit einem erhöhten Sturzrisiko und nachfolgendem Autonomieverlust einher, erklärt Roller-Wirnsberger. Ältere Personen selbst geben an, dass ihre Herzerkrankung (76 Prozent) sowie Seh- und Hörstörungen (65 Prozent) Risikofaktoren für einen Sturz seien. Letztlich haben 20 bis 30 Prozent dieser Stürze mittelschwere bis schwere Verletzungen zur Folge. Aus der Gangunsicherheit wird dann aus Angst vor bereits erlebten Stürzen eine selbst auferlegte Geiselhaft in den eigenen vier Wänden inklusive sozialer Isolierung und Vereinsamung. „Und Einsamkeit ist einer der stärksten Prädiktoren für einen raschen Tod“, so Roller-Wirnsberger. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist der Allgemeinmediziner im Sturzvermeidungs-Kontext besonders gefragt. Denn es gehe primär darum, die somatischen Ursachen für einen Sturz aufzudecken, erklärt Roller-Wirnsberger. „Wenn jemand in der Nacht stürzt, weil er im Dunkeln auf dem Weg zur Toilette nicht genügend gesehen hat, dann muss abgeklärt werden, warum der Patient inkontinent ist und wie nächtliches Herumirren vermieden werden könnte.“ Bei der nachfolgenden Intervention zur Sturzvermeidung könnte konsequenterweise die Einnahme der Diuretika zeitlich früher angesetzt und eine bewusste Blasenentleerung um 17 Uhr angeordnet werden oder – je nach Grunderkrankung – überhaupt abgesetzt werden. Generell müsse die Arzneimittelüberprüfung bei sturzgefährdeten Personen im Zentrum der Abklärung stehen, bestätigt Georg Pinter vom Zentrum für Altersmedizin des Klinikums Klagenfurt, da „beispielsweise Benzodiazepine sturzauslösend sind“; ebenso erhöhten auch Fentanyl-Pflaster das Risiko „um das Doppelte“. Sie sollten – wenn sie dennoch notwendig sind –  durch Morphine ersetzt werden. „Buprenorphin beispielsweise reduziert Stürze“, so Pinter.


Geriatrischer Konsiliardienst

Der Geriatrische Konsiliardienst (GEKO) optimiert die medizinischpflegerische Versorgungsqualität von geriatrischen Patienten in Pflegeheimen. Dabei berät der GEKO den Hausarzt bei der Betreuung der Heimbewohner zu spezifischen geriatrischen Fragestellungen und hält auf Ansuchen des Hausarztes patientenbezogene Konsile ab. Ziel ist es, stationäre Aufnahmen und die belastenden Krankenhaustransporte zu vermeiden. Bei einer Befragung hoben Kärntner Allgemeinmediziner die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der GEKO insbesondere bei der Wundversorgung, Herzinsuffizienz, der Polymedikation und in Palliativsituationen hervor. Derzeit gibt es diese Dienste in der Steiermark, Kärnten und voraussichtlich in zwei Jahren auch in Wien.

Der geriatrische Schmerzpatient

Bei hochgradig dementen Patienten wird der Schmerz in Form von Befragungen und diversen Instrumente wie der Doloplus-Skala gemessen. Dabei wird beobachtet, wie sich der Patient verhält, ob er Grimassen schneidet beziehungsweise ob er den Schmerz durch Stöhnen verbalisiert, um darauf aufbauend die Schmerzstärke zu bestimmen. Eine Punktebewertung ab drei zieht eine medikamentöse Therapie nach sich. Bei der Schmerztherapie hat sich im „konservativen und invasiven Bereich Wesentliches“ getan, betont Pinter. So wisse man heute, dass NSAR aufgrund der Komplikationsrate besonders sorgsam verschrieben werden müssten. „Nur solange wie notwendig und in Begleitung mit einem PPI. Eine Nieren- und Herzschwäche können sich durch NSAR verschlechtern.“ Bei mittelstarken und starken Schmerzen sei vor allem Metamizol gut wirksam.


Polypharmazie vs. Unterversorgung

44 Prozent der männlichen und 57 Prozent der weiblichen Patienten über 65 Jahren nehmen fünf oder mehr Arzneimittel ein. Nachdem ältere Personen eine erhöhte Rate an Nebenwirkungen und eine verminderte Homöostase zeigen, kommt es zu einer Prävalenz von unerwünschten Wirkungen von bis zu 80 Prozent. Therapieabbrüche und erhöhte Mortalität sind häufig die Folgen. „Polypharmazie ist eine Herausforderung, die in der allgemeinmedizinischen Praxis häufig schwer zu bewältigen ist. Um die Interaktionen diverser Arzneimittel überblicken zu können, kann zum Beispiel der geriatrische Konsiliardienst, der den Fokus gezielt auf die wichtigsten Interaktionen richtet, die die Interaktionssoftware auswirft, unterstützen“, unterstreicht Prof. Gerald Ohrenberger vom Haus der Barmherzigkeit in Wien. Das Wissen um die Wirksamkeit von Arzneimitteln und „deren Grenzen“ ermögliche nämlich den optimierten Einsatz. „Der schwierige alte Patient oder der Patient mit Delir muss nicht immer mit Arzneimitteln sediert werden. Häufig machen Maßnahmen wie Anpassung des Tag-Nacht-Rhythmus oder Optimierung von Geräuschkulissen, Licht oder Biorhythmik die medikamentöse Therapie überflüssig“, betont Ohrenberger. Beim Impfen allerdings rät der Experte zu einem Mehr. „Beim Impfen gilt: regelmäßig, früh und viel – also altersangepasst. Sowohl die Influenza-Impfung als auch die FSME-Impfung sind in Altersdosierungen erhältlich oder für kürzere Impfintervalle erprobt.“ Auch müsse dringend eine gezielte und flächendeckendere Osteoporose-Therapie mit Bisphosphonaten forciert werden, sagt Pinter. Derzeit sind weniger als 20 Prozent der Osteoporose-Patienten entsprechend versorgt.

Einen tieferen Einblick in den Zusammenhang zwischen Arzneimitteleinnahme und somatischen Beschwerden geben Arzneimittel-Cluster in Heimen. Demnach können besonders häufige Antibiotika-Verschreibungen entweder auf „zahlreiche Harnwegsinfekte, die sich rezidivierend entwickeln“ oder den Mangel eines „geschulten Katheter-Managements“ hindeuten. „Allein über die Pflegeschulung lassen sich in diesem Fall gezielt Arzneimittel reduzieren“, erklärt Ohrenberger. Andererseits sei ein Zuwenig an Verschreibungen bestimmter Arzneimittelgruppen alarmierend. So falle bei ungefähr einem Drittel der Pflegeheime eine unterdurchschnittliche Verschreibung von Antiepileptika auf. Den Grund dafür ortet Ohrenberger in der Unterdiagnose der Altersepilepsie, da ihr primäres Symptom – Dämmerzustände – eher als Alterserscheinung und nicht als Hinweis auf eine mögliche Epilepsie gewertet werde.


Tipps für die Praxis

  • Vitamin D
    Lediglich 13 Prozent der zwischen 75- und 100-Jährigen haben einen Spiegel über 30 ng/ml; davon nehmen 70 Prozent Vitamin D ein. -> Substitution dringend empfohlen. -> Positiv für Muskulatur und Stabilität; Reduktion des Sturz-Risikos.
  • Bisphosphonate
    Nur 20 Prozent der Osteoporose-Patienten haben eine Bisphosphonat-Therapie.  Spezifische Osteoporose-Therapie dringend empfohlen!
  • Benzodiazepine und Morphine
    Um Stürze zu vermeiden, Morphine einsetzen. Benzodiazepine und Fentanyl-Pflaster erhöhen das Sturzrisiko um das Doppelte.
  • Milch & Kakao
    Liefern Eiweiß und Fett -> Ideal für geriatrische Patienten.
  • Light Produkte & Salat
    Sollten eher vermieden werden, denn sie dienen dem Körper kaum als Brennstoff oder Bausteine.

Frailty-Konzepte

In Österreich sind elf Prozent der über 64-Jährigen von „Frailty“ betroffen; etwas mehr als 40 Prozent dieser Altersgruppe befinden sich in einer Frailty-Vorstufe.

Aktuell dominieren zwei Frailty-Konzepte:

  1. Beim Konzept der psychischen Frailty werden eine reduzierte objektive und subjektive Leistungsfähigkeit und ein Gewichtsverlust ermittelt. (nach Fried)
  2. Beim Konzept der Defizit-Akkumulation werden zusätzlich soziale und kognitive Faktoren sowie die Morbidität erfasst. (nach Rockwood).

Milch & Kakao gegen Mangelernährung

90 bis 100 Prozent der Bewohner von Alters- und Pflegeheimen sind bei Aufnahme in irgendeiner Form mangel- und unterernährt, erklärt Ohrenberger. Damit wird auch das Ansprechen auf Arzneimittel signifikant reduziert. „Mit kalorien- und eiweißreicher Kost kann man hier gegensteuern“, so Ohrenberger. Vor allem aufgrund des Verlustes des Geschmacksinns beginnen ältere Personen, sich einseitig zu ernähren. „Sie greifen häufig auf süße Speisen zurück, da sie süß noch am ehesten schmecken. Wer also einem älteren Menschen Kakao oder Milch zu trinken gibt, hat ihn eigentlich gut versorgt, denn damit erhält er sowohl Fett als auch Eiweiß.“ Wenn der unterernährte Patient nämlich primär „gesundes Essen“ wie zum Beispiel Gemüse und Fleisch bekommt, dann „verschwendet der Körper das Protein zunächst als Brennstoff und nicht als Baustein“, erklärt Ohrenberger. Daher sollten Salate oder Light-Produkte möglichst vom Speiseplan des geriatrischen Patienten gestrichen werden. Spezielles Augenmerk sollte allerdings auf die Substitution von Vitamin D gelegt werden. Zahlen aus Klagenfurt zeigen nämlich, dass bei im Durchschnitt 88-jährigen Patienten mit einer Fraktur lediglich 13 von 200 Patienten einen Vitamin D-Spiegel von über 30 ng/ml aufweisen. „Davon waren aber bereits 70 Prozent substituiert“, betont Pinter. Zwei Drittel wiesen Werte unter 20 auf; lediglich zehn Prozent wurden mit Vitamin D substituiert. „Der Hausarzt sollte unbedingt Vitamin D-Präparate verschreiben, weil damit auch die Muskulatur und die Stabilität unterstützt werden“, bekräftigt Pinter.

Pinter macht auch auf zwei spezielle Boards aufmerksam, die in Kärnten eingerichtet wurden: So unterstützen das Polypharmazieboard des Klinikums Klagenfurt und des Landeskrankenhaus Villach den Allgemeinmediziner bei Arzneimittelfragen. Das wöchentlich tagende Team aus Neurologen, Psychiatern, Kardiologen, Geriatern und Pharmazeuten gibt Empfehlungen zur Vermeidung von Arzneimittelinteraktionen ab. Bei komplexen und schwierigen Situationen wiederum können sich niedergelassene Allgemeinmediziner an das Ethikboard wenden. Dort werden neben palliativen auch schwer zu lösende Situationen in Pflegeheimen oder bei der Pflege zu Hause diskutiert. Die Empfehlungen umfassen auch juristische Aspekte.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2021