Lymphödem und Lipödem: Ähnlich und dabei doch ganz anders

25.10.2020 | Medizin


Internationalen Berichten zufolge sind 80 Prozent aller Diagnosen ‚Lipödem‘ mit Adipositas verbunden und daher keine Indikation für eine Liposuction. Das Lipödem selbst kommt sehr selten vor und muss differentialdiagnostisch vom Lymphödem und von der Adipositas unterschieden werden – wenn es auch häufig gleichzeitig auftritt.
Laura Scherber

Der Begriff Lymph-Ödem ist „irreführend“, sagt Christian Ure von der Lymphklinik des Landeskrankenhauses Wolfsberg. Beim Ödem handelt es sich um ein „Symptom verschiedener Krankheiten“ – wie zum Beispiel das kardiale Ödem bei Herzinsuffizienz, das onkotische Ödem bei Eiweißmangel oder das Phlebödem bei Venenschwäche. Diese Ödeme lassen sich entfernen, indem man die zugrundeliegende Erkrankung behandelt. Das Lymphödem ist hingegen eine eigenständige Krankheit, bei der es nicht zu Wassereinlagerungen im Interstitium kommt, sondern zum Umbau des Gewebes. Beim Lymphödem kann man die Grunderkrankung, die es ausgelöst hat, zwar beheben, dennoch schreitet das Lymphödem weiter fort.

Epidemiologisch kann man das Lymphödem nur zwischen Ländern vergleichen, die dieselben hygienischen und medizinischen Standards haben. In den westlichen Ländern liegt die Inzidenz zwischen 0,2 und zwei Prozent der Bevölkerung. In Österreich geht man laut Ure davon aus, dass es sich in 90 Prozent um sekundäre und in zehn Prozent um primäre Lymphödeme handelt, wobei von letzteren zirka neun von zehn Fällen spontan auftreten und nur einer von diesen zehn primären Lymphödemfällen hereditär bedingt, also direkt vererbt ist. „Das Lymphödem ist eine chronische Erkrankung durch die Störung des Lymphdrainagesystems, während es sich beim Lipödem um eine dysproportionale Fettverteilungsstörung handelt“, führt er weiter aus. Fälschlicherweise werde auch gelegentlich der Begriff Lipo-Lymphödem verwendet, wobei sich dies auf Patienten beziehe, die gleichzeitig eine Lymphtransportstörung und eine dysproportionale Fettverteilungsstörung haben.

Lymphödem: meist iatrogen

Das Lymphödem erkennt man anhand der asymmetrischen Bein- oder Armschwellung, bei der nie beide Seiten gleichbetroffen sind. Es ist typischerweise schmerzlos und geht mit einer zunehmenden Fibrosierung einher. Das Stemmer‘sche Zeichen, die fehlende Hautfalten-Abhebbarkeit zwischen der zweiten und dritten Zehe im Grundgelenksbereich, hilft bei der Diagnose, wenn die unteren Extremitäten betroffen sind. Auszuschließen ist jedenfalls das Vorliegen eines thromboembolischen Geschehens. „Das Lymphödem ist in etwa der Hälfte der Fälle die Folge einer iatrogenen Schädigung des Lymphtransportsystems im Rahmen der kurativen onkologischen Behandlung“, erklärt Ure. Durch die Entfernung des Tumors und der dazugehörigen Lymphknoten sowie durch die Strahlentherapie wird die Tumorerkrankung erfolgreich behandelt, kann aber gleichzeitig eine neue, chronische Erkrankung (sekundäres benignes Lymphödem) auslösen.

In fortgeschrittenen Stadien können Tumorzellen die Lymphknoten und Lymphgefäße befallen; diese Lymphangiosis carcinomatosa wird auch als sekundäres malignes Lymphödem bezeichnet und kann rein palliativ behandelt werden. Bei der Diagnostik des Lymphödems gibt es zwei Stufen. Die Basisdiagnostik, die Ure zufolge von jedem Arzt erfolgen kann, besteht aus Anamnese, Inspektion und Palpation. „Es ist wichtig, dass bei der Anamneseerhebung genau die richtigen Fragen gestellt werden, bei der Inspektion die richtigen Dinge angeschaut und bei der Palpation die richtigen Stellen abgetastet werden“, betont der Experte und verweist auf den umfangreichen Anhang in der S2k Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). In seltenen Fällen – wenn die Basisdiagnostik nicht ausreicht – wird die Diagnostik durch Funktionsdiagnostik, morphologische bildgebende Verfahren, spezielle Labordiagnostik sowie genetische Diagnostik erweitert.

Der Goldstandard der Therapie des Lymphödems ist die Komplexe Physikalische Entstauungstherapie (KPE), die auf fünf Säulen beruht: 1) Hautsanierung, 2) manuelle Lymphdrainage, 3) Kompression, 4) Entstauungsgymnastik unter Kompression, 5) Empowerment des Patienten. Damit die Therapieerfolge auch über die dreiwöchige stationäre Rehabilitation hinaus bestehen bleiben, ist das Empowerment des Patienten und seine Schulung zum Selbstmanagement den Aussagen von Ure zufolge „ein wichtiger Faktor“. Der Patient lernt, dass es sich bei dem Lymphödem um keine schicksalhafte Erkrankung handelt, dass er den Verlauf selbst beeinflussen kann und er selbst verantwortlich ist, die Technik der Selbstbandagierung, Lymphdrainage und den Umgang mit Kompressionsbandagen und Kompressionsstrümpfen zu beherrschen. Durch die häufige Vernachlässigung der betroffenen Körperareale, die aus Schamgefühl versteckt und meist nicht besonders fürsorglich behandelt werden, ist die Haut meist durch Trockenheit, Papillomatosen, Hautwunden oder nässende Stellen charakterisiert, die als ideale Eintrittspforte für ein Erysipel fungieren. Die Hautsanierung setzt hier an, um dieses Risiko zu vermeiden. „Das Lymphödem ist eine chronisch progressive Erkrankung, die man mit einer erfolgreichen Behandlung nur in ein niedrigeres klinisches Stadium zurückbringen kann“, fügt der Experte hinzu. Höre man mit der Therapie auf, käme es automatisch wieder zu Verschlechterungen.

Bei der Erkrankung selbst unterscheidet man ein Stadium 0 – das Latenzstadium, ein Stadium 1 – das noch reversibel ist und sich bei Schonung und Hochlagerung zurückbildet, das irreversible Stadium 2 und das deformierende Stadium 3 (früher abfällig als „Elefantiasis“ bezeichnet).

Lipödem durch hormonelle Veränderungen

Das Lipödem entwickelt sich fast ausschließlich bei Frauen und tritt am häufigsten zum Ende der Pubertät oder im Klimakterium auf. Charakterisiert ist das Lipödem durch die dysproportionale Fettverteilungsstörung, die mit übermäßigen Fettanlagerungen an den unteren Extremitäten bei einem sehr schmalen Oberkörper – selten auch mit verdickten Armen – einhergeht. Manche Patientinnen haben sogar annähernd normale Body-Mass-Index-Werte. Dennoch ist die Diagnostik häufig unklar. „Circa 80 Prozent aller Patientinnen mit einem Lipödem sind zusätzlich übergewichtig, was die Abgrenzung vom Lipödem zur Adipositas erschwert“, berichtet Univ. Prof. Anton Schwabegger von der Universitätsklinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie in Innsbruck. Weitere Symptome sind eher unspezifisch wie schwere Beine, Schmerzen oder Hämatome, die auch bei Adipositas sowie unter Umständen beim Lymph-ödem auftreten können.

Bevor eine chirurgische Intervention eingeleitet wird, soll dem Experten zufolge eine Kompressionstherapie durchgeführt werden, um zu prüfen, inwiefern auch ein Lymphödem vorhanden ist. Ergibt sich durch die Kompressionstherapie keine Veränderung, bleiben als Diagnosen das Lipödem und Adipositas. Anschließend wird bei gleichmäßiger Fettverteilung mit Übergewicht gefordert, Normalgewicht durch Gewichtsabnahme zu erreichen und damit den gesamten Gesundheitsstatus zu verbessern. „Wenn der Oberkörper schlank bleibt und die Beine weiterhin verdickt sind oder dicker werden, führen sie zu Bewegungseinschränkungen und damit zu funktionellen Einschränkungen“, erklärt Schwabegger. Und weiter: „Dann ist die Liposuction aus medizinischen Gründen als Heilbehandlung die Therapie der Wahl, sofern man alle Differentialdiagnosen ausgeschlossen hat“. Leider gebe es immer mehr Anbieter, die die Diagnose „Lipödem“ missbrauchen, um die Wünsche der Patientinnen nach schlanken Beinen auch bei Adipositas oder Übergewicht zu erfüllen. Dies führe nicht selten zu gerichtlichen Auseinandersetzungen, wenn die Krankenkasse die Kostenübernahme nach der Liposuction wegen der fehlenden Indikation bei der Diagnose einer Adipositas nicht übernehme. „Laut internationalen Berichten sind 80 Prozent aller Lipödem-Diagnosen mit Adipositas verbunden und daher Fehldiagnosen, um eben eine lukrative Liposuction anbieten zu können“, weiß der Experte. Das eigentliche Lipödem ist hingegen sehr selten und muss differentialdiagnostisch vom Lymphödem und von der Adipositas unterschieden werden, obwohl es natürlich häufig gleichzeitig auftritt.  

Im Rahmen der Liposuction wird – je nach Ausprägung – ein Großteil der Fettzellen mit dem gespeicherten Fett entfernt. „Die verbleibenden Fettzellen können natürlich auch wieder Fett speichern“, hebt Schwabegger hervor, „wenn also mit dem Lipödem eine Adipositas verbunden ist und die Patientin ihren Lebensstil wie bisher fortführt, wird das auch an den Beinen wieder zur Gewichtszunahme führen“. Für das reine Lipödem ist dieser Aspekt wissenschaftlich noch nicht ganz geklärt. Gemäß der Ansicht, dass das Lipödem eine fortschreitende Erkrankung ist, kommt es erneut zu Fettanlagerungen. „Man verschiebt sozusagen die weitere Fettzunahme zeitlich nach hinten: Dass die Krankheit zum Stillstand kommt, ist relativ unwahrscheinlich“, resümiert der Experte. Grundsätzlich ist das Lipödem für die Betroffenen auch psychisch sehr belastend, da sie unter Beschwerden, Schwellungen und Schmerzen leiden, die durch die Unmöglichkeit, das Problem mit einer Diät oder sportlichen Aktivitäten (Lebensstil-Anpassung) in den Griff zu bekommen, als noch gravierender wahrgenommen werden.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2020