Krankenhausrechnungen in den USA: Albtraum für US-Amerikaner

10.02.2020 | Politik

Immer mehr Patienten in den USA werden nach ärztlichen Behandlungen überraschenderweise – und mit zum Teil astronomisch hohen – Rechnungen konfrontiert, die durch ihre Versicherung nicht abgedeckt sind. Grund: Die Versicherer machen bei der Erstattung der Leistungen – je nachdem, wo sie erbracht werden – einen Unterschied. 
Nora Schmitt-Sausen

Eine 540.000-Dollar-Rechnung für die lebensnotwendige Dialyse. 94.000 Dollar für das Neuro-Monitoring während einer Wirbelsäulen-Operation. 11.000 Dollar für einen 27-Meilen-Flug vor einer Lungentransplantation. 2.600 Dollar für das Entfernen eines Puppenschuhs aus der Nase einer Dreijährigen. Es lassen sich noch viele Beispiele dieser Art finden. Nicht allein die Höhe dieser Rechnungen wirkt auf europäische Ohren befremdlich. Die Geschichten, die dahinterstehen, sind es noch viel mehr. Allen Beispielen ist gemein: Die Patienten, denen diese Rechnungen nach ihrem Klinikbesuch zugestellt wurden, waren allesamt krankenversichert – und sie sind fest davon ausgegangen, dass ihre Versicherung die Kosten für die nötigen Behandlungen übernimmt. Doch weit gefehlt: Den Patienten flatterten Wochen oder Monate nach der Behandlung in einem Krankenhaus Rechnungen ins Haus, da sie nicht durch ihre Versicherung abgesichert sind.

Wie kann das sein? Das komplexe US-amerikanische Versicherungswesen verwirrt Patienten nicht nur mit einem nur schwer durchschaubaren System an Zuzahlungen, Eigenanteilen und einer kaum vorhandenen Preistransparenz. Dazu kommt, dass die Versicherer – auch die renommierten und großen – bei der Erstattung von Leistungen, wo sich die Patienten ärztlich behandeln lassen, einen Unterschied machen. Das Prinzip: Die Versicherer verhandeln mit Krankenhäusern und anderen Gesundheitsdienstleistern feste Preise und gewähren den Patienten – und damit auch sich selbst – auf diese Weise eine Art Rabatt. Wählt ein Patient jedoch einen Arzt oder eine Klinik aus, die sich außerhalb des Netzwerkes – „Out of Network“ – dieser Absprachen befindet, trägt der Patient – je nach gewähltem Versicherungstarif – alles oder den überwiegenden Teil seiner Behandlungskosten selbst. Das Problem dabei: So gut sich ein Patient auch mit dem Leistungskatalog seines Versicherers beschäftigen mag, ob er bei einem Klinikaufenthalt noch auf einem nicht-eingeplanten Eigenanteil oder gar auf einer ganzen Rechnung in der Höhe eines Kleinwagens sitzen bleibt, kann er in einigen Fällen kaum durchschauen.

Eine solche Unsicherheit kann nicht nur im Notfall auftreten, wenn ein Krankenwagen einen Patienten in die Notaufnahme des nächstgelegenen Krankenhauses bringt und nicht in die Klinik, die es eigentlich laut Versicherungsplan sein sollte. Auch bei geplanten Eingriffen können die Dinge schieflaufen: etwa, wenn zwar die richtige Klinik angesteuert wurde, aber der behandelnde Arzt oder Anästhesist nicht zum festen Krankenhauspersonal gehört, sondern von einer Personalfirma von außerhalb stammt. Solche Vertragsärzte können andere Preise für ihre Leistungen abrufen als für ärztliche Leistungen eines Inhouse-Mediziners der Klinik veranschlagt werden. Zu erkennen sind die Ärzte, die nicht zum Stammpersonal gehören, für Patienten allerdings nicht. Ein anderes Beispiel, wie Patienten mit unerwarteten Rechnungen konfrontiert sein können: Wenn zum Beispiel ein Chirurg bei einer Operation technisches Equipment einer Firma einsetzt, mit dem der Versicherer des Patienten keinen Vertrag ausgehandelt hat.

Für US-Amerikaner sind diese unerwarteten Rechnungen kein Randphänomen mehr: Einer von sechs Versicherten im Jahr 2017 wurde einer Studie zufolge mit einer solchen „Out of Network“-Krankenhausrechnung konfrontiert. Betroffen waren stationäre Patienten genauso wie Bürger, die wegen eines medizinischen Notfalls die Notaufnahme aufsuchten. Nicht selten gingen die Eigenleistungen in die 10.000 Dollar. Längst ist das Thema in der Politik angekommen – auf Ebene der Bundesstaaten wie in Washington DC. Einige Bundesstaaten wie New York oder Kaliforniern haben bereits vor geraumer Zeit Regelwerke erlassen, um Patienten vor solchen Rechnungen zu schützen. Durchgreifend ist der Schutz jedoch nicht, da viele der Versicherungspläne, die in den Bundesstaaten angeboten werden, zentral über Washington reguliert werden. Doch in der US-amerikanischen Hauptstadt wurde über dieses Thema sowohl im Weißen Haus als auch im Kongress überparteilich diskutiert; zu Ergebnissen ist es lange Zeit nicht gekommen. Erst im Dezember 2019 kam noch unerwartet Bewegung in die Sache.

Ein neues Regelwerk zielt darauf ab, dass US-amerikanische Bürger vor dieser Art Rechnungen künftig geschützt werden. Darauf konnten sich Vertreter von zentralen Ausschüssen sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat verständigen. Kerninhalt des Vorhabens soll sein, dass es Ärzten, die nicht fest in einer Klinik angestellt sind, untersagt wird, selbst hohe Rechnungen zu stellen. Ein entsprechendes Gesetz soll nun zeitnah im US-Kongress verabschiedet werden. ◉

 

 

 


Krankenhäuser verklagen Patienten

Einige Bürger können die Selbstbehalte und Eigenanteile, die viele Versicherungen vorsehen, nicht mehr bezahlen – und immer mehr Krankenhäuser gehen dazu über, offen gebliebene Honorare für die von ihnen erbrachten Leistungen gerichtlich einzuklagen. Ein Beispiel: Ein lokaler Krankenhausbetreiber, der in den US-Bundesstaaten Virginia und Tennessee Klinken unterhält, zog im vergangenen Jahr in mehr als 6.700 Fällen wegen offener Behandlungskosten gegen Patienten vor Gericht.Krankenhäuser im gesamten Land seien dazu übergegangen, Patienten wegen nicht bezahlter Rechnungen anzuklagen, so eine kürzlich in der „New York Times“ erschienenen Analyse. Große renommierte Einrichtungen finden sich dabei ebenso wie kleine. Dies sei ein Schritt, den „viele Institutionen lange Zeit nicht bereit waren zu gehen“, heißt es weiter. Der Streit ums Geld wird mit Patienten geführt, die bislang eigentlich nicht zu denen zählten, die Probleme mit hohen Behandlungskosten hatten – der US-amerikanischen Mittelklasse. Es sind Lehrer, Bürokräfte, Verkäufer, Angestellte im Gesundheitswesen, die allesamt über eine Krankenversicherung verfügen. „Es gibt eine neue Gruppe von Menschen, die dem Papier nach eigentlich so aussehen, dass sie ihre Rechnungen begleichen können“, zitiert das Blatt den Gründer der Non-Profit-Organisation RIP Medical Debt, die offene Rechnungen für Patienten übernimmt. Diese Patienten stammten aus der Mittelklasse, hätten einen guten Kreditrahmen und seien örtlich etabliert. Noch vor wenigen Jahren war es nicht Standard, dass in Versicherungspolizzen Selbstbehalte etabliert waren. Dies hat sich seit einiger Zeit verändert. Immer mehr Versicherungspläne, die US-amerikanische Bürger meist von ihrem Arbeitgeber erhalten, sehen neuerdings eben solche Selbstbehalte vor – in teils beachtlicher Höhe.


Widerstand der Ärzte

Sensibilisiert durch die Berichterstattung über die neue Klagepraxis ihrer Arbeitgeber formiert sich mancherorts Widerstand von Ärzten. Vielen von ihnen war nicht bewusst, dass ihre Arbeitgeber juristisch gegen ihre Patienten vorgehen. Ärzte der Gesundheitseinrichtungen der University of Virginia (UVA), die wegen ihrer aggressiven Klagepraxis viel negative Presse erhalten hat, haben sich für ihre Patienten stark gemacht – und betont, dass sie nicht wussten, wie vehement ihr Arbeitgeber versicherte und auch nicht versicherte Patienten wegen offener Rechnungen angeht. Das UVA Health System hat laut einem Report der Kaiser Health News in den vergangenen sechs Jahren 36.000 Patienten auf mehr als 100 Millionen Dollar verklagt, Gehälter und Spareinlagen eingezogen und Patienten teils sogar in die Privatinsolvenz gehen lassen. Renommierte UVA-Ärzte sprachen von einem „Betrug“ an Ärzten und an den Patienten, die sich hilfesuchend an die Ärzte gewandt hätten. Eine öffentliche Einrichtung wie das UVA müsse andere Wege finden, diesem Problem Herr zu werden, als Patienten vor Gericht zu ziehen. Kein einziger Arzt wolle auch nur für einen Fall einer Privatinsolvenz eines Patienten verantwortlich sein. In anderen Häusern wird bereits nach Alternativen gesucht. Beispielsweise werden Hilfsprogramme aufgelegt, um Patienten das Abstottern der Behandlungsschulden zu ermöglichen oder Charity-Einrichtungen bemüht. Einige Kliniken führen aus, dass sie sich auf Grund der hohen offenen Beträge selbst in einem Dilemma befinden, da sie ihrerseits Verbindlichkeiten wie Arzt-Honorar und Betriebskosten zu begleichen haben. Die von den Negativ-Schlagzeilen betroffenen Häuser betonen außerdem, dass der Weg zu Gericht stets die letzte aller Möglichkeiten sei, wenn zuvor bereits alle anderen Optionen, das Geld zu erhalten, ausgeschöpft seien.


 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 3 / 10.02.2020