Spitalsalltag in der Pandemie: Verstrickte Widersprüche

25.04.2021 | Aktuelles aus der ÖÄK, Coronavirus


Intensivmediziner Eiko Meister spricht über die Experten in der öffentlichen Wahrnehmung, die Frage nach Kapazitäten und Versorgungsstrukturen sowie steigende Unzufriedenheit bei Spitalsmitarbeitern.
Sophie Niedenzu

Vor einem Jahr haben Sie erzählt, dass die EBA (Erstversorgung, Beobachtung, Aufnahme) des Uniklinikums Graz geteilt wurde: In eine COVID-Station und eine zentrale Notaufnahme, die räumlich den Bestellambulanzen der Chirurgie zugeordnet war. Wie ist die Situation heute? Wir wurden am Ende der ersten Welle als ZNA wieder aufgelassen, weil die Chirurgie die Räume benötigt hat. Bis zum Herbst wurde die EBA massiv ausgebaut und in der Fläche etwa verdoppelt. Damit haben wir genug Platz, die internistischen Patienten und neurologischen Patienten zu versorgen. Für den EBA-Ausbau hat die KAGes wirklich Geld in die Hand genommen, inklusive Ausstattung. Beim Personal gab es hingegen keine wesentlichen Veränderungen. Insgesamt war die ZNA eine interessante Zeit – insbesondere was den direkteren Kontakt zwischen den Disziplinen angeht. Aber es war auch Flexibilität von allen nötig um die Prozesse aufeinander abzustimmen. Das war nicht immer einfach. Im Hinblick auf die definitive ZNA wurde klar, dass vieles zu überlegen ist, Stichwort Trennen von infektiösen und nichtinfektiösen Patienten. Das wurde bisher nicht bedacht.

Wenn Sie auf ein Jahr Pandemie zurückblicken – wie hat sich der Spitalsalltag verändert? Er ist komplizierter geworden. Ähnlich wie in der Grippewelle muss man potentiell positive Patienten von anderen trennen. Das erhöht die logistische Herausforderung, weil überall COVID-Bereiche, insbesondere in den Ambulanzen, eingerichtet werden mussten. Insgesamt zehrt das Jahr mittlerweile an den Kräften der COVID-Abteilungen, weil kein Ende in Sicht ist. Das komplexere Management hat Auswirkungen auf die Arbeitsverdichtung, Visiten auf COVID-Station sind durch das Tragen von Schutzausrüstung mühsamer geworden. Die Impfung wird aber trotz der medialen Diskussion überwiegend gut angenommen.

Inwiefern äußert sich die Belastung beim Personal? Es gibt teilweise mehr Krankenstände. Die sind aber eher COVID-Infektionen zuzurechnen. Über die psychische Belastung gibt es wenig Informationen. Die KAGes hat im Rahmen von Bonifikationsaktionen Sonderurlaubstage für die COVID-Abteilungen beschlossen. Ob die schon aufgebraucht wurden, ist zu bezweifeln. Allgemein habe ich den Eindruck, dass sowohl bei Patienten, als auch bei Mitarbeitern die Unzufriedenheit steigt und sich das teils in aggressiverem Verhalten ausdrückt.

Was ist Ihr Resümee nach einem Jahr Pandemie? Es fehlt die wissenschaftliche Begleitung und die „lessons learned“ sind überschaubar. In der ersten Welle haben noch alle mitgemacht, weil man nicht wusste, was kommt. Dann hat sich jeder, der was zu sagen hatte oder auch nicht, ein Expertengremium gehalten, die sicherheitshalber nicht miteinander geredet haben. Und die Infektiologen, Virologen und Epidemiologen haben sich in der öffentlichen Wahrnehmung ebenso vermehrt wie das Virus. Da sind Leute am Wort gewesen, die das Gesundheitswesen nicht einmal von außen kennen. Aber auch die Insider haben sich zunehmend in Widersprüche verstrickt. Und wenn das die Politik dann übernimmt, kommt das heraus, wo wir momentan stehen. Was sicher sinnvoll war, war, über die Versorgungsstrukturen und deren Kapazitäten nachzudenken. Diese Gedanken sind aber nach der ersten Welle stecken geblieben.

Wo liegen die größten Probleme? Es gibt noch immer keinen allgemeinen Pandemieplan, keinen Impfplan und keine Idee, wie man sich in Zukunft aufstellen soll. Die Vernetzung mit der Niederlassung ist gescheitert. Und das obwohl die ECDC die Primärversorgung als ersten Ansprechpartner in Pandemien sieht. Man muss das Rad nicht neu erfinden, das ECDC hat sehr gut ausgearbeitete Empfehlungen, vom Abstrich bis zur Grenzschließung. Ein zusätzliches Problem ist längstens seit dem Impferlass vom 5. Jänner der Föderalismus, der in einer Pandemie hinderlich ist. Vielleicht denkt man in der Folge über eine wirkliche Verfassungsreform nach. Das System Bund – Länder – Bezirkshauptmannschaften ist zu langsam, kompliziert und überfrachtet, nicht nur im Gesundheitsbereich, wo es zum Beispiel neun Krankenanstaltengesetze gibt. Es gibt viel zu tun nach der Pandemie – das müssen aber die Beteiligten auch wollen.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2021