Dia­be­tes und Depres­sion: Stress als Kernproblematik

10.06.2021 | Medizin

Bei bis zu 40 Pro­zent aller Men­schen mit Dia­be­tes mel­li­tus kommt es zum Dia­be­tes-Distress – eine durch die Erkran­kung bedingte starke emo­tio­nale und kogni­tive Belas­tung. Dar­über hin­aus kann ein schlecht ein­ge­stell­ter Dia­be­tes mel­li­tus auch ein Hin­weis auf eine Depres­sion sein.
Sophie Fessl

Die Dia­gnose Depres­sion ist bei Men­schen mit Dia­be­tes mel­li­tus etwa dop­pelt so häu­fig wie in der Ver­gleichs­be­völ­ke­rung: Rund 19 bis 20 Pro­zent der Typ 2‑Diabetiker lei­den an einer Depres­sion; zum Ver­gleich: In der Nor­mal­be­völ­ke­rung sind es zwölf Pro­zent. Unter Typ 1‑Diabetikern lei­den zwölf Pro­zent an einer Depres­sion, wäh­rend bei etwa fünf bis sie­ben Pro­zent der Ver­gleichs­be­völ­ke­rung eine Depres­sion dia­gnos­ti­ziert wird. Häu­fig wer­den noch höhere Zah­len berich­tet, erläu­tert Hei­de­ma­rie Abra­ha­mian von der Inter­nis­ti­schen Abtei­lung der Kli­nik Pen­zing in Wien. „Über 30 Pro­zent der Dia­be­tes-Pati­en­ten zei­gen Sym­ptome einer Depres­sion oder einer Angst­stö­rung, ohne eine Depres­sion zu ent­wi­ckeln. Einer­seits wird oft ‚Dia­be­tes-Distress‘ mit Depres­sion ver­wech­selt, ande­rer­seits wer­den Angst­stö­run­gen irr­tüm­li­cher­weise als Depres­sion diagnostiziert.“

Dia­be­tes-Distress tritt bei bis zu 40 Pro­zent aller Men­schen, die an Typ 1- und Typ 2‑Diabetes lei­den, auf. „Die Her­aus­for­de­rung, mit dem Dia­be­tes umzu­ge­hen, bringt viele Pati­en­ten in Stress, der zu einer Über­for­de­rung führt. Der Begriff ‚Dia­be­tes Distress‘ umfasst diese starke emo­tio­nale und kogni­tive Belas­tung.“ Die Sym­ptome des Dia­be­tes-Distress sind Rück­zug, Freud­lo­sig­keit und Lust­lo­sig­keit. Aller­dings erfül­len Pati­en­ten mit Dia­be­tes-Distress noch nicht die Kri­te­rien einer Depres­sion. „Es ist eine leich­tere Form der psy­chi­schen Stö­rung, die aber letzt­lich in eine Depres­sion über­ge­hen kann. Vor allem dann, wenn es nicht gelingt, den Dia­be­tes in den All­tag zu inte­grie­ren und Ängste in Bezug auf Dia­be­tes zu bewältigen.“

Wenn Pati­en­ten unter Dia­be­tes-Distress lei­den, ist eine Vul­nerabi­li­tät vor­han­den, die zur Ent­ste­hung einer Depres­sion füh­ren kann. In ver­schie­de­nen Ansät­zen wird ver­sucht, die Ursa­che für die häu­fi­gere Dia­gnose von Depres­sion bei Dia­be­tes-Pati­en­ten zu begrün­den. „Neue Ansätze sehen eine Erkran­kung der Gefäße im Gehirn im Sinne einer Mikro­an­gio­pa­thie, wie sie bei Men­schen mit Dia­be­tes auch in Auge und Niere vor­kommt, als Mit-Ursa­che einer Depres­sion.“ Eine wei­tere wich­tige Erklä­rung zur Patho­phy­sio­lo­gie ist die dys­funk­tio­nale Akti­vie­rung der Hypo­tha­la­mus-Hypo­phy­sen-Neben­nie­ren­achse mit Erhö­hung des Cor­ti­sol-Spie­gels. „Auch durch den Stress im Rah­men der Anfor­de­run­gen des Selbst­ma­nage­ments ist der Cor­ti­sol-Spie­gel erhöht und das sym­pa­thi­sche Ner­ven­sys­tem über­ak­ti­viert. Beide akti­vier­ten Hor­mon-Sys­teme wir­ken im wei­te­ren Sinn begüns­ti­gend für das Auf­tre­ten einer psy­chi­schen Stö­rung.“ Eine wei­tere Hypo­these basiert auf der Erhö­hung des Inter­leu­kin-Spie­gels bei Dia­be­ti­kern, die die Ent­ste­hung einer Depres­sion för­dern könnte. Beson­ders die Lang­zeit-Akti­vie­rung des neu­ro­en­do­kri­nen Stress-Sys­tems ist laut Abra­ha­mian ungüns­tig, da sie neben psy­chi­schen Sym­pto­men auch zu kör­per­li­chen Pro­ble­men führt.

„Stress ist die Kern­pro­ble­ma­tik“, betont auch Univ. Prof. Her­mann Toplak von der Kli­ni­schen Abtei­lung für Endo­kri­no­lo­gie und Dia­be­to­lo­gie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Graz. „Gerade das mensch­li­che Ernäh­rungs- und Appe­tit­ver­hal­ten ist durch stress­be­ding­ten Kon­troll­ver­lust geprägt.“ Stress, Frus­tra­tion und Pro­bleme wür­den zu einem Ver­lust der Kon­trolle über das Appe­tit­ver­hal­ten füh­ren, wodurch Ernäh­rungs­emp­feh­lun­gen nicht mehr umge­setzt wer­den kön­nen. Auch die kor­rekte Durch­füh­rung der Dia­be­tes­the­ra­pie würde unter Stress, Kon­troll­ver­lust und kogni­ti­ven Leis­tungs­de­fi­zi­ten lei­den. „Unter Stress kann das, was in einer Dia­be­tes-Schu­lung gelernt wurde, nicht rich­tig umge­setzt wer­den.“ Erschwe­rend komme hinzu, dass psy­cho­ge­ner Stress zu einem Hun­ger­ge­fühl ohne wesent­li­chen Ener­gie­ver­brauch führt. „Wenn ein Pati­ent mit Gewichts­zu­nahme kommt, sollte daher nicht gefragt wer­den, was der Pati­ent geges­sen hat, son­dern warum er es geges­sen hat. Warum kam es zum Kontrollverlust?“

Bei Dia­be­tes-Pati­en­ten mit Depres­sion ist die The­ra­pie­ad­hä­renz oft schlecht. Die Antriebs­lo­sig­keit und der Moti­va­ti­ons­ver­lust betref­fen auch die Dia­be­tes-The­ra­pie, für die keine Ener­gie mehr auf­ge­bracht wer­den kann. Durch die schlechte Ein­stel­lung des Blut­zu­ckers tre­ten die bekann­ten Spät­schä­den eines Dia­be­tes mel­li­tus frü­her auf – etwa an Ner­ven, Herz und Gefä­ßen. Ebenso ist auch die Mor­ta­li­tät im Ver­gleich zu Dia­be­ti­kern ohne Depres­sion signi­fi­kant erhöht.

Schlechte Adhä­renz als Hinweis

Eine schlechte Dia­be­tes-Ein­stel­lung kann daher auch Hin­weis auf eine Depres­sion geben. Abra­ha­mian rät dazu, bei Pati­en­ten mit schlech­ter The­ra­pie­ad­hä­renz oder einer schlech­ten Ein­stel­lung, für die keine Erklä­rung gefun­den wird, gezielt nach einer Depres­sion zu fra­gen. Zur ers­ten Ein­schät­zung kön­nen zwei Fra­gen dienen:

  • Gab es in den letz­ten vier Wochen eine Zeit­spanne, wo Sie sich nahezu jeden Tag nie­der­ge­schla­gen, trau­rig und hoff­nungs­los fühlten?
  • Gab es in den letz­ten vier Wochen eine Zeit­spanne, wo Sie das Inter­esse an Tätig­kei­ten ver­lo­ren haben, die Ihnen sonst Freude machen?

„Wer­den beide Fra­gen mit Ja beant­wor­tet und ein durch­ge­hen­der Zeit­raum von min­des­tens zwei Wochen ange­ge­ben, so ist das hin­wei­send auf eine mög­li­che psy­chi­sche Beein­träch­ti­gung des Men­schen“, erläu­tert Abra­ha­mian, die in dem Fall zu einer wei­te­ren Abklä­rung rät. Auch der Ver­such, mit Anti­de­pres­siva die Sym­ptome zu ver­bes­sern, ist in vie­len Fäl­len gerecht­fer­tigt. Im Rah­men eines Scree­nings nach Depres­sion soll­ten die genann­ten Fra­gen zumin­dest ein­mal im Jahr gestellt wer­den – vor allem bei uner­klär­li­cher schlech­ter Therapieadhärenz.

„Mit SSRI oder auch SNRI kann der Stim­mungs­grad geho­ben wer­den, sodass der Pati­ent wie­der com­pli­ant in Bezug auf die Dia­be­tes-The­ra­pie wird. Aller­dings soll­ten Psy­cho­phar­maka ziel­ori­en­tiert und ein­ge­bun­den in eine ent­spre­chende Betreu­ung ein­ge­setzt wer­den“, betont Toplak. Oft rei­che eine nied­rige Dosis der medi­ka­men­tö­sen The­ra­pie aus. „Unser Ziel ist, dass der Mensch wie­der in die Bereit­schaft kommt, die Dia­be­tes-The­ra­pie durch­zu­füh­ren, die ja letzt­lich eine Selbst­the­ra­pie ist.“

Beglei­tend zur phar­ma­ko­lo­gi­schen The­ra­pie soll­ten Psy­cho­the­ra­pie, Gesprächs­the­ra­pie oder Ver­hal­tens­the­ra­pie ein­ge­setzt wer­den. Bei mil­de­ren For­men der Depres­sion kann auch ein psy­chi­sches Ent­las­tungs­ge­spräch hel­fen. Dabei soll­ten mit dem Pati­en­ten Stra­te­gien gefun­den wer­den, die ihn zur Ruhe brin­gen oder mit denen er seine Situa­tion bewäl­ti­gen kann, berich­tet Toplak aus der Pra­xis. „Weni­ger Essen und mehr Bewe­gung ist die grund­sätz­li­che Emp­feh­lung. Aber aus unter­schied­li­chen Grün­den kön­nen sich nicht alle daran hal­ten. Es gilt, den Pati­en­ten pra­xis­ori­en­tiert und indi­vi­du­ell Stra­te­gien auf­zu­zei­gen, die diese auch durch­füh­ren können.“

Abgren­zung zur Angststörung

Eine mög­li­che Depres­sion müsse auch von einer Angst­stö­rung abge­grenzt wer­den, betont Abra­ha­mian. Ins­be­son­dere muss zwi­schen einer gene­ra­li­sier­ten Angst­stö­rung und einer Panik­stö­rung unter­schie­den wer­den. Eva­lu­ierte Scree­ning-Fra­gen ste­hen zur Ver­fü­gung; diese sind aller­dings zeit­auf­wän­dig. Wenn Pati­en­ten über Angst oder Panik berich­ten und Hin­weise auf eine gene­ra­li­sierte Angst­stö­rung oder eine Panik­stö­rung vor­lie­gen, rät Abra­ha­mian daher zu zwei Fragen:

  • „Haben Sie plötz­lich Anfälle, bei denen Sie unter Angst und Schre­cken ste­hen, und bei denen Sie unter Sym­pto­men wie Herz­ra­sen, Zit­tern, Schwit­zen, Luft­not oder Todes­angst lei­den?“ (bei Ver­dacht auf eine Panikstörung)
  • „Füh­len Sie sich ner­vös oder ange­spannt, machen Sie sich häu­fig über Dinge mehr Sor­gen als andere Men­schen?“ (bei Ver­dacht auf eine gene­ra­li­sierte Angststörung)

Auch bei Vor­lie­gen einer Angst­stö­rung kann es zu einer schlech­ten The­ra­pie­ad­hä­renz kom­men. „Psy­chi­sche Stö­run­gen ver­tra­gen sich nicht gut mit Dia­be­tes, da durch die Stö­rung der Fokus auf das Selbst­ma­nage­ment nega­tiv beein­flusst wird“, berich­tet Abrahamian.

Schwer­wie­gende Angst­sym­ptome kön­nen die Lebens­qua­li­tät erheb­lich beein­träch­ti­gen. So berich­tet Abra­ha­mian von Pati­en­ten, die kon­krete Ängste vor Hypo­glyk­ämien oder vor Spät­schä­den haben. „Aus einer über­trie­be­nen Angst vor Spät­schä­den ver­su­chen sie, ihren Zucker extrem tief zu hal­ten. Diese Über­re­ak­tion auf eine mas­sive Angst kann auch gefähr­lich sein. Es kön­nen schwere Hypo­glyk­ämien auf­tre­ten.“ Auch bei Dia­be­tes-Pati­en­ten mit einer gene­ra­li­sier­ten Angst­stö­rung oder einer Panik­stö­rung kön­nen SSRI oder SNRI zur Behand­lung ein­ge­setzt wer­den; ebenso auch Pregabalin.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 11 /​10.06.2021