Arbeits­un­fälle: Ten­denz rückläufig

10.09.2020 | Politik


Struk­tu­relle wirt­schaft­li­che Ände­run­gen und Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men sind die Haupt­gründe, wieso die Zahl der Arbeits­un­fälle kon­ti­nu­ier­lich zurück­geht. Durch das Home­of­fice – für das im Übri­gen bei einem Arbeits­un­fall die glei­chen Regeln gel­ten wie am regu­lä­ren Arbeits­platz – ist von einer Ver­schie­bung der Arbeits­un­fall sta­tis­tik für 2020 auszugehen.
Julia Wild

Die Arbeits­un­fall­sta­tis­tik 2019 belegt einen anhal­ten­den Rück­gang der Arbeits­un­fälle in Öster­reich (siehe Info-Kas­ten). Ins­ge­samt erfasste die All­ge­meine Unfall­ver­si­che­rungs­an­stalt (AUVA) 161.236 Scha­dens­fälle. Die häu­figs­ten Ursa­chen sind Kon­troll­ver­lust, Stürze oder unko­or­di­nierte Bewe­gun­gen. Seit den 1990er-Jah­ren hat sich die Zahl der Unfälle hal­biert. Tho­mas Haus­ner, ärzt­li­cher Lei­ter des AUVA-Unfall­kran­ken­hau­ses Lorenz Böh­ler in Wien deu­tet das so: „Wir spre­chen von einem lang­jäh­ri­gen Trend. In den letz­ten 20 Jah­ren ist die Anzahl der Arbeits­un­fälle kon­ti­nu­ier­lich zurück­ge­gan­gen. Außer­dem hat es struk­tu­relle wirt­schaft­li­che Ände­run­gen gege­ben.“ Zum Bei­spiel gibt es mehr Dienst­leis­tungs­be­triebe, dafür weni­ger pro­du­zie­rende Betriebe. Über­dies wür­den die Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men der AUVA eine wich­tige Rolle spie­len, aber nicht nur: „In Wahr­heit hat sich ein­fach viel geän­dert“, so Hausner.

Der pro­zen­tuale Anteil – also die Unfall­rate – sage mehr aus als die abso­lu­ten Zah­len, da die Zah­len der Berufs­tä­ti­gen schwan­ken, bekräf­tigt Karin Gstalt­ner, ärzt­li­che Lei­te­rin des Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­trums Meid­ling. „Aber auch hier zeich­net sich ein deut­li­cher Rück­gang ab.“ Vor etwa zehn Jah­ren haben knapp 40 von 1.000 Dienst­neh­mern einen Arbeits­un­fall erlit­ten, 2019 waren es 31 – ein 25-pro­zen­ti­ger Rück­gang. Noch viel bes­ser sähe es aus, würde man die Weg­un­fälle nicht mit­rech­nen: Dann käme man auf 27,4 Ver­un­fallte pro 1.000 Dienst­neh­mer, meint Gstalt­ner, die auch Prä­si­den­tin der Öster­rei­chi­schen Gesell­schaft für Unfall­chir­ur­gie (ÖGU) und der Öster­rei­chi­schen Gesell­schaft für Ortho­pä­die und Trau­ma­to­lo­gie (ÖGOuT) ist.

Nach wie vor am stärks­ten betrof­fen ist der Bau­sek­tor mit 64,3 Arbeits­un­fäl­len pro 1.000 Beschäf­tig­ten. An zwei­ter Stelle steht die Was­ser- und Abfall­ent­sor­gung mit 52,4 Vor­komm­nis­sen. Im Hin­blick auf die abso­lu­ten Zah­len ran­giert die Pro­duk­tion mit 18.624 Arbeits­un­fäl­len ganz oben: 17.455 ereig­ne­ten sich im Bau- und Bau­ne­ben­ge­werbe. Im Falle eines (Un-)Falles ist das A und O laut Haus­ner die Mel­dung bei der AUVA, die das Gesche­hene als Arbeits­un­fall aner­kennt – oder eben nicht. „Wird ein Arzt für All­ge­mein­me­di­zin zu einem Arbeits­un­fall geru­fen, sollte er ver­an­las­sen, dass der Pati­ent sofern mög­lich in ein Unfall­kran­ken­haus der AUVA über­stellt wird. Als zustän­dige Stelle erfol­gen hier einer­seits die Mel­dung sowie ande­rer­seits die Ein­lei­tung der Ver­rech­nung etc.“ Dem Arbeits­un­fall werde alles andere unter­ge­ord­net, obwohl er nur rund zehn bis 15 Pro­zent aller Unfälle aus­macht. Den Löwen­an­teil stel­len Frei­zeit- und Ver­kehrs­un­fälle dar.

Arbeits­un­fälle im Gesundheitswesen

„Das Gesund­heits- und Sozi­al­we­sen in Öster­reich ver­zeich­net für 2019 ins­ge­samt 5.882 Arbeits­un­fälle; das sind 22,7 Vor­fälle pro 1.000 Dienst­neh­mer“, so Haus­ner. Um wel­che Unfälle es sich dabei han­delt, ist nicht ange­führt. Ein Arbeits­un­fall im Gesund­heits­we­sen wird grund­sätz­lich genauso behan­delt wie jeder andere Arbeits­un­fall. Nadel­stich­ver­let­zun­gen sind in die­sem Bereich in den letz­ten Jah­ren rück­läu­fig; eine Mel­de­pflicht besteht erst dann, wenn der Ver­let­zung ein min­des­tens drei­tä­gi­ger Kran­ken­stand folgt. Abge­se­hen von Schnitt- oder Stich­ver­let­zun­gen zeigt sich jedoch zuneh­mend, dass das Per­so­nal von aggres­si­ven Ange­hö­ri­gen ange­grif­fen wird.

Die wich­tigste Prä­ven­ti­ons­maß­nahme der AUVA ist die Bera­tung von Unter­neh­men hin­sicht­lich der Arbeits­si­cher­heit. Auch Klein­be­triebe mit bis zu 50 Mit­ar­bei­tern kön­nen die Leis­tun­gen kos­ten­los in Anspruch neh­men. Gstalt­ner erläu­tert: „Die Betriebe sind heute wesent­lich bes­ser aus­ge­stat­tet und die Mit­ar­bei­ter bes­ser auf­ge­klärt. Das reicht vom Gehör­schutz bis über die Mög­lich­keit, sich als Dach­de­cker ent­spre­chend zu sichern. Heut­zu­tage hat Arbeit­neh­mer­schutz hohe Prio­ri­tät.“ Haus­ner ergänzt: „Die Unter­neh­men haben natür­lich ein Inter­esse daran, die gesetz­li­chen Vor­ga­ben zur Unfall­prä­ven­tion zu erfül­len. Pas­siert ein Arbeits­un­fall aus man­geln­dem Arbeit­neh­mer­schutz, regres­siert die AUVA gegen die Ver­ant­wort­li­chen. Das kann teuer werden.“


AUVA-Arbeits­un­fall­sta­tis­tik 2019

Im Jahr 2019 aner­kannte die AUVA ins­ge­samt 161.236 Arbeits­un­fälle. Davon waren

  • 105.449 bei Erwerbstätigen
  • 54.589 bei in Aus­bil­dung Befind­li­chen und
  • 1.198 Fälle von Berufskrankheiten.

Über alle Ver­si­che­rungs­ar­ten hin­weg waren es insgesamt

  • 145.656 Arbeits­un­fälle und
  • 14.382 Weg­un­fälle.

Die Zahl der Arbeits­un­fälle von Erwerbs­tä­ti­gen ist im Ver­gleich zu 2018 um 0,9 Pro­zent gesun­ken; Schü­ler, Stu­die­rende und Kin­der­gar­ten­kin­der sind öfter ver­un­fallt (plus 1,5 Pro­zent). Auch die Zahl der Berufs­krank­hei­ten hat um 5,1 Pro­zent zuge­nom­men) und liegt nach einem nied­ri­ge­ren Wert im Jahr 2018 wie­der auf dem Niveau von 2017.

Quelle: AUVA

Corona im UKH Lorenz Böhler

Im Unfall­kran­ken­haus Lorenz Böh­ler in Wien hat die Pati­en­ten­dichte wäh­rend des Shut­down zwar abge­nom­men, weni­ger zu tun war den­noch nicht: „In ers­ter Linie woll­ten wir COVID-frei blei­ben. Am Tag des Lock­down haben wir begon­nen, sämt­li­che Pro­zesse in kür­zes­ter Zeit umzu­or­ga­ni­sie­ren, um eine mög­lichst große Sicher­heit in Sachen Hygiene zu garan­tie­ren“, erzählt des­sen ärzt­li­cher Lei­ter Tho­mas Hau­ser. Man habe den Ein­gang zen­tra­li­siert, dort eine Art Triage zur Pati­en­ten­eva­lu­ie­rung sowie eine Iso­lier­sta­tion ein­ge­rich­tet. Zusätz­lich wurde die Beleg­schaft in vier Teams geteilt, um eine Clus­ter-Bil­dung zu ver­mei­den. „Corona hat das Lorenz Böh­ler aber glück­li­cher­weise nicht hart getrof­fen“, so Haus­ner. Ins­ge­samt erkrank­ten vier Mitarbeiter.

Mit der­sel­ben Sorg­falt ging man im Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­trum Meid­ling vor: „Es gab einen engen Schul­ter­schluss zwi­schen der kol­le­gia­len Füh­rung vom UKH des Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­trums, mas­sive Zugangs­be­schrän­kun­gen und eine Sicher­heits­schleuse.“ Man stellte auf Video-Mee­tings um, besprach in Kri­sen­sit­zun­gen die Lage – auch, um Eng­pässe bei der Schutz­aus­rüs­tung zu vermeiden.

Zwei bis drei Tage vor geplan­ten Ope­ra­tio­nen wer­den PCR- bezie­hungs­weise Anti­kör­per­tests durch­ge­führt. Wäh­rend des Lock­downs aller­dings musste in Akut­fäl­len oft­mals ope­riert wer­den, ohne zu wis­sen, ob eine SARS-CoV-2-Infek­tion vor­liegt, erzählt Haus­ner: „Wir haben dann so ope­riert, als ob der­je­nige posi­tiv getes­tet wor­den wäre. Bei man­chen hat sich im Nach­hin­ein eine Infek­tion her­aus­ge­stellt. Diese Pati­en­ten wur­den nach dem Ein­griff in spe­zia­li­sierte COVID-Abtei­lun­gen trans­fe­riert.“ Auch Gstalt­ner bestä­tigt diese Vor­gangs­weise: „Ope­ra­tio­nen und andere the­ra­peu­ti­sche Inter­ven­tio­nen wur­den erst nach einem aus­sa­ge­kräf­ti­gen SARS-CoV-2-Test durch­ge­führt – außer im Schock­raum.“ Die Lage hat sich mitt­ler­weile etwas ent­spannt. Aller­dings ist es auf­grund der Corona-beding­ten Reduk­tion von Drei- auf Zwei­bett­zim­mer zu Staus im Reha­bi­li­ta­ti­ons­zen­trum gekom­men. Gstalt­ner dazu: „Wir ver­su­chen der­zeit, alles wie­der­auf­zu­ar­bei­ten. Im Herbst, wenn grip­pale Infekte unzäh­lige COVID-19-Ver­dachts­fälle schaf­fen, müs­sen wir im Worst-Case erneut die Pati­en­ten­zah­len hinunterfahren.“

Unfall im Homeoffice

„Die Krise ändert alles“, sagt Haus­ner. „Mit dem Lock­down kamen Home­of­fice und Kurz­ar­beit. Damit ist anzu­neh­men, dass die Anzahl der Arbeits­un­fälle deut­lich sin­ken wird. Noch lie­gen uns dazu aber keine Zah­len vor.“ Ähn­lich sieht das auch Gstalt­ner: „Wir wer­den eine deut­li­che Ver­schie­bung der Arbeits­un­fall­sta­tis­tik für 2020 erle­ben.“ Ers­tens seien durch den Shut­down viele Arbeits­plätze ver­lo­ren gegan­gen; dadurch habe sich der Gesamt­an­teil der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung redu­ziert. Zwei­tens ver­brin­gen viele Dienst­neh­mer weni­ger Zeit am Arbeits­platz, ent­we­der, weil sie zu Hause arbei­ten oder in Kurz­ar­beit sind. Die­je­ni­gen, die die Mög­lich­keit zum Home­of­fice haben, tra­gen jedoch gene­rell ein gerin­ge­res Unfall­ri­siko: „Wer am Com­pu­ter sitzt, fällt nicht so leicht vom Ses­sel wie ein Bau­ar­bei­ter vom Gerüst. Dazu kommt, dass die für klas­si­sche Arbeits­un­fälle Gefähr­de­ten den Job in Heim­ar­beit nicht aus­füh­ren kön­nen, wie zum Bei­spiel im Bau­ge­werbe“, sagt Gstalt­ner. Die Rech­nung „mehr Home­of­fice, weni­ger Arbeits­un­fälle“ gehe also nicht ganz auf, führt Gstalt­ner wei­ter aus: „Wie sich die Krise nun genau aus­wirkt, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Wir gehen aber davon aus, dass sich Weg­un­fälle hal­bie­ren wer­den. Der Berufs­ver­kehr hat durch COVID-19 deut­lich abge­nom­men, was die poten­ti­ell erhöhte Unfall­rate am Arbeits­platz selbst wie­der aus­glei­chen würde.“

Jedoch wird ein Arbeits­un­fall, der im Home­of­fice pas­siert, auch als sol­cher dekla­riert, weiß Haus­ner: „Dazu gab es eine Ände­rung im All­ge­mei­nen Sozi­al­ver­si­che­rungs­ge­setz: Man hat die Woh­nung der Betriebs­stätte gleich­ge­setzt. In der Heim­ar­beit gel­ten bei einem Arbeits­un­fall also die­sel­ben Regelungen.“


Berufs­krank­hei­ten: die Fakten 

Berufs­krank­hei­ten haben im Ver­gleichs­zeit­raum zum Vor­jahr um einige Pro­zent­punkte zuge­legt. Dabei wurde vor­wie­gend Schwer­hö­rig­keit durch Lärm (697 Fälle 2019; 640 Fälle 2018) ver­zeich­net. Bei Haut­er­kran­kun­gen (109 Fälle 2019; 124 Fälle 2018) und Asbest-beding­ten Erkran­kun­gen von Lunge, Kehl­kopf und Pleura (103 Fälle 2019; 108 Fälle 2018) ver­rin­gerte sich die Zahl der Fälle. Inner­halb der AUVA bewer­ten Exper­ten diese Zah­len als sta­tis­ti­sche Aus­rei­ßer. „Die Dun­kel­zif­fer ist außer­dem noch viel höher, da viele Fälle nicht gemel­det und somit nicht aner­kannt wer­den,“ betont Haus­ner. Das betrifft zum Bei­spiel das Pleu­ra­me­so­the­liom. Für die AUVA gilt das Kar­zi­nom zu 100 Pro­zent als Berufs­krank­heit – aber nur 45 Pro­zent wer­den aner­kannt. „Vie­len Ärz­ten und zwar sowohl im nie­der­ge­las­se­nen als auch im Spi­tals­be­reich ist nicht bewusst, dass Berufs­er­kran­kun­gen ebenso wie Arbeits­un­fälle mel­de­pflich­tig sind“, meint Hausner.

Aktu­ell sind 53 Berufs­krank­hei­ten als sol­che gelis­tet. Psy­chi­sche Krank­hei­ten zäh­len nicht dazu; auch jene des Bewe­gungs- und Stütz­ap­pa­rats durch ein­sei­tige Belas­tun­gen oder zu lan­ges Sit­zen nicht.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 17 /​10.09.2020