Lücken im Gesundheitssystem: Der Blick nach vorn

10.05.2021 | Aktuelles aus der ÖÄK


Auf den neuen Gesundheitsminister, den Allgemeinmediziner Wolfgang Mückstein, warten zahlreiche Herausforderungen. In der Pandemie ist Weitblick bei der Impfstrategie gefragt, unabhängig von der Pandemie muss das Personal sichergestellt werden, um um auch die Qualität in der Arztausbildung gewährleisten zu können. Zudem müssen Lücken bei offenen Kassenstellen geschlossen werden.
Sophie Niedenzu, Sascha Bunda

Bequeme Sportschuhe. Die sind Voraussetzung, um einen Marathon zu laufen. Und in diesem befinden wir uns laut der Bundesregierung seit über einem Jahr Pandemie. Die passenden Schuhe hat der neue Gesundheitsminister, Wolfgang Mückstein, bereits parat, wie viele Medien ausführlich analysiert haben. Der Allgemeinmediziner und Leiter eines Primärversorgungszentrums in Wien folgt Rudolf Anschober, der aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten ist. Die Österreichische Ärztekammer spricht Anschober Anerkennung für seine Entscheidung aus: „Nach einem so herausfordernden Jahr die Größe zu zeigen und seine Grenzen einzugestehen, verdient ausschließlich Anerkennung“, betonen ÖÄK-­Präsident Thomas Szekeres sowie der Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte, Johannes Steinhart und der Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte, Harald Mayer. Viel Atempause bleibt dem Neo­Gesundheitsminister nicht, denn es gibt viel zu tun: Nicht nur, was das Management der Pandemie angeht. Es gibt noch weitere Herausforderungen und Lücken im Gesundheitssystem abseits von COVID. Ein grundsätzliches Problem in der Pandemie sei der geringe Datenaustausch, sagt Szekeres: „Digitalisierte Daten bergen ein großes Potenzial, die medizinische Forschung schneller voranzutreiben, das sollte auch genutzt werden.“ Szekeres sieht in den medizinischen Daten die Chance, Medikamente leichter zu identifizieren, die eventuell vor schweren COVID­-19­-Verläufen schützen können.

Impfplan der Zukunft

Neben dem Sammeln von Informationen über COVID-­19-­Erkrankte und dem Austausch von medizinischen Daten ist eines sehr wesentlich, um das Gesundheitssystem zu unterstützen und zu stabilisieren: Die Impfung. Das gilt nicht nur für dieses, sondern auch für die nächsten Jahre: „Es geht hier nicht nur darum, die Bevölkerung österreichweit konsequent, rasch und gut organisiert durchzuimpfen, sondern ebenso dringlich ist eine langfristige Impfstrategie“, sagt Mayer. Es müssten konkrete Impfpläne für COVID-­19­Impfungen in den nächsten Jahren erstellt werden, sei es, weil Auffrischungen notwendig werden, oder weil die Impfstoffe mutationsbedingt adaptiert werden müssen. Hier fehlt dem Spitalsärztevertreter ein klares Zukunftskonzept: „Wir müssen mit dem Virus leben und daher muss sichergestellt werden, dass auch in der Zukunft genügend Impfstoff verfügbar ist“, sagt er. Eine langfristige Strategie beinhalte daher auch Vertragsabschlüsse für Impfstofflieferungen in den nächsten Jahren, nicht nur für 2021.

Die Auslastung der Spitäler sei schließlich gerade in Pandemiezeiten entscheidend, sagt Mayer. „Die Menschen einfach nur einzusperren, ist keine Lösung, es muss hier zugunsten der Lebensqualität gehandelt werden – und dazu gehört: impfen, impfen, impfen.“ Zudem koste der Lockdown täglich wesentlich mehr als ein möglicher Überschuss an Impfstoffen, der an andere Länder weitergegeben werden könne. Das Wirtschaftsforschungsinstitut geht auf Basis der Berechnungen für den wöchentlichen WIFO-­Wirtschaftsindex (WWWI) von Ende März von circa 200 bis 250 Millionen Euro Kosten pro Woche Lockdown aus. Das sei der Effekt der erneuten Schließungen des Handels und der personennahen Dienstleistungen im Osten Österreichs zusätzlich zur bestehenden Schließung von Gastronomie und Beherbergungsbetrieben in ganz Österreich. Grundsätzlich habe der Lockdown im Jänner etwa ein bis 1,2 Milliarden Euro pro Woche gekostet, der Teillockdown im Februar/März in etwa 500 bis 600 Millionen pro Woche, lautet die grobe Schätzung des WIFO. Diese Zahlen würden einmal mehr zeigen, dass die Investitionen in die Impfungen beziehungsweise in das Gesundheitssystem wesentlich zielführender seien, betont Mayer.

Neben dem wirtschaftlichen Aspekt gilt es auch, die psychosozialen Folgen von Lockdowns zu beachten. Diese hat Mückstein kurz nach seiner Angelobung thematisiert. Er plädiert dafür, die Folgen wie Vereinsamung und Depressionen verstärkt in den Fokus zu rücken. Wie wichtig das ist, hat der Psychiater Michael Musalek im Rahmen einer Pressekonferenz mit Zahlen untermauert. Eine vom Gallup­Institut durchgeführte Befragung unter 1.000 Österreichern im Mai 2020 sowie im März 2021 hat gezeigt, dass die psychische Belastung zugenommen habe, besonders stark sei dies bei den 18­ bis 30-­Jährigen sowie bei Frauen zu bemerken. Knapp die Hälft der 18­ bis 30-­Jährigen gaben an, psychisch belastet zu sein – hochgerechnet würde das bedeuten, dass Dreiviertel der 18­ bis 30-Jährigen psychisch belastet seien, würde die Pandemie noch ein weiteres Jahr dauern, betonte Musalek. Als besonders ausschlaggebend für die Gereiztheit, Energielosigkeit und den Erschöpfungszustand seien in erster Linie die Restriktionen, zudem spiele die fehlende Tagesstruktur eine große Rolle.

Ärztliche Ressource

Impfungen helfen, Spitäler zu entlasten. Ein weiteres Ziel müsse sein, so Mayer, bestehendes Personal zu halten. Wie öffentlich bekannt wurde, haben ein Fünftel der Intensivpflegekräfte im KH Eisenstadt gekündigt, ebenso seien in Oberösterreich in einem Spital sieben von 18 Pflegekräften gegangen: „Das sind nur ein paar Beispiele, wie belastend die Situation in den Spitälern ist und welche Folgen es hat, wenn nicht reagiert wird“, sagt Mayer. Es sei dramatisch, wenn Expertise verloren gehe. Frustrierend sei zudem, dass bei der Gesundheit aufs Geld geschaut werde, während die Regierung gleichzeitig Millionen für Eigenwerbung ausgibt: „Das ist eine deutliche Schieflage und ein völlig falscher Umgang mit dem Geld der Steuerzahler“, kritisiert der ÖÄK­Vizepräsident.

Die Regierung hatte, noch vor dem Wechsel im Gesundheitsministerium, finanzielle und arbeitsrechtliche Verbesserungen für das intensivmedizinische Personal angekündigt. Das werde grundsätzlich von der ÖÄK begrüßt, jedoch seien noch keine Details bekannt. Auf Nachfrage hieß es im Gesundheitsministerium, dass noch verhandelt werde (Stand 26. April). „Wertschätzung für das Intensivpersonal allein ist zu wenig, das gesamte Gesundheitspersonal muss mit allen Mitteln gehalten werden“, sagt Mayer. Hier dürfte Bewegung ins Spiel kommen, denn Mückstein hatte sich in einer seiner ersten öffentlichen Auftritte dazu geäußert, dass Danksagungen und Schulterklopfen in der Krise zwar wichtig seien, am Ende drücke sich Wertschätzung aber auch über den Gehaltszettel aus.

Neben der finanziellen Wertschätzung müsse auch in das ärztliche Personal investiert werden, fordert die ÖÄK. Denn die Lage in den Spitälern sei schon seit längerem prekär, betont der Intensivmediziner Daniel von Langen, Obmann der Bundessektion Turnusärzte. Die in Aussicht gestellte arbeitsrechtliche Stärkung sei erfreulich und überfällig, müsse aber den gesamten Gesundheitsbereich betreffen, nicht nur die Intensivmedizin: „Die Intensivmedizin ist bereits im Normalbetrieb meist voll genutzt, langfristige Investitionen ins öffentliche Gesundheitssystem sind längst überfällig, völlig unabhängig von einer Pandemie“, betont er.

Ein Weg sei die Ausbildung von entsprechendem Personal, ebenso wäre Zeit gewesen das Personal umzuschulen und die Belastung zu verteilen: „Die Pandemie hält uns bereits seit über einem Jahr in Atem, es wäre genug Zeit gewesen, eine Ausbildungsoffensive von medizinischen Fachkräften umzusetzen“, kritisiert von Langen. Das Virus werde auch weiterhin die Spitäler zusätzlich belasten. Es gelte hier, das Gesundheitssystem zu stabilisieren. Laut dem Gesundheitsministerium würden „richtig nachhaltige Konzepte über rasche und mobile Aufwuchsfähigkeiten leistungsstarker Intensivstationen wohl erst nach der Pandemie und ihrer erschöpfenden Analyse möglich sein“.

Ein weiterer Punkt: Investitionen in die Spitäler sind notwendig, um den Ärztenachwuchs zu stärken. Die Qualität der Arztausbildung leide darunter, dass die Zeit für die Ausbildung kaum vorhanden sei. Unabhängig von der Pandemie verdichtet sich die Arbeit in den Spitälern zusehends. Grund dafür seien auch offene Kassenstellen, die dazu führen, dass Spitalsärzte als Hausärzte einspringen müssen: „Es ist nicht Aufgabe der Spitalsärzte, Versorgungsdefizite im niedergelassenen Bereich auszubaden“, stellt Mayer klar. Im Burgenland beispielsweise werden Spitalsärzte bereits eingesetzt, um Lücken in der niedergelassenen Versorgung aufgrund von unbesetzten Kassenstellen zu kompensieren. Ebenso in Niederösterreich. Gemeinden, die über zwölf Monate keinen Allgemeinmediziner auf Kasse mehr haben, sollen einerseits mit Geld und andererseits mit einem Mediziner aus den Landeskliniken unterstützt werden: „Diese Entwicklung gehört gestoppt“, sagt Mayer. Zudem sei die enge Personalplanung grundsätzlich ein Thema, das den Spitälern zusetze. Denn sie sei ein Bremsklotz, auch für die Ausbildung. Ärzte in Ausbildung würden als volle Arbeitskraft eingeplant werden, obwohl sie noch in der Lernphase seien: „Das ist fatal“, kritisiert Mayer. Spitäler müssten entlastet – und nicht weiter belastet – werden. „Koste es, was es wolle“, müsse es auch für die Umsetzung des Regierungsprogramms heißen. In dem ist die Rede von einer nachhaltigen finanziellen Absicherung der hohen Qualität der Gesundheitsversorgung, von einer bedarfsorientierten Ausbildung von Ärzten sowie von einem niederschwelligen Zugang zur bestmöglichen medizinischen Versorgung. „Die Ressourcen sinnvoll einzusetzen, heißt, die Spitäler vor jenen Patientenfällen zu entlasten, die ebenso im niedergelassenen Bereich behandelt werden könnten“, betont Mayer: Mückstein habe jedenfalls Einblick in die Herausforderungen im Gesundheitssystem: „Als Allgemeinmediziner mit einem Kassenvertrag weiß er genau, wo der Schuh drückt“, sagt Steinhart. Er hofft nun auf ein Umdenken im Ministerium und fordert ein Ende des „verheerenden Spins der Nuller­Jahre“. Es brauche jetzt keine Dämpfungspfade mehr im Gesundheitssystem, sondern im Gegenteil Erhöhungspfade. „Dieser Pfad muss an die medizinische Entwicklung angepasst werden“, betont Steinhart. Die aktuelle Pandemie habe gezeigt, wie wichtig es ist, ein Gesundheitssystem zu haben, das auch große Belastungen stemmen kann. Man könne sich nicht ständig am Minimum orientieren, das im Alltag anfalle. „Spätestens COVID-­19 sollte jedem gezeigt haben, welche extremen Herausforderungen auf ein Gesundheitssystem zukommen können – und es ist nicht anzunehmen, dass COVID­-19 die letzte Pandemie war, die es jemals gegeben hat. Im Gegenteil“, so Steinhart. Kurz gesagt brauche es nun eine Abkehr von der unglücksseligen Rotstiftpolitik im Gesundheitswesen hin zu einer visionären und zukunftsorientierten Politik, die ihre Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen ernst nimmt.

Besondere Erwartungen verbindet auch Edgar Wutscher, Obmann der Bundessektion Allgemeinmedizin, mit dem  neuen Minister. „Von Allgemeinmediziner zu Allgemein mediziner setze ich natürlich ein großes Maß an Verständnis für die Herausforderungen unseres Faches voraus und wünsche mir, dass wir als niedergelassene Allgemeinmediziner wieder mehr unterstützt werden“, sagt er. Dazu gehöre auch neue Wertschätzung für die Allgemeinmedizin. Zudem wünscht sich Wutscher, dass der neue Minister die Primärversorgungseinheiten als Ergänzung zur Versorgung durch die Allgemeinmediziner in Einzelpraxen sieht. „PVE können aus meiner Sicht kein Ersatz für die wohnortnahe Versorgung sein, sondern sie können vor allem in Ballungsräumen eine gute Ergänzung sein – auch wenn das manche Patientenanwälte einfach nicht verstehen wollen.“ In der in Österreich vorherrschenden ländlichen bis kleinstädtischen Struktur mitsamt oft äußerst mangelhaft ausgebautem öffentlichen Verkehr führe kein Weg an den Hausärzten vor Ort, im Idealfall mit Hausapotheke ausgestattet, vorbei, sagt Wutscher, der noch einen weiteren Wunsch an den Minister auf dem Herzen hat: „Das ist eine wohlwollende Beurteilung des neuen und modernen einheitlichen Leistungskataloges, den wir in Kürze der Österreichischen Gesundheitskasse und der Öffentlichkeit präsentieren werden.“ Dieser Katalog ist das Ergebnis eines Großprojektes und soll als Grundlage für eine österreichweite Leistungsharmonisierung im kassenärztlichen Bereich dienen, sagt Wutscher.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2021