Früh­kind­li­che Ess­stö­run­gen – Ursa­che: Autonomie-Konflikte

10.05.2021 | Medizin


Kin­der mit einem pro­ble­ma­ti­schen Ess­ver­hal­ten spie­geln häu­fig den Stress der besorg­ten Eltern wider. Die­ser Stress hemmt die ora­len Funk­tio­nen. Ganz grund­sätz­lich liegt vie­len Ess­stö­run­gen eine Ver­let­zung der kind­li­chen Auto­no­mie zugrunde.
Manuela‑C. War­scher

Der vier­jäh­rige Julian sieht die Mais­stan­gerln und rennt panisch aus dem Raum“, erzählt Anna Maria Cavini, Fach­ärz­tin für Kinder­ und Jugend­heil­kunde von der Reha­-Ein­rich­tung kokon in Bad Erlach in Nie­der­ös­ter­reich. Viele Kin­der, die ein pro­ble­ma­ti­sches Ver­hält­nis zu Nah­rung haben, ent­wi­ckeln ein pani­sches Abwehr­ver­hal­ten. Cavini dazu: „Häu­fig spie­geln Kin­der den Stress der besorg­ten Eltern wider und Stress hemmt die ora­len Funk­tio­nen.“ Bei etwa einem Vier­tel der Klein­kin­der kann es – vor­über­ge­hend – zu Fütter­ und Ess­stö­run­gen kom­men. „Diese kön­nen reak­tiv, also selbst gemachte, Stö­run­gen umfas­sen, aber auch sel­tene Krank­hei­ten signa­li­sie­ren“, erklärt Univ. Prof. Mar­gue­rite Dunitz­-Scheer von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Kinder­ und Jugend­heil­kunde der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Graz. Alter, Füt­te­rungs­wei­sen, Art und Menge der Nah­rung sowie soma­ti­sche Erkran­kun­gen des Kin­des defi­nie­ren, ob es beim vor­über­ge­hen­den Ess­pro­blem bleibt oder ob es zu einer voll­stän­di­gen Nah­rungs­ver­wei­ge­rung mit einer lebens­be­droh­li­chen Gedeih­stö­rung kommt. 

Unge­fähr zwei bis fünf Pro­zent der Kin­der wei­sen tat­säch­lich eine kli­nisch bedeut­same Ess­ver­hal­tens­stö­rung auf. „Bei die­sen Kin­dern ist sozu­sa­gen Gefahr in Ver­zug. Den­noch wer­den nur 0,5 Pro­zent hos­pi­ta­li­siert und über Son­den ernährt“, betont Cavini. Für Son­den­kin­der ist das Risiko, eine Ess­stö­rung zu ent­wi­ckeln, signi­fi­kant höher. „Viele Kin­der wer­den mit der Sonde aus dem Kran­ken­haus ent­las­sen, da sie die effek­tivste Prä­ven­tion gegen eine Mal­nu­tri­tion ist. Damit nimmt aber die Moti­va­tion zum selbst­stän­di­gen Essen wei­ter ab, da die posi­tive orale Anre­gung fehlt und die Moto­rik ver­nach­läs­sigt wird,“ sagt Cavini. Das sei auch der Grund dafür, wieso man­che 14-­Jäh­rige noch immer eine Sonde hät­ten. Die Sonde unter­binde dann nicht nur das Hunger­ oder Sät­ti­gungs­ge­fühl, son­dern ver­hin­dere auch die Auto­no­mie­ent­wick­lung des Kindes. 

Wäh­rend das Neu­ge­bo­rene erst ler­nen muss, das Hunger­ und Sät­ti­gungs­ge­fühl zu kon­trol­lie­ren, zählt es zu den Auf­ga­ben der Mutter/​der Bezugs­per­son, die ent­spre­chen­den Signale zu erken­nen. Gelingt das nicht, kommt es zu Regu­la­ti­ons­stö­run­gen bei der Füt­te­rung. „Babys mit Regu­la­ti­ons­stö­run­gen, auch manch­mal ‚Schreiba­bys‘ genannt, haben immer nur eine äußerst kurze Bereit­schaft zur Nah­rungs­auf­nahme“, so Cavini. Es bedarf der Sen­si­bi­li­tät der Mut­ter, diese „kurze Füt­te­rungs­fä­hig­keit“ (Cavini) zu sehen und dar­auf ein­zu­ge­hen. Häu­fig führt aber die Angst der Müt­ter, ihr Kind könnte ver­hun­gern, dazu, dass sie „mit Kalo­rien­ta­bel­len im Kopf agie­ren und ihre eigene Frei­zeit­ge­stal­tung zuguns­ten der Füt­te­run­gen des Kin­des auf­ge­ben, was den Druck wei­ter erhöht“. Diese Dyna­mik könne in allen Ent­wick­lungs­pha­sen des Kin­des zu einer dys­funk­tio­na­len Inter­ak­tion zwi­schen Kind und der Mutter/​Bezugsperson und folg­lich zu Ernäh­rungs­pro­ble­men führen. 


Exper­ten-Tipps für Eltern

Wenn All­ge­mein­me­di­zi­ner Auf­fäl­lig­kei­ten in der Mut­ter-Kind-Bezie­hung oder im Ess­ver­hal­ten von Klein­kin­dern bemer­ken, kön­nen fol­gende Tipps helfen:

  1. Mahl­zei­ten soll­ten in der Fami­lie gemein­sam erfol­gen, denn Kin­der müs­sen Eltern ein­fach „nor­mal“ essen sehen.
  2. Ablen­kun­gen beim Essen vermeiden.
  3. Nicht über das Essen reden; Dro­hun­gen vermeiden.
  4. Essen ist keine Beloh­nung, auch keine Bestra­fung oder Trost.
  5. Essen ist ein Grund­be­dürf­nis: Man isst, wenn man Hun­ger hat.

Aus­lö­ser: Bindungsstörung

Tre­ten Füt­te­rungs­pro­bleme erst nach drei Mona­ten auf, liegt oft eine Bin­dungs­stö­rung zwi­schen Mut­ter und Kind vor. Diese gestörte Mut­ter­-Kin­d­­Re­zi­pro­zi­tät führt dazu, dass Babys den Augen­kon­takt mei­den, kaum lächeln und über­durch­schnitt­lich viel Schlaf benö­ti­gen. In vie­len Fäl­len lei­den die Müt­ter an psy­chi­schen Stö­run­gen, die die Freude, Zuwen­dung zum Kind und die Begeis­te­rung über das Kind hem­men. So zei­gen auch depres­sive Müt­ter wäh­rend der Füt­te­rung kaum Dia­log­be­reit­schaft mit ihrem Kind. „Die Kin­der sind depri­viert, da sowohl depres­sive Müt­ter als auch Müt­ter, die selbst einen Miss­brauch erlebt haben, Schwie­rig­kei­ten haben kön­nen, auf die Bedürf­nisse des Kin­des ein­zu­ge­hen“, erklärt Cavini. Dies hat bereits Pio­nie­rin Irene Cha­toor vor fast 40 Jah­ren in ihrer dia­gnos­ti­schen Klas­si­fi­ka­tion in die Fach­li­te­ra­tur ein­ge­führt. Auf der ande­ren Seite wie­derum seien Müt­ter, die sehr kopf­las­tig agie­ren, ein Risi­ko­fak­tor für eine infan­tile Anore­xie. „Das sind jene Müt­ter, die durch die vie­len Rat­ge­ber und Goo­g­le­-Suchen das Bauch­ge­fühl für die Bedürf­nisse ihres Kin­des ver­lo­ren haben bezie­hungs­weise häu­fig selbst an einem Ess­pro­blem gelit­ten haben und daher nicht das rich­tige Fein­ge­fühl auf­brin­gen kön­nen“, bestä­tigt Cavini. Ähn­lich der Anorexia ner­vosa liegt auch der infan­ti­len Anore­xie ein Auto­no­mie-­Kon­flikt zugrunde, bei dem das Klein­kind nach mehr Auto­no­mie strebt. „Meist mani­pu­liert es die umge­bende Fami­lie, ins­be­son­dere die Mut­ter“, sagt Dunitz-­Scheer. Die infan­tile Anore­xie ist jedoch poten­ti­ell lebens­be­droh­lich. „Wir behan­deln unge­fähr zwei bis drei Klein­kin­der pro Jahr – also ein Pro­zent unse­rer Pati­en­ten“, berich­tet Dunitz-Scheer. 

Kin­der haben Angst vor Fütterung

Vie­len Ess­stö­run­gen liegt eine Ver­let­zung der kind­li­chen Auto­no­mie zu Grunde. Durch über­grif­fi­ges Füt­te­rungs­ver­hal­ten, orale Trau­mata oder Ver­let­zun­gen ent­wi­ckeln Kin­der zuneh­mend Angst vor dem Füt­te­rungs­pro­zess. „Pre­kär ist die Situa­tion immer, wenn Kin­der fest­ge­hal­ten und zwangs­ge­füt­tert wer­den.“ Die Ess­si­tua­tion sei dadurch emo­tio­nal auf­ge­la­den, was die Füt­te­rung zu einem dau­er­haf­ten Pro­blem mache. Vor allem der väter­li­che Rück­zug erhöht die Hilf­lo­sig­keit und Aggres­sion der Mut­ter. „Oft begin­nen sie dann aus Ver­zweif­lung, ihre Kin­der im Schlaf zu ernäh­ren oder füt­tern sie, wenn diese auf der Wasch­ma­schine lie­gen, mit Fil­men am Handy oder len­ken sie mit ande­ren Sti­muli ab,“ erklärt Cavini. Aller­dings feh­len durch diese Ablen­kun­gen dem Kind wie­derum wich­tige Impulse, um ein gesun­des Ess­ver­hal­ten zu entwickeln. 

Ess-­ und Füt­te­rungs­stö­run­gen erfor­dern auf­grund ihrer Kom­ple­xi­tät einen mul­ti­dis­zi­pli­nä­ren Betreu­ungs­an­satz mit Ärz­ten, Logo­pä­den, Diä­to­lo­gen, Psy­cho­lo­gen, Ergo­the­ra­peu­ten, Phy­sio­the­ra­peu­ten und Psy­cho­the­ra­peu­ten. Ziel der The­ra­pie ist es, Kin­der aus dem per­ma­nen­ten Essens­druck her­aus­zu­brin­gen, sie an selbst­stän­di­ges Essen zu gewöh­nen und Eltern in die Rolle der Essens­be­reit­stel­ler und nicht Füt­te­rer zu brin­gen. „Mit the­ra­peu­ti­schen Spie­len unter­stüt­zen wir die Kin­der, selbst zu essen. Sie sol­len das Essen füh­len und rie­chen, die Kon­sis­tenz ertas­ten, sodass sie es be­greifen ler­nen. Sie bauen bei­spiels­weise Schiffe aus Gur­ken­schei­ben oder zeich­nen mit Essen“, erklärt Cavini. Kin­der bauen unter dem Motto ‚erst das mit Scho­ko­lade oder Brei beschmierte Kind erhält einen Zugang zum Essen‘ schritt­weise Angst und Ekel vor Nah­rung ab und bekom­men so ihre Auto­no­mie und Ent­schei­dungs­fä­hig­keit zurück. Vor allem der All­ge­mein­me­di­zi­ner könne dabei hel­fen, dys­funk­tio­nale Dyna­mi­ken in Fami­lien mit Klein­kin­dern „früh­zei­tig und respekt­voll“ (Dunitz­-Scheer) anzu­spre­chen und zur wei­ter­füh­ren­den Abklä­rung beim Päd­ia­ter zu über­wei­sen. „Wich­tig ist, dass der Haus­arzt die Sor­gen der Müt­ter ernst nimmt und sie und das Kind gleich in die Pra­xis zur Unter­su­chung holt, damit das Kind gege­be­nen­falls rasch einem Spe­zia­lis­ten zuge­führt wer­den kann“, so Dunitz-­Scheer. Das sei essen­ti­ell, da sich im ers­ten und zwei­ten Lebens­jahr der­ar­tige Dyna­mi­ken schnell zum Nega­ti­ven und zu einer Ess­stö­rung ent­wi­ckeln kön­nen. „Eltern wer­den übri­gens in jeg­li­che The­ra­pie mit­ein­be­zo­gen – das Kind lebt ja nicht allein“, sagt Dunitz-Scheer. 

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2021