Interview: „Wie ein Déjà-vu“

11.10.2021 | Aktuelles aus der ÖÄK

Christian Lutsch ist Notarzt und Intensivmediziner im Krankenhaus Braunau, Mitglied im Bezirkskrisenstab und ein Arzt an der örtlichen Impfstraße des Landes. Im Interview mit Sophie Niedenzu spricht er über verschiebbare Operationen, die Personal- und Ausbildungssituation und warum die Folgen einer schweren SARS-CoV-2-Infektion für viele abstrakt bleiben.

Sie erleben als Intensivmediziner die Pandemie im Arbeitsalltag – wie geht es Ihnen? Man nimmt es, wie es kommt. Die Situation ist herausfordernd, man muss sich neu adaptieren. Wir wussten zu Beginn nicht, welche Therapien möglich sind, welche Ausmaße die Pandemie annimmt und man versucht, das Beste draus zu machen. Anfangs ging es auch viel um Eigen- und Patientenschutz, Unterbrechung von Infektionswegen und Schutzausrüstung. Dieses Thema ist jetzt deutlich entspannter, wir haben entsprechende Vorräte. Grundsätzliche Fragen waren auch, wie wir mit den Elektivpatienten umgehen, ob unser Basisprogramm im Spital weiterlaufen kann. Wir haben bereits vor der Pandemie unter Personalmangel gelitten und das fällt einem in einer Krisensituation besonders auf, erst recht wenn der Aufruf kommt, man muss die Intensivkapazitäten erweitern. Das Personal bildet man ja nicht von heute auf morgen aus.

Apropos Ausbildung: Wurden mehr Jungärzte angestellt? Wir haben das geographische Problem unserer peripheren Lage. Einige Dinge der Spitalsreform und der ärztlichen Ausbildungsreform gingen schon deutlich an unserer Spitalsgröße und Schwerpunktausrichtung vorbei. Auch hat die Akademisierung der Pflegeausbildung die Eingangshürde nach oben gesetzt. Wir haben dadurch nicht nur den Diplompflege-Schulstandort verloren, sondern eine sehr gute und patientenorientierte Form der Ausbildung. Es gibt im Spital große Bemühungen, geeignetes Personal zu finden, die Nähe zu lukrativeren Arbeitsbedingungen in Salzburg oder in Deutschland ist aber schon sehr fordernd. Aus Gesprächen mit Kollegen hat man den Eindruck, dass die Arztausbildung in Deutschland allerdings viel theoriezentrierter ist und man dort auch behüteter ausgebildet wird. Wir haben eher eine sehr praxisnahe Ausbildung und teilen beispielsweise frühzeitig Notarztdienste ein.

Inwiefern war es möglich, das Basisprogramm laufen zu lassen? In unserer Abteilung betreuen wir sowohl die Operationen anästhesiologisch, als auch die Intensivstation. Dringliche onkologische OPs wurden immer durchgeführt, und auch ein akuter Blinddarm, ein Kaiserschnitt oder eine Trauma-Versorgung konnten nicht aufgeschoben werden. Diese Operationen haben wir auch weiterhin durchgeführt, aber beispielsweise Knieprothesen ein wenig verschoben. Auch diese sollten aber nicht ewig aufgeschoben werden, denn die Patienten haben ja Schmerzen. Wir mussten dann von einigen Elektivoperationen den OP-Stau in Extraschichten abbauen. Der Sommer hat allerdings gutgetan, da konnten wir ein paar Überstunden abbauen. Derzeit (Stand 21.9.) diskutieren wir darüber, ob wir wieder einiges verschieben müssen, weil es einen Sprung in der Bettenbelegung durch COVID-Patienten gegeben hat. Das wirkt sich auf das anästhesiologisch operative Intensivmanagement aus. Noch geht es, aber mir kommt es wie ein Déjà-vu vor, mit dem Unterschied, dass es besser sein könnte als 2020, weil wir jetzt die Impfmöglichkeit haben. Bis jetzt sind alle intensivpflichtigen COVID-Patienten bei uns ungeimpft. Manche der Patienten bereuen mittlerweile, dass sie nicht geimpft sind, aber andere bleiben impfskeptisch.

Wie lässt sich diese Impfskepsis erklären? Die wissenschaftlichen Zahlen sprechen für sich und ein schwerer Krankheitsverlauf steht in keiner Relation zu Impfreaktionen. Dennoch wurden lange Zeit Impfmythen von offizieller Stelle nicht kommentiert. Wir haben beispielsweise in den Impfstraßen Schwangere geimpft, komplikationslos. Vielen fehlt der Einblick, was hinter der Tür zur Intensivstation passiert. ‚Das ist und bleibt abstrakt. Sehr wohl wird aber bekannt, wenn andere nach der Impfung Fieber hatten und im Krankenstand waren. Es ist klar, dass bei einer neuen Impfung Unsicherheiten vorhanden sind und nicht jeder uneingeschränkten Zugang zu validen Informationen hat. Und im Internet steht dann auch nicht immer etwas Kluges. Wir hatten nach der medialen Berichterstattung und mit Einführung der Ausreisekontrollen wieder einen Frequenzanstieg in den Impfstraßen. Zusätzlich haben wir einen Impf-Bus und Pop-up-Impfstationen im Bezirk. Aus den allgemeinmedizinischen Vertretungen bemerkt man, dass der Hausärztemangel auch ein großes Problem ist. Sprachbarrieren sind ebenfalls ein Thema. Großfamilien mit Migrationshintergrund finden kaum Ansprechpartner, die ihre Sprache sprechen, häufig ist in diesen Communities Präventionsmedizin kein Thema. Man müsste sich für die Meinungsbildner dieser Gruppen niederschwellig besser erreichbar machen.

Wie sieht es mit der psychischen Belastung aus? Unser Vorteil ist, dass wir ein kleines Krankenhaus sind, wir kennen uns fast alle untereinander, da ist die Psychohygiene einfacher. Wir fangen uns oft gegenseitig auf, das ist in einer großen Klinik sicherlich schwieriger. Dass man aufgrund von Arbeitsbelastungen Personalfluktuation hatte, kann man nicht wegdiskutieren, aber durch die kleinere Struktur ist das bei uns bisher lösbar gewesen. Man weiß, wo man hingehen muss, die Hierarchie ist flacher. Wir diskutieren schwierige Fälle in der Morgenbesprechung, teilen uns den Pausenraum mit der Pflege, was dazu führt, dass wir einen guten Informationsfluss haben, mit kurzen Wegen und raschen Rückmeldungen.

Lässt sich ein Profil der COVID-Patienten erstellen? COVID-19 ist ein wenig eine Wundertüte. Die typischen Risikofaktoren wie Adipositas und geschwächter Immunstatus sind natürlich das Thema. Auf der Intensivstation liegt derzeit eine 80-Jährige mit vielen Vorerkrankungen, aber auch eine 40-Jähriger ohne Vorerkrankungen. Beide sind halt nicht geimpft. Das spiegelt sich auch auf der COVID-Normalstation wider. Da liegen um die 20 Patienten von einer Schwangeren in der Woche 33 bis zu über 70-Jährigen Patienten nach einer Schenkelhalsfraktur und die protrahierten Verläufe haben eine Gemeinsamkeit: nicht geimpft.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2021