Reizdarm: Wechselnde Symptomatik

10.11.2020 | Medizin


Das Reizdarmsyndrom ist auf vielen Ebenen ein sehr heterogenes Krankheitsbild. Während ein Teil der Patienten nur milde Verläufe hat, ist bei anderen die Lebensqualität maximal beeinträchtigt. Je nach Hauptsymptom gestaltet sich die Therapie, für die es zunehmend vielfältige Herangehensweisen gibt.
Laura Scherber

Das Reizdarmsyndrom ist global die häufigste gastroenteologische Erkrankung, die bis zu 20 Prozent der Bevölkerung betreffen kann. Frauen sind tendentiell etwas häufiger betroffen als Männer. Obwohl dieses Krankheitsbild in jeder Lebensphase auftritt, gibt es einen Häufigkeitspeak im Alter von 20 bis 30 Jahren. „Leitsymptom ist der chronische Bauchschmerz, der intermittierend auftritt und je nach Verlauf die Lebensqualität der Betroffenen massiv beeinträchtigen kann“, erklärt Univ. Prof. Herbert Tilg von der Universitätsklinik für Innere Medizin I in Innsbruck. Die Einteilung erfolgt anhand der Rom-IV-Kriterien und erfordert das Vorliegen der Symptomatik über mindestens drei Monate. Weitere charakteristische Merkmale sind die Besserung des Schmerzes nach dem Stuhlgang, die Änderung der Stuhlfrequenz, relativ viel Luft im Bauch oder Schleimabgang im Stuhl.

Die Betroffenen werden unterschiedlichen Subtypen zugeordnet, dem Diarrhoe-dominanten, dem Obstipations-dominanten und dem gemischten Subtyp, wobei die Symptomatik oft wechselhaft ist und kein stabiles Kontinuum darstellt. „Das Problem dieser Patientengruppe ist, dass sie ständig um Anerkennung als Patienten kämpfen, weil die Medizin sie nach wie vor bis heute oft nicht so ernst nimmt, wie sie sie nehmen sollte“, betont Tilg. Auf zahlreiche Untersuchungen folge außerdem nicht immer eine eindeutige Diagnose. Obwohl es viele Einflussfaktoren für die Entwicklung des Reizdarmsyndroms geben kann – psychosomatische Erkrankungen, Unverträglichkeiten, Allergien, Infektionen – ist das klinische Bild immer sehr ähnlich und erfordert eine genaue Befragung und Anamnese.

Diagnose: keine direkten Krankheitsmarker

Für die Diagnose des Reizdarmsyndroms existieren keine direkten Krankheitsmarker. „Das absolute Wesen der Erkrankung ist, dass man versucht, andere organische oder psychische Erkrankungen auszuschließen, die dafür eine Rolle spielen können“, erklärt Priv. Doz. Arnulf Ferlitsch von der Abteilung für Innere Medizin I im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien. Immer ausgeschlossen werden müssen chronisch entzündliche Darmerkrankungen, das Vorliegen einer Zöliakie sowie ab einem bestimmten Alter auch Tumore. Indizierte Untersuchungen bei Verdacht sind daher eine entsprechende Labordiagnostik, Koloskopie, Gastroskopie, Biopsie, Abdomen-Sonographie sowie eine Stuhlprobe zur Bestimmung von Calprotectin und der Pankreas-Elastase. „Die S3-Leitlinien zum Reizdarm syndrom, die jetzt modifiziert worden sind, testen nicht nur auf Zöliakie selbst, sondern auch ganz klar auf Glutensensitivität“, fügt Ferlitsch hinzu. Außerdem werde eine psychische Mitabklärung in der Diagnostik auch immer bedeutender.

„Einer der wenigen guten Disease-Marker für den Reizdarm ist die Hypersensitivitätsmessung, also die Druckmessung im Mastdarm, mit der ein Reizdarm wirklich zu beweisen ist“, weiß der Experte. Leider sei diese Methode bislang nicht breit verfügbar, sondern auf wenige spezialisierte Zentren beschränkt. Laut Tilg ist es ebenfalls wichtig, eine Laktoseintoleranz auszuschließen, da die beiden Diagnosen häufig parallel vorliegen und sich ähnlich manifestieren. „Bei vielen braucht man die Endoskopie für die Diagnose streng genommen nicht, die Patienten fordern es in der Praxis aber oft zur Beruhigung ein“, berichtet Tilg. Mit einem Gespräch allein seien die Betroffenen in der Regel nicht zu befrieden. „Wenn die Diagnose steht und man es behandelt, kann man bei ungefähr einem Drittel der Patienten die Beschwerden zum Verschwinden bringen, während sie bei zwei Drittel vorhanden bleiben – teilweise auch das ganze Leben“, weiß Ferlitsch.

Stress beeinflusst Symptomatik

„Die erste und wichtigste Therapie ist, die Patienten zu beruhigen, weil die Mehrheit ja einfach wissen möchte, woher die Beschwerden kommen und dass keine bösartige Erkrankung dahintersteckt“, führt Tilg aus. Neben den medikamentösen Therapieoptionen, Antidepressiva, Sport und Bewegungsprogrammen stehen für viele Patienten Ernährungsbegleitung und psychosoziale Betreuung im Vordergrund der Behandlung. Als eine der Stresssensitivsten Erkrankungen des Menschen ist es für die Betroffenen außerdem wichtig zu verstehen, dass Stress und Belastung einen negativen Einfluss auf die klinische Symptomatik haben und sie daher einen besseren Umgang mit stressigen Situationen kultivieren sollten.

Die drei Hauptsymptome

In Anbetracht der Vielzahl von Nervenzellen im menschlichen Darmtrakt scheint die Verbindung zu psychosomatischen Erkrankungen beim Reizdarmsyndrom nachvollziehbar. „Die Therapie ist natürlich ein sehr herausforderndes Thema, weil wir de facto keine zugelassene, sehr wirksame Therapie haben“, wirft Tilg ein. In vielen Studien liege der Placebo-Effekt bei 60 bis 70 Prozent, was die Wichtigkeit der bloßen Auseinandersetzung mit diesen Patienten unterstreiche. Bei der Therapiewahl selbst orientiere man sich daher an den Hauptsymptomen Obstipation, Schmerz und Diarrhoe.

Steht bei Patienten die Obstipation im Vordergrund, scheint die Zufuhr faserreicher Kost sowie indischer Flohsamen als Präbiotikum erfahrungsgemäß hilfreich zu sein. Die nächste Stufe von abführenden Mitteln ist laut Tilg Polyethylenglycol, gefolgt von den zwei Präparaten Prucaloprid und Linaclotid, die sich in relativ großen Studien bei der klassischen Obstipation als wirksam erwiesen haben. „Beim Obstipations-dominanten Typ werden weniger trizyklische Antidepressiva eingesetzt, sondern eher Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer“, ergänzt Ferlitsch. Beim Schmerz-dominanten Subtyp werden neben Spasmolytika wie Butylscopolamin und trizyklischen Antidepressiva vor allem Pfefferminzölkapseln eingesetzt, die in allen Leitlinien mittlerweile gut etabliert sind. Obwohl die Ernährung bei allen Reizdarm-Patienten eine große Rolle spielt, profitiert besonders der Diarrhoe-dominante Subtyp von einer Ernährungsumstellung, indem er sich FOD-MAP-arm ernährt, das heißt fermentierbare Oligo-, Di-, Monosaccharide und Polyole vermeidet. „Deswegen arbeiten wir in der Therapie immer mit einem Diätologen zusammen, der den Patienten genau erklärt, in welchen Lebensmitteln diese enthalten sind“, berichtet Ferlitsch. Auch Prä- und Probiotika sind wichtige Bestandteile der Therapie, ebenso trizyklische Antidepressiva oder das Antibiotikum Rifaximin. „Ein weiteres Medikament, Eluxadolin, hat in die aktualisierten deutschen Leitlinien schon Einklang gefunden und wird sicher auch bei uns in naher Zukunft erhältlich sein“, weiß der Experte.

Weitere Behandlungsoptionen

Weitere wichtige Therapie-Möglichkeiten über alle Subtypen hinweg sind die immer häufiger eingesetzten Stuhltransplantationen, die Verhaltenstherapie und die Darmhypnose. Im Rahmen der Darmhypnose soll die Schmerzschwelle angehoben werden, sodass die Beschwerden von den Patienten nicht mehr so leicht wahrgenommen werden. Bei zwei Drittel der Patienten mit dem Schmerz-dominanten Subtyp scheint diese Therapie hilfreich zu sein. Auch Stuhltransplantationen werden immer häufiger eingesetzt. „Obwohl die Verfügbarkeit bisher noch nicht so hoch ist, beschäftigen sich immer mehr Zentren in Österreich damit“, berichtet Ferlitsch. Und weiter: „Wir merken einfach, dass wir nicht nur bei Darm-Fehlbesiedelungen, sondern auch beim Reizdarmsyndrom relativ gute Erfolge erzielen können und die Evidenz von Jahr zu Jahr bei verschiedensten Darmerkrankungen steigt.“ Tilg dazu: „Die einzigen Indikationen für die Stuhltransplantation sind momentan Clostridium difficile-Infektion, Rezidiv und schwere Erkrankung.“

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2020