Por­trät Stef­fen Sas­sie: Der Geist des Arz­tes im Kör­per des Patienten

10.09.2020 | Politik


Stef­fen Sas­sie war seit 2010 Chef­arzt einer kar­dio­lo­gi­schen Kli­nik in Baden-Würt­tem­berg, als er vier Jahre spä­ter in Folge einer para­in­fek­tiö­sen Ent­zün­dung ein Locked-in-Syn­drom erlitt. In mühe­vol­ler Klein­ar­beit schrieb er via PC ein Buch über sein Erle­ben. „Vita minima“ ist Teil sei­nes uner­müd­li­chen Bestre­bens, sein Bes­tes und auch dem neuen Leben einen Sinn zu geben.
Ursula Scholz

Vita minima – so heißt das Buch von Stef­fen Sas­sie. Mit einem beschau­li­chen Mini­mun­dus hat sein Werk aller­dings nichts zu tun. Nüch­tern betrach­tet er darin, wel­che Wende sein Leben genom­men hat, als er mit 48 Jah­ren ein Locked-in-Syn­drom ent­wi­ckelt hat. Seine Kar­riere – immer­hin war er Chef­arzt der Ameos-Kli­nik Dr. Lay in Vogts­burg-Bisch­of­f­in­gen – war mit einem Schlag zu Ende und sein umfas­sen­des medi­zi­ni­sches Fach­wis­sen wurde hin­ter die Stirn ver­bannt. Alle seine sozia­len Bezie­hun­gen, auch die zu sich selbst, muss­ten auf neue Beine gestellt werden.

Die eige­nen Beine tra­gen ihn nun nicht mehr, die eige­nen Gedan­ken schon, wenn auch manch­mal auf gefähr­li­che Wege. Nur noch wenige Areale sei­nes Kop­fes sen­den Sin­nes­ein­drü­cke an sein Gehirn, seit er durch eine para­in­fek­tiöse Ent­zün­dung des obe­ren Hals­marks und des Hirn­stamms unter Ein­be­zie­hung von Hirn­ner­ven und des Herz-Kreis­lauf- und Atem­zen­trums viele wich­tige Kör­per­funk­tio­nen verlor.

Ehr­geiz in Sport und Medizin

20.000 Rad-Kilo­me­ter hatte der pas­sio­nierte Ama­teur­sport­ler, der auch mit einer Profi-Kar­riere gelieb­äu­gelt hat, zuvor jähr­lich zurück­ge­legt. Gerade hatte er das Lau­fen für sich ent­deckt und der Ehr­geiz, der ihn beruf­lich so weit gebracht hatte, trieb ihn auch im Sport an.

Sas­sie stammt aus Baden-Baden und stu­dierte in Bochum Medi­zin. Es folg­ten beruf­li­che Sta­tio­nen in Frei­burg im Breis­gau, Rott­weil, Lahr und Vogts­burg-Bisch­of­f­in­gen. Sein Schwer­punkt inner­halb der Inne­ren Medi­zin lag in der Kar­dio­lo­gie, wobei er auch über Zusatz­aus­bil­dun­gen in Notfall‑, Pal­lia­tiv- und Sucht­me­di­zin verfügt.

Pri­vat lagen in der Phase des Erkran­kens die bes­ten Zei­ten hin­ter ihm, so schien es zumin­dest. Zwar war er ver­hei­ra­tet und Vater von vier Kin­dern, lebte aber getrennt. Doch der kör­per­li­che Zusam­men­bruch bil­dete das Fun­da­ment für den Neu­auf­bau der Fami­lie: „Durch die Erkran­kung waren meine Frau und ich uns wie­der näher­ge­kom­men“, ver­bucht er in Vita minima auf der Haben-Seite. Und: Nun „habe ich für meine Kin­der wie­der mehr Zeit (…). Dadurch ist die Bezie­hung zu ihnen wie­der enger geworden.“

Sein letz­tes gespro­che­nes Wort

Das große Fie­ber, das Stef­fen Sas­sies Leben so radi­kal ver­än­dern sollte, kam am letz­ten Novem­ber-Wochen­ende vor fünf­ein­halb Jah­ren. „Wie für mich üblich, ent­wi­ckelte sich gleich hohes Fie­ber bis 41 Grad“, schreibt er in sei­nem Buch. Als sein eige­ner Haus­arzt ver­suchte er es mit bewähr­ten Metho­den: vom Waden­wi­ckel bis zum Fie­ber­sen­ker. Letzt­lich war es seine Frau, die ent­schied, es sei Zeit, ein Kran­ken­haus auf­zu­su­chen. Pati­ent in der eige­nen Kli­nik blieb er jedoch nur kurz, denn einer „sei­ner“ Ober­ärzte, ver­legte ihn bald ins Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Frei­burg. Die dor­tige Behand­lung führte zu anhal­ten­der Ent­fie­be­rung und sogar die Ent­las­sung war in Erwä­gung gezo­gen, als er abends plötz­lich ein Krib­beln an den Unter­schen­keln bemerkt. Am nächs­ten Tag war Sas­sie bereits nicht mehr geh­fä­hig; es wurde ein hoch gele­ge­ner Band­schei­ben­vor­fall ver­mu­tet. Doch das MRT zeigte Ent­zün­dungs­herde im obe­ren Hals­mark, dem Mit­tel- und Fron­tal­hirn. „Scheiße“, erin­nert er sich noch, ange­sichts der MRT-Bil­der gesagt zu haben. Die nächste Erin­ne­rung setzt auf der neu­ro­lo­gi­schen Inten­siv­sta­tion ein, wo er intu­biert und beatmet wie­der zu sich kam.

„Ich hänge am Leben“

Nach Pha­sen unglaub­lich belas­ten­der Tag­träume und Hal­lu­zi­na­tio­nen, in denen er nicht ein­mal den eige­nen Fami­li­en­mit­glie­dern ver­trauen konnte, kam Stef­fen Sas­sie in der Welt der Gedan­ken an. Eine neu­ro­gene Schluck­stö­rung, wie sie bei alten Pati­en­ten gele­gent­lich auf­tritt, trug zur Dra­ma­tik der Situa­tion bei. Denn anders als bei Hoch­alt­ri­gen musste bei ihm rasch gehan­delt wer­den. „Retro­spek­tiv bin ich dank­bar, dass in mei­nem Fall keine Zeit zur Ent­schei­dungs­fin­dung war und mir somit das Wei­ter­le­ben ermög­licht wurde. Soviel zum Stel­len­wert von Pati­en­ten­ver­fü­gun­gen. Als Gesun­der kann man sich ein­fach nicht in die Situa­tion eines Kran­ken hin­ein­ver­set­zen.“ Er möchte expli­zit einen Bei­trag zur aktu­el­len Ster­be­hilfe-Debatte leis­ten: „Als Gesun­der hätte ich es mir nicht vor­stel­len kön­nen, dass ein Leben, wie ich es jetzt führe, durch­aus noch so etwas wie Lebens­qua­li­tät haben kann. Das Gegen­teil ist aber der Fall. Ich lebe gerne und hänge am Leben und wün­sche mir, dass im Fall einer Erkran­kung mit Chance auf Erho­lung unter Erhalt der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit sämt­li­che ‚Seg­nun­gen‘ der moder­nen Medi­zin zum Ein­satz kommen.“

Zeit und Geduld

Danach gefragt, was er Ärz­tin­nen und Ärz­ten, die einen Men­schen mit Locked-in-Syn­drom behan­deln, mit­ge­ben möchte, ant­wor­tet er kurz und klar: „Liebe Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, brin­gen Sie viel Zeit und Geduld mit.“ Das emp­fiehlt einer, der sich vor sei­ner Erkran­kung selbst als unge­dul­di­gen Men­schen bezeich­net hätte. „Die Erkran­kung hat mich Geduld und Gelas­sen­heit gelehrt, wobei Rück­schläge an der Tages­ord­nung sind. Ich will damit sagen, dass man letzt­end­lich nicht aus sei­ner Haut, sei­nem Grund­cha­rak­ter her­aus­kommt.“ Auf die Frage, ob es in sei­ner Situa­tion eher hilf­reich oder hin­der­lich sei, selbst Arzt zu sein, ant­wor­tet er fol­gen­der maßen: „Diese Frage habe ich mir schon oft selbst gestellt. Zusam­men­fas­send glaube ich nicht, dass es von Vor­teil ist, wenn man zu viel weiß. Ande­rer­seits wird man als Laie mal schnel­ler ‚über den Tisch gezo­gen‘ als als ärzt­li­cher Kollege.“

Noch immer ist Stef­fen Sas­sie Arzt – aber nur mehr mit der Seele; der Leib kann nicht mit. Wohl aus die­sem Grund schil­dert er seine Erkran­kung, die ärzt­li­chen Inter­ven­tio­nen und den erreich­ten Sta­tus quo so sach­lich. Sein Blick auf das Gesund­heits­sys­tem mit­samt sei­nem Kos­ten­druck ist klar und kri­tisch. Dar­über hin­aus gibt er in sei­nem Buch aber auch Ein­bli­cke in sein all­täg­li­ches Erle­ben, die Ent­wick­lung sei­ner Per­sön­lich­keit sowie die wich­tigs­ten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­re­geln: immer zu ihm hin­schauen, damit wirk­lich jedes Blin­zeln als Äuße­rung regis­triert wird. Keine Fra­gen mit „oder“ stel­len. Und beim Hin­aus gehen sagen, wann man wiederkommt.

Geduld und Gleichmut

„Die Zeit ver­geht schnel­ler als frü­her“, lau­tet sein erstaun­li­ches Fazit. Und falls doch nicht? „Wenn mir die Stun­den zu lange wer­den, ver­su­che ich, mich mit dem Bud­dhis­mus zu beschäf­ti­gen. Manch­mal schaue ich mir meine Fotos an. Ich ver­su­che, mich in Geduld und Gleich­mut zu üben.“ Mit Vita minima ver­folgt er eine Mis­sion und bie­tet an, ande­ren Betrof­fe­nen mit Rat zur Seite zu ste­hen oder auch ein offe­nes Ohr für deren Lebens­ge­schich­ten zu haben. Das letzte Kapi­tel beti­telt er mit „Aus­blick“ und bringt somit seine Zukunfts­ori­en­tie­rung zum Aus­druck. Dass er nicht auf­gibt, ver­dankt er ver­schie­de­nen Res­sour­cen: „Ich schöpfe Kraft aus der Lite­ra­tur, aus mei­ner Fami­lie, der Beschäf­ti­gung mit dem Bud­dhis­mus, der Frei­zeit gene­rell mit abend­li­chem Fern­se­hen und nicht zuletzt aus dem Erle­ben der Natur. Ich bin selbst über­rascht über die Länge der Liste, die ich noch fort­set­zen könnte.“

Anm.: Die Kom­mu­ni­ka­tion mit Stef­fen Sas­sie fand per Mail statt; er ver­wen­det dazu das Com­pu­ter­sys­tem tobii.

Tipp: Vita minima wurde her­aus­ge­ge­ben von Karl-Heinz Pantke, dem Vor­stands­vor­sit­zen­den des LIS e.V. (Locked-in Syn­drom e.V.) und ist über den Ver­ein zu bezie­hen: LIS e.V. im KEH, Herz­berg­straße 79, 10365 Ber­lin, E‑Mail: pantkelis@arcor.at

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 17 /​10.09.2020