Geriatrie: Konfrontation – Vom Sollen und Wollen

10.11.2021 | Medizin

Nicht Normwerte, sondern der Wille des geriatrischen Patienten soll medizinische Interventionen leiten. Dabei steht der Allgemeinmediziner oft vor der Quadratur des Kreises: einerseits zu wenig Zeit, andererseits Verantwortung für die Organisation, die nicht honoriert wird. So agiert er zwischen Sollen und Wollen, stellen Regina Roller-Wirnsberger, Professorin für Geriatrie an der Medizinischen Universität Graz, und Gerald Ohrenberger, Ärztlicher Leiter vom Haus der Barmherzigkeit in Wien, fest.
Manuela-C. Warscher

Die Corona-Pandemie habe nach Ansicht von Roller-Wirnsberger schonungslos die Schwachstellen des heimischen Sozial- und Gesundheitssystems offengelegt. Es wurde evident, dass es zwischen den beiden Systemen keinen Austausch gibt, dass A nicht weiß, was B tut. An dieser Schnittstelle agiere – so Roller-Wirnsberger – der Allgemeinmediziner mit dem politischen Commitment, dass „Geriatrie ausschließlich in der Allgemeinmedizin“ gemacht werde. Der Allgemeinmediziner sei Teil dieses hochkomplexen Systems „alter Mensch“, in dem es nicht so sehr darauf ankomme, ob das HbA1c im Normbereich ist, sondern darauf, was der betroffene Patient selbst will. Darauf aufbauend sollen die medizinischen Möglichkeiten ausgelotet und auch eruiert werden, wie weit man mit den jeweiligen Interventionen gehen möchte, ohne dabei das „wacklige alte System Mensch“ zu überfordern. Es gehe um das Konzept der Resilienz. Der Allgemeinmediziner müsse – so Roller-Wirnsberger – nun eine Aufgabe erfüllen, für die er weder die umfassende Ausbildung hat noch die entsprechende Refundierung erhält. Und trotzdem übernimmt er diese essentiellen Aufgaben im Chronic Care Management von alten Menschen und bindet dabei horizontal auch alle anderen Beteiligten ein. Die Betreuung des geriatrischen Patienten selbst hängt – davon ist die Expertin überzeugt – sowohl von der intrinsischen Begabung als auch vom Interesse ab.

Die Tätigkeit des Allgemeinmediziners bei der Betreuung von älteren – geriatrischen – Patienten erfolge laut Ohrenberger auf zumindest zwei Ebenen: zu Hause und im Pflegeheim. Beide Settings stellten allerdings den Allgemeinmediziner vor Herausforderungen und Dilemmata. Die geringsten Probleme bei der Betreuung von alten multimorbiden Patienten habe der Hausarzt bei all jenen, die er schon über Jahrzehnte medizinisch betreut und begleitet hat und die er zu Hause aufsuchen kann. Wird der Allgemeinmediziner rechtzeitig involviert und kann er die Übersicht wahren, ist diese Versorgungsachse qualitativ hochwertig. Allerdings: Die Betreuung von Patienten in Pflegeheimen stelle den Allgemeinmediziner vor die „Quadratur des Kreises“. Die medizinische Betreuung wird einerseits aufgrund der Zeitnot und andererseits aufgrund der dem Arzt übertragenen Organisationsverantwortung erschwert. Das Dilemma dabei: Der Allgemeinmediziner könnte diese Organisation wie die Suche nach einem Neurologen oder anderen Fachärzten ganz prinzipiell schon übernehmen, doch „das ist weder sein Auftrag noch wird es honoriert“, fasst Ohrenberger zusammen. Auf diese Weise falle die heimärztliche Komponente aufgrund der mangelnden externen Organisation und Integration des Allgemeinmediziners quasi „unter den Tisch“. Die geriatrische Versorgung ist folglich qualitativ wesentlich schlechter – denn es „fehlt der rote Faden“ (Ohrenberger) bei der Betreuung von älteren Menschen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2021