Chronische Wunden: Individuelle Disposition entscheidet

10.05.2021 | Medizin


Vor allem bei venösen Erkrankungen stellt die individuelle Disposition einen wichtigen Risikofaktor dar. Neben der makrovalvulären Dysfunktion wird vermehrt auch über die Insuffizienz von kleinsten venösen Klappen im Mikrometerbereich als wesentliche Ursache für das Auftreten von chronisch venösen Wunden berichtet.
Laura Scherber

Das ich das Risiko für chronische Wunden mit dem Alter erhöht, nimmt durch den demografischen Wandel auch das Auftreten von chronischen Wunden zu. „Die häufigsten Ursachen für ein Ulcus sind sicherlich zu 90 Prozent Durchblutungsstörungen, also die chronische periphere arterielle Verschlusskrankheit und die chronisch­venöse Insuffizienz“, berichtet Priv. Doz. Barbara Böckle von der Universitätsklinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie in Innsbruck. Damit häufig einhergehende Komorbiditäten wie Diabetes mellitus, aber auch arterielle Hypertonie und Hyperlipidämien sind bei diesen Patienten unbedingt abzuklären.

Vor allem bei jüngeren Patienten müsse man bei chronisch persistierenden Ulcera aber auch an seltenere Erkrankungen wie maligne Neoplasien denken oder an Pyoderma gangraenosum, bei der sich die Ulcera zunehmend vergrößern. Auch wenn jüngere Patienten grundsätzlich betroffen sein können, stellt das Alter einen wichtigen Risikofaktor dar. „Chronische Wunden an den Beinen, das sogenannte Ulcus cruris, betreffen circa ein Prozent der Bevölkerung, wobei es in der Altersgruppe der über 80­Jährigen bereits mehr als drei Prozent sind“, fügt Priv. Doz. Benedikt Weber von der Universitätsklinik für Dermatologie in Wien hinzu. Patienten mit Pyoderma gangraenosum leiden häufig an Begleiterkrankungen wie einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung. Grundsätzlich handelt es sich um einen multifaktoriellen Prozess, bei dem angeborene und erworbene Faktoren die Entwicklung von chronischen Wunden beeinflussen. Abgesehen von sekundären Faktoren wie Thrombosen oder Venenentzündungen stellt die individuelle Disposition vor allem bei venösen Erkrankungen einen wichtigen Risikofaktor dar. „Interessant erscheint hierbei, dass in rezenten Arbeiten neben der makrovalvulären Dysfunktion vermehrt auch die Insuffizienz kleinster venöser Klappen im Mikrometerbereich als wesentliche Ursache des Auftretens chronischer venöser Wunden berichtet wurde“, weiß Weber. So könnten individuelle Faktoren wie eine Bindegewebsschwäche darüber entscheiden, ob sich bei einer venösen Erkrankung ein Ulcus entwickelt oder nicht.

Chronische Wunden bezeichnet man als „Integritätsverlust der Haut und einer oder mehrerer darunterliegenden Strukturen mit einer fehlenden Abheilung innerhalb von acht Wochen“, sagt Markus Duft vom Krankenhaus Göttlicher Heiland in Wien. Duft weiter: „Letztendlich ist die Bezeichnung ‘Chronische Wunde‘, diese zeitlich orientierte Definition nicht ausreichend, da es Wunden gibt, die von Beginn an als chronisch anzusehen sind“. Dazu zählten etwa jene bei pAVK und venöser Insuffizienz, Dekubitus und das Diabetische Fusssyndrom (DFS); letzter Begriff fasst verschiedene Krankheitsbilder mit unterschiedlicher Ätiologie und Pathomechanismen zusammen. „Allen gemeinsam ist, dass Läsionen am Fuß des Patienten mit Diabetes mellitus zu Komplikationen führen können, die bei verzögerter oder ineffektiver Behandlung die Amputation der gesamten Extremität zur Folge haben können“, so Duft.

Als chronische Wunde wird hier – unabhängig von der Wunddauer – jede Läsion am Fuß gesehen und beinhaltet eingewachsene Zehennägel ebenso wie eine nicht heilende banale Trauma­Wunde bis hin zur Hornhautschwiele mit zentraler Einblutung. Bei Wundheilungsstörungen nach einem chirurgischen Eingriff muss das Problem nicht erst drei Monate bestehen, um als chronisch betrachtet zu werden.

Im Rahmen der Anamnese wird erhoben, seit wann der Patient die Wunde hat, ob sie spontan aufgetreten ist, ob es sich um eine einzelne oder um multiple Wunden handelt und wo sie genau lokalisiert ist. „Eine Wunde am medialen Innenknöchel spricht für das Vorliegen einer venösen Insuffizienz, am lateralen Außenknöchel vor allem für eine periphere Durchblutungsstörung“, weiß Böckle. Weitere Schritte sind die Laboruntersuchung und die Vorstellung des Patienten beim Gefäßchirurgen, um den Gefäßstatus zu erheben. Wenn sich eine Wunde an der unteren Extremität befindet, ist die erste Maßnahme laut Duft die gründliche klinische Untersuchung: „Die untere Extremität muss nackt sein. Die Beine müssen im Stehen auf Zeichen der chronisch­venösen Insuffizienz untersucht werden und im Liegen der Pulsstatus, Leisten­, Kniekehlen­ und Fußrückenpulse, erhoben werden“. Beim Diabetiker ist das Neuropathiescreening „essentiell“ (Duft). Im Rahmen der Analyse der Wunde wird die Wundheilungsphase erfasst: Quantität und Qualität des Exsudats, Beschaffenheit des Wundgrundes – festhaftende oder abwischbare Beläge, Nekrosen oder Granulationsgewebe – und Erfassen der klinischen Zeichen für eine bakterielle Belastung. „Tumor, Calor, Rubor, Dolor sind die wichtigsten klinischen Aspekte des initialen Wound Assessments“, erklärt Duft. Der klinische Befund der chronisch­venösen Insuffizienz solle entsprechend der CEAP-Klassifikation C1 bis C6 erfasst werden. „Es muss nicht immer die Stammvene massiv varikös verändert sein, die ein Ulcus nährt. Oft liegt eine Perforans-Inuffizienz beziehungsweise eine Seitenastvarikose vor“, so Duft.

Voraussetzung für den Therapieerfolg ist die kausale Behandlung der Grunderkrankungen. „Bei der häufigsten Form der chronischen Wunde, dem Ulcus cruris venosum, wird zunächst eine Duplexsonographie durchgeführt, um die genaue anatomische Ursache der venösen Insuffizienz zu ermitteln“, erklärt Weber. Auf Basis dieser Diagnostik werden dann alle weiteren diagnostischen und therapeutischen Schritte geplant. Diese reichen von der Kompressionstherapie, der Schaumverödung und der endovenösen Lasertherapie bis hin zur chirurgischen Spalthautdeckung. Böckle zufolge sollte – wenn notwendig – der Blutzucker im Rahmen der Behandlung eingestellt werden und sofern eine Anämie vorliegt, ein zugrundeliegender Eisenmangel oder chronischer Blutverlust unbedingt behoben werden.

Zentral: Schmerztherapie

Je nach Ausdehnung des Ulcus erfolgt die Sanierung der Gefäße ambulant oder stationär. Die Schmerztherapie ist bei Patienten mit Durchblutungsstörungen – vor allem bei arterieller Genese – sowie beim Pyoderma gangraenosum ein zentraler Bestandteil der Therapie, da die Betroffenen schmerzgeplagt und in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt sind. „Basismaßnahmen sind ganz wichtig, weil sich bei der Wundtherapie alle immer auf die Wundauflage fokussieren“, weiß Barbara Böckle aus der Praxis. So wird in der Klinik auch immer eine Diätologin hinzugezogen, die mit den Patienten ihren Ernährungsplan optimiert, um eine ausgewogene Ernährung mit ausreichend Proteinen sicherzustellen. Im Rahmen der Wundversorgung sei die feuchte Wundbehandlung State of the Art, wobei mit der Unterdruckbehandlung (Vacuum Assisted Closure; VAC-Therapie) die Wundgranulation sehr gut angeregt werden könne. „Bei der Wundversorgung muss man sehr langfristig denken, da Patienten mit chronischen Wunden immer wieder an Ulcera leiden und alle zusammenarbeiten müssen, damit das Behandlungskonzept funktioniert“, resümiert Böckle. Besonders die Primärversorgung sei hier eine wichtige Stütze.

Im Rahmen des Neuropathiescreenings werde festgestellt, welche „Schutzreflexe ein Diabetiker noch hat, da ein Sensibilitätsverlust automatisch zu Verletzungen durch zu enges Schuhwerk, Fremdkörper in den Schuhen, thermische Verletzungen wie zu heißes Fußbad oder Heizdecke oder fehlerhafte Fußpflege führt“. Eine wichtige Maßnahme sei die Edukation des Patienten, wie er seine Füße angemessen pflegt und täglich inspiziert. Duft dazu: „Aufgrund der Neuropathie ist die Haut oft trocken und rissig. Der Säureschutzmantel bricht zusammen und das Risiko für Weichteilinfektionen steigt“.

Grundsätzlich gibt es je nach Diagnose unterschiedliche Schmerzqualitäten und andere schmerzauslösende Momente. Wird eine schon länger bestehende, schmerzlose Wunde plötzlich als schmerzhaft wahrgenommen, begleitet von der Zunahme des Exsudat-Volumens und einer dunkelroten bis lividen Verfärbung des Granulationsgewebes, spricht das für eine bakterielle Belastung und erfordert die Einleitung einer lokalen antimikrobiellen Therapie. „Manche Patienten beschreiben Schmerzen nur beim Verbandswechsel, im Speziellen wenn konventionelle, trockene Wundversorgung praktiziert wird. Dies führt zum Austrocknen des Wundgrundes und zum Einkrusten sowie Verkleben des Verbandes mit dem Wundgrund. Beim Wechsel dieser trockenen Verbände kommt es zur Traumatisierung des Wundgrundes und auch der intakten Haut“, berichtet Duft. Schmerzen entstehen auch, wenn Verbände mit Acrylat-Klebstoffen unter Spannung angelegt werden, oder wenn Wundauflagen mit Fixierbinden zirkulär auf Zug fixiert werden und die Extremität dadurch lokal gestaut wird und damit die Schwellung an einer Stelle zunimmt. Solche schmerzauslösenden Faktoren gelte es zu vermeiden.

Chronische Wunden erfordern von den behandelnden Personen eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit. „Auch wenn es sich teils schwierig und langwierig darstellt, sollte bereits früh auf das Kausalitätsprinzip und die genaue Einordnung der Wunde wert gelegt werden“, betont Weber. Nur so könne in vielen Fällen eine rasche Abheilung erzielt und die Chronizität nachhaltig verhindert werden. In der Regel dauert es jedoch oft Wochen oder Monate. Problematisch sei schließlich, dass diese Patienten auch häufig noch andere Erkrankungen haben wie zum Beispiel Hüft- oder Knieprobleme, für welche die Abheilung des Ulcus wichtig sei. „Um bakterielle Komplikationen zu vermeiden, wollen viele Chirurgen Operationen natürlich erst dann durchführen, wenn das Ulcus nicht mehr da ist, und so kann schnell ein Circulus vitiosus entstehen“, weiß der Experte.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2021