BKNÄ: Modellrechnung zu Ärztemangel: Welche Maßnahmen helfen

11.10.2021 | Aktuelles aus der ÖÄK

Simulationsforscher Niki Popper und sein Team zeigen, welche Interventionen positive Einflüsse auf die ärztliche Versorgung der Zukunft haben können – und wie sehr die Zeit drängt.

In einer von der Bundeskurie Niedergelassene Ärzte beauftragten Studie haben die Simulationsforscher Niki Popper und Claire Rippinger anhand von Rechenmodellen analysiert, mit welcher Entwicklung der Ärztinnen- und Ärztezahlen unter welchen Bedingungen zu rechnen ist. „Wir wollten wissenschaftlich fundiert wissen, wie sich bestimmte Interventionen zum Beispiel in der ärztlichen Ausbildung oder eine Attraktivitätssteigerung der kassenärztlichen Rahmenbedingungen auf die künftigen Ärztezahlen auswirken würden“, sagt Johannes Steinhart, Obmann der Bundeskurie Niedergelassene Ärzte und ÖÄK-Vizepräsident. „Das ist eine wichtige Grundlage für kompetente gesundheitspolitische Entscheidungen.“ Berücksichtigt wurden dabei Allgemeinmediziner und Fachärzte, bei letzteren besonders Fächern mit bereits bestehender deutlicher Knappheit.

In den nächsten zehn Jahren ist aufgrund der Altersstruktur mit einem Rückgang der Ärztezahlen um ca. 5,5 Prozent von aktuell rund 47.000 auf 44.400 im Jahr 2030 zu rechnen, so die Studienautoren: „Dieser Rückgang wirkt sich vor allem auf die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte aus.“

Nach 2030 bleiben die Zahlen bei den niedergelassenen Allgemeinmedizinern relativ konstant, während die Zahl der Fachärzte vor allem bei Ärzten mit Kassenvertrag wieder steigt. Die österreichweiten Entwicklungen im niedergelassenen Bereich bis zum Jahr 2030 in ausgewählten Fächern:

  • Die Zahl der niedergelassenen Allgemeinmediziner fällt bei den Kassenärzten von 4.100 auf 3.450 und bei den Wahl- und Privatärzten von 4.500 auf 3.800. Danach bleiben die Zahlen konstant auf diesem niedrigen Niveau.
  • Die Zahl der Augenärzte sinkt. Am stärksten betroffen sind Kassenärzte, deren Anzahl sinkt von 400 auf 300.
  • Bei den Frauenärzten gibt es vor allem bei den Kassenarztpraxen einen starken Rückgang von 440 auf 280.
  • In der Innere Medizin fallen bei den Kassenärzten die Zahlen von 500 auf 350, bei den Wahl- und Privatärzte von 1.600 auf 1.300.
  • In der Urologie fällt die Zahl der Kassenärzte von 200 auf 150. Starke Ausreißer bei den Wahl- und Privatärzten sind wegen der geringen Ärztezahlen statistisch nicht relevant.
  • Auch bei den restlichen Fachrichtungen ist mit einem Rückgang zu rechnen. Dieser zeigt sich verstärkt bei den Kassenärzten, hier fällt die Zahl von 1.850 auf 1.400. Die Zahl der Wahl- und Privatärzte fällt von 6.500 auf 6.000.
  • Eine Ausnahme von diesem rückläufigen Trend sind die Kinderärzte, deren Zahl in den nächsten Jahren ansteigt, bedingt durch die aktuell belegten Ausbildungsstellen.

In einem weiteren Schritt wurde untersucht, welchen Einfluss bestimmte Maßnahmen haben können.

Szenario: post-universitäre Ausbildung

Laut Ärztekammerdaten haben in den letzten 10 Jahren 22 Prozent der Personen mit inländischem Universitätsabschluss keine Turnusausbildung in Österreich begonnen. Wie würde es sich auswirken, wenn nur 15 Prozent keine Ausbildung in Österreich beginnen? „Zunächst ist keine Steigerung der Ärztinnen- und Ärztezahlen in den nächsten fünf Jahren zu beobachten.

Dies ist dem Umstand geschuldet, dass es mindestens 3,5 Jahre dauert, bis die zusätzlichen Ausbildungsanfänger ihre Ausbildung abschließen und als Berufstätige aufscheinen“, so die Studienautoren.

Szenario: Ausbildungsplätze in Krankenhäusern

Zur postuniversitären Ausbildung in Krankenhäusern wurden zwei Szenarien errechnet: Die Zahl der Ausbildungsstellen bleibt wie bisher, und Studienabsolventen dürfen bestimmte Bundesländer bevorzugen. Bzw. Krankenhäuser können bis zu 20 Prozent mehr Ausbildungsplatze anbieten, wobei regionale Präferenzen der Absolventen für ihren Ausbildungsplatz nicht berücksichtigt werden. „Regionale Präferenzen führen dazu, dass die verfügbaren Ausbildungsstellen nicht optimal belegt sind und die Ärztezahlen noch weiter sinken“, errechnen die Studienautoren. „Andererseits führen sogar erhöhte Ausbildungsplatzzahlen nur zu einem verhältnismäßig kleinen Plus an berufstätigen Ärzten.“

Selbst bei einer sehr hohen Anzahl von Ausbildungsanfängern könne der pensionsbedingte Rückgang an berufstätigen Ärzten frühestens in etwa 15 Jahren ausgeglichen werden. Welche Auswirkungen hätte eine Attraktivitätssteigerung von Kassenverträgen? Dafür wurden in der Studie Szenarien definiert, in denen ein gewisser Anteil (5%, 10%, 15%, 20% oder 25%) der Wahl- und Privatärzte einen Kassenvertrag annehmen. „Wie zu erwarten, steigt die Anzahl der Kassenärzte in allen Fachgebieten gegenüber dem Basisszenario“, so die Studienautoren. „Welcher Anteil der Wahl- und Privatärzte einen Kassenvertrag aufnehmen muss, damit der pensionsbedingte Rückgang der Kassenärzte ausgeglichen wird, hängt von der jeweiligen Fachrichtung ab.“

Würden etwa von den Wahlärzten unter den Allgemeinmedizinern 25 Prozent aufgrund gesteigerter Attraktivität der Rahmenbedingungen dauerhaft zu einem Kassenvertrag wechseln, könnte der pensionsbedingte Rückgang innerhalb der nächsten 15 Jahren ausgeglichen werden. Dann hätten von den niedergelassenen Allgemeinmedizinern rund 60 Prozent, statt wie bisher 47 Prozent einen Kassenvertrag.

Rahmenbedingungen optimieren

Seit mehr als zehn Jahren machen auch die Allgemeinmediziner in der Ärztekammer immer wieder darauf aufmerksam, dass ein Ärztemangel drohen wird. „Auch durch die vorliegende Studie wird dieser Umstand wieder bewiesen“, so Edgar Wutscher, Obmann der Bundessektion Allgemeinmedizin in der ÖÄK. „Leider zeigen die politisch Verantwortlichen und Vertreter der Sozialversicherung nur in Sonntagsreden auf, dass hier etwas getan werden muss. Konkret lassen sich Gespräche vermissen. Es hilft niemanden, schon gar nicht den Patienten, wenn man von Attraktivierung der Kassenverträge für Allgemeinmediziner spricht, wenn man von Kassenstellen für alle spricht, und nicht zur Kenntnis nimmt, dass diese in vielen Bereichen derzeit unattraktiv sind und überhäuft mit Bürokratie.“ Die von der Ärztekammer erarbeiteten Vorschläge neuer Zusammenarbeitsformen und Ähnliches müssen mit Leben erfüllt werden. Die Bürokratie müsse kräftig entstaubt werden. Leistungsfeindliche Bestimmungen in den Honorarverträgen gehörten endlich entfernt, fordert Wutscher: „Nur dann werden sich jungen Kolleginnen und Kollegen dazu entschließen, einen Kassenvertrag für Allgemeinmedizin zu nehmen.“

Unterschiedliche Auswirkungen

Bei den einzelnen Fächern hätte eine Attraktivitätssteigerung der Kassenverträge unterschiedliche Auswirkungen: „Insbesondere bei Fächern, bei denen derzeit der Großteil der Niederlassungen keinen Kassenvertrag haben, ergibt sich hier ein großes Potential, um den pensionsbedingten Rückgang der Kassenärzte auszugleichen. Bei anderen Fachrichtungen kann dieser Rückgang lediglich abgeschwächt und nicht komplett ausgeglichen werden“, so die Studienautoren. Ihre Folgerung: „Es benötigt deswegen eine Kombination aller Maßnahmen, um den Gesamtrückgang der Ärztinnen und Ärzte in Österreich abzubremsen und eine ausreichende Versorgung durch Kassenärztinnen und – ärzte gewährleisten zu können.“ Ein weiterer wichtiger Schritt sei es, so Popper, die auf Personenzahlen beruhenden Ergebnisse der Studie bezüglich der Zahl der Vollzeitäquivalenten zu evaluieren, um zusätzliche Hinweise auf die Versorgungswirksamkeit zu bekommen.

Maßnahmen-Mix

„Diese Ergebnisse bestätigen sehr deutlich unsere langjährigen Forderungen nach einem geeigneten Maßnahmen-Mix, um die künftigen Ärztezahlen zu erhöhen und die Attraktivität der Niederlassung zu erhöhen“, bilanziert Steinhart. „Das bedeutet zum Beispiel flexible Kassenverträge, die nicht nur individuelle Bedürfnisse von Ärzten berücksichtigen, sondern auch regionale Versorgungsengpässe ausgleichen können. Das bedeutet weniger Bürokratie und natürlich mehr öffentliches Geld für den niedergelassenen ärztlichen Bereich.“ Jetzt sei es wichtig, im Detail zu analysieren, warum immer mehr Ärzte den Kassenbereich uninteressant finden: „Mit entsprechend gezielten und attraktiven Angeboten müsste es gelingen, hier in relativ kurzer Zeit einen Shift von Wahlärzten in den Kassenbereich zu bewirken.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2021