Resilienz: Lebenserhaltender Faktor

15.12.2020 | Medizin


Resilienz ist ein Persönlichkeitsmerkmal und zugleich ein dynamischer Prozess, der sich in Zusammenspiel mit der sozialen Umwelt auch verändern kann. Wie resilient jemand ist, hängt von vielfältigen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren ab. Fördernde protektive Faktoren sind soziale Unterstützung, Spiritualität, Hoffnung, enge Bindungen und kommunikative Leistungsfähigkeit.

Laura Scherber

In der Psychiatrie versteht man unter Resilienz die Widerstandsfähigkeit gegenüber psychosozialen Events wie dem Verlust eines Angehörigen, des Arbeitsplatzes oder der Wohnung“, erklärt Univ. Prof. Siegfried Kasper von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Wien. Damit stellt die Resilienz den Gegensatz zur Vulnerabilität dar, wobei jeder Mensch sowohl vulnerable als auch resiliente Anteile in sich trägt. Entscheidend ist aber die Verteilung. Eine höhere Resilienz ermöglicht es dem Individuum, auf wechselnde Lebenssituationen flexibel zu reagieren und auch schwierige, stressreiche Situationen ohne längerfristige, psychische Konsequenzen durchzustehen.

„Die Resilienz ist letztendlich auch ein lebenserhaltender Faktor, der nicht zu stark und nicht zu schwach ausgeprägt sein darf“, betont Kasper. So könne sich – wie beim Krankheitsbild der Manie – eine zu überschwängliche Resilienz auch negativ auswirken – zum Beispiel durch selbstgefährdendes Verhalten. Im Rahmen des Resilienz-Konzepts liegt der Fokus grundsätzlich auf Gesundheit und nicht wie so häufig in der Medizin auf Krankheit. „Dabei ist die zentrale Frage, warum Menschen unter den gleichen widrigen Umständen gesund bleiben oder sich schnell erholen, während andere an den Folgen leiden und zum Teil psychische Erkrankungen entwickeln“, fügt Nursen Yalcin-Siedentopf von der Universitätsklinik für Psychiatrie I in Innsbruck hinzu. 

Genetische und Entwicklungsfaktoren

Die Resilienz eines Menschen wird durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst. Neben genetischen Faktoren spielen auch Entwicklungsfaktoren eine wichtige Rolle – das heißt wie Menschen aufgewachsen sind und welche Umwelterfahrungen sie während der Kindheit und Adoleszenz gemacht haben. Bedeutend sind sowohl psychosoziale Umweltfaktoren als auch pharmakologische wie zum Beispiel der Zigaretten- oder Drogenkonsum der Mutter während der Schwangerschaft. Ein schwieriges Thema im Sinne der Neurogenese ist Kasper zufolge der Konsum von Cannabis während der Pubertät. Da sich das Nervensystem in dieser Lebensphase noch einmal besonders entwickelt, entsteht dadurch nicht selten eine höhere Vulnerabilität gegenüber psychosozialen Einflüssen. Weitere Risikofaktoren, die sich negativ auf die Resilienz auswirken, sieht Yalcin-Siedentopf vor allem darin, wenn während der Kindheit belastende psychosoziale Umstände vorliegen: bei familiären Belastungen wie Armut, einem geringen Bildungsniveau oder Krankheit der Eltern, bei bereits bestehender psychischer Erkrankung eines Elternteils, bei Erziehungsdefiziten oder wenn Kinder durch häufige Ortswechsel keine persönlichen Bindungen zu anderen aufbauen können. Zu den fördernden protektiven Faktoren gehören hingegen soziale Unterstützung, kulturelle Systeme, Spiritualität oder Religiosität, intellektuelle Fähigkeiten, Hoffnung, enge Bindungen und aufgeschlossenes Temperament.

Einfache Maßnahmen steigern Resilienz

Es gibt Möglichkeiten, die Resilienz eines Menschen positiv zu beeinflussen. „Die Resilienz ist ja eine personale Ressource und ein dynamischer Prozess, der sich im Zusammenspiel mit der sozialen Umwelt auch verändern kann“, erklärt Yalcin-Siedentopf. So könne man zum Beispiel mithilfe von Achtsamkeits-basierten oder kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen Resilienz fördern. Auch durch Festigung von Persönlichkeitsmerkmalen wie Optimismus, Akzeptanz, Extraversion, der Übernahme von Verantwortung und lösungsorientiertem Denken kann man die Resilienz eines Menschen gezielt fördern. „Je optimistischer ein Mensch ist, umso besser kommt er aus belastenden Situationen heraus“, weiß die Expertin. Wünschenswert wäre natürlich, die Resilienz schon so früh wie möglich zu fördern, damit es im Falle von belastenden Situationen greift oder wenn man zur Risikogruppe, eine psychiatrische Erkrankung zu entwickeln, dazugehört. Schließlich kann – so die Experten – das Ausbrechen von psychiatrischen Erkrankungen durch eine hohe Resilienz verhindert oder abgemildert werden – etwa eine posttraumatische Belastungsstörung, psychotische Störungen sowie affektive und psychosomatische Erkrankungen.

Laut Kasper gibt es ganz einfache Maßnahmen, um die Resilienz zu steigern, die gesunde Menschen ohnehin meistens intuitiv anwenden: ein regelmäßiger Tag-Nacht-Rhythmus, ausgewogene persönliche Beziehungen und die Wahl eines ausgewogenen Arbeitsplatzes. Ausreichend Schlaf – je nach Schlafprofil durchschnittlich sieben oder acht Stunden – ist für das menschliche Gehirn im Sinn der Neurogenese und Synaptogenese essentiell. Besteht hingegen ein chronisches Schlafdefizit, sind die Betroffenen nicht nur unausgeglichener, sondern sterben auch früher, wie epidemiologische Studien zeigen. Aber eben auch ausgeglichene Beziehungen zu primären Bezugspersonen, zunächst zu den Eltern, dann mit dem Partner und später zu den eigenen Kindern sowie ein ausgeglichenes berufliches Umfeld sind für die Stärkung der Resilienz förderlich. „Das klingt jetzt alles sehr trivial. Aber interessanterweise begeben sich manche Menschen fast suchtartig in schwierige Beziehungen hinein, wo sie permanent geschädigt und abgewertet werden“, berichtet Kasper. Gleichzeitig handle es sich dabei oft um Menschen mit einer sehr Harmonie-bedürftigen Persönlichkeitsstruktur, die sich dann aus diesen pathogenen Umweltbeziehungen nicht entsprechend lösen können und darin sehr lange verweilen.

Der psychisch gesunde Mensch wechselt hingegen den Arbeitsplatz, wenn er ihm nicht guttut. „Der robustere Mensch, der eine vermehrte Resilienz hat und geringer vulnerabel ist, sucht sich sozusagen die gesündere Umgebung“, weiß Kasper. Und weiter: „Das ist ein sehr interessantes Phänomen, das man nicht unterschätzen darf, und wenn man eine pathogene Umwelt hat, wird das Nervensystem entsprechend konfiguriert.“

Die ersten Forschungsansätze im Bereich der Resilienzforschung haben sich besonders mit den neuroendokrinen Mechanismen auseinandergesetzt. Hier hat man laut Kasper unter anderem herausgefunden, dass die Hormonantwort bei vulnerablen, weniger resilienten Menschen geringer ausgeprägt ist, sodass sie schlechter auf gewisse Umweltreize oder Stress reagieren können. Heute stehen klar die bildgebenden Verfahren im Vordergrund. Untersuchungen mittels Positronenemissionstomographie (PET) haben Aufschluss über die unterschiedlichen Ausprägungen des Serotonintransporters gegeben, an denen ein Großteil der eingesetzten Antidepressiva ansetzt. So geht man davon aus, dass der Polymorphismus mit dem langen Allel (L-Allel von engl. long allele) die etwas robustere Form ist, während der Polymorphismus mit dem kürzeren Allel (S-Allel von engl. short allele) eher für sensiblere Menschen typisch zu sein scheint. „Der sensiblere Mensch hat aber nicht unbedingt nur einen Nachteil, sondern gleichzeitig den Vorteil, dass er sich nicht in so viele Gefahrensituationen begibt“, wirft Kasper ein. Gleichzeitig liege der Serotonintransporter von Natur aus bei zwei Drittel der Menschen mit dem kürzeren Allel vor. „Von den Menschen mit einer sehr robusten Ausstattung stammen wir wahrscheinlich nicht alle ab, weil die tendentiell mit den Säbelzahntiger-Kämpfen begonnen haben, die sie nicht gewinnen konnten“, fügt der Experte anschaulich hinzu. Bei besonders robusten Menschen findet man häufig das sogenannte Sensation-seeking Behavior, das mit Nordrenalin im Locus coeruleus assoziiert ist. Diese Menschen suchen die Sensation, um sich richtig zu erleben, da das Nervensystem bei Aktivitäten wie Bungee-Jumping erst so richtig hochgefahren wird, während sie die Welt sonst relativ grau und eintönig wahrnehmen.

Forschungsbereiche kombinieren

Yalcin-Siedentopf vertritt die Ansicht, dass mehrere Forschungsbereiche kombiniert werden sollten und auch auf Geschlechterunterschiede beim Thema Resilienz noch mehr eingegangen werden sollte. „Wenn man neurowissenschaftliche, endokrinologische und psychosoziale Untersuchungen kombiniert und auf geschlechtsspezifische Unterschiede untersucht, kann man mehr Lösungen oder Antworten auf die offenen Fragen kriegen“, betont die Expertin. „Männer und Frauen setzen protektive Faktoren wie soziale Unterstützung unterschiedlich ein“, berichtet Yalcin-Siedentopf von einer Studie, in der Geschlechtsunterschiede bei den „Emerging Adults“ erhoben wurden. Gerade in diesem Lebensabschnitt zwischen dem 18. und dem 30. Lebensjahr beginnen viele psychiatrische Erkrankungen.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2020