Diabetes mellitus im Alter: Therapie individuell anpassen

25.09.2020 | Medizin


Besonders bei älteren Menschen mit Diabetes mellitus ist es wichtig, sowohl die Behandlungsziele als auch die Therapie an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. Strikte Diät-Empfehlungen sind wegen des erhöhten Risikos für die Entstehung einer Malnutrition ebenso abzulehnen wie komplexe Therapien.
Sophie Fessl

Rund ein Viertel der über 75-Jährigen leidet an Diabetes – meist Typ 2. „Als pathophysiologische Faktoren sind die altersassoziierte Zunahme der Insulinresistenz, aber auch eine Beeinträchtigung der Insulinsekretion anzuführen“, sagt Univ. Prof. Friedrich Hoppichler von der Abteilung für Innere Medizin am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Salzburg.

Besonders bei älteren Menschen ist es wichtig, die Behandlungsziele und die Therapie an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. „Für ältere Diabetiker gelten zwar die gleichen Therapiezielwerte wie für jüngere. Aber entsprechend internationalen und nationalen Leitlinien-Empfehlungen sollte die Festlegung der Therapieziele jedoch auf funktionelle und kognitive Einschränkungen Bezug nehmen“, erklärt Hoppichler.

Einen hohen Stellenwert bei der Therapie von Diabetes mellitus bei älteren Menschen hat das Vermeiden von Hypoglykämien. Denn die Folgen einer Hypoglykämie umfassen kardiovaskuläre Komplikationen, ein erhöhtes Sturz- und Verletzungsrisiko sowie eine Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten. Gleichzeitig sind aber im fortgeschrittenen Lebensalter die gegenregulatorischen Mechanismen bei Hypoglykämie eingeschränkt; außerdem erschweren unspezifische Symptome die Diagnose der Hypoglykämie. Und besonders bei an Demenz Erkrankten ist das Risiko für Hypoglykämien weiter erhöht. „Daher akzeptiert man bei einem hohen Risiko für Hypoglykämien höhere HbA1c-Zielwerte“, betont Hoppichler. Als weitere Gründe, wieso höhere Zielwerte akzeptiert werden, führt er an: funktionelle Einschränkungen mit Pflegebedürftigkeit, Multimorbidität, höhergradige kognitive Einschränkung sowie begrenzte Lebenserwartung bei einer schweren Begleiterkrankung.

Psychische Aspekte beachten

Wegen des Zusammenhangs zwischen Diabetes und Depression sei auch die psychische Komponente zu berücksichtigen, unterstreicht Univ. Prof. Hermann Toplak von der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie der Medizinischen Universität Graz betont. „Die Umsetzung von therapeutischen Empfehlungen ist schwierig, wenn der Patient eine unerkannte, unbehandelte Depression oder depressive Steuerungselemente hat. Erfahrene Diabetologen versuchen daher, nicht nur festzustellen, ob ein Patient mit Diabetes schlecht eingestellt ist, sondern auch warum.“ Toplak führt an, dass Depressionen oft nicht erst im Alter, sondern bereits früher beginnen und häufig unerkannt bleiben. Wenn Patienten in dieser Zeit therapeutisch nicht gut eingestellt werden, bedingt das auch eine schlechtere Prognose für ihre Depression. „Man muss das holistisch betrachten: Ein Patient mit schlechten Zucker- und Fettwerten, hohem Blutdruck und wenig Bewegung wird sich zurückziehen. Das wiederum führt zum weiteren geistigen Abbau.“

Eine adaptierte Diabetiker-Schulung, bei der eventuell auch das Betreuungsumfeld miteinbezogen wird, ist auch für ältere Patienten eine wichtige Maßnahme bei der Therapie. „Auch bei älteren Patienten gelten Lebensstil-Empfehlungen als eine Basismaßnahme bei der Diabetes-Therapie. Im Hinblick auf das erhöhte Risiko von geriatrischen Patienten für die Entwicklung einer Malnutrition sind strikte Diät-Empfehlungen für ältere Diabetiker abzulehnen“, erklärt Hoppichler.

Komplexe Therapien meiden

Eine Herausforderung bei der medikamentösen Therapie von Diabetes bei älteren Menschen ist laut Toplak, dass nicht jeder ältere Patient geeignet ist, komplexe Therapieformen durchzuführen. „Wir versuchen deswegen, komplexe Therapien bei älteren Menschen zu vermeiden. Wenn sie allerdings notwendig sind, sollten sie in einer Phase eingeleitet werden, in der der Patient kognitiv in der Lage ist, sie zu erlernen.“ Ein wichtiger Fortschritt bei der Behandlung von älteren Menschen mit Typ 2-Diabetes war daher die Entwicklung von oralen Antidiabetika, betont Toplak. „Insgesamt haben wir für die Behandlung von älteren Menschen mit Diabetes ein großes Angebot an Substanzen, die gut eingesetzt werden können.“ Bei einigen Medikamenten muss die Dosierung allerdings an Lebensalter, Körpergewicht und Nierenfunktion angepasst werden. Metformin ist leitlinienkonform die medikamentöse Basistherapie; allerdings stellt eine glomeruläre Filtrationsrate von unter 30ml/min eine absolute Kontraindikation für Metformin dar. „Die durch Metformin erzielte Gewichtsreduktion ist jedoch besonders bei geriatrischen Patienten häufig unerwünscht“, weiß Hoppichler.

SGLT2-Inhibitoren hingegen zeigen nephroprotektive und günstige kardiovaskuläre Effekte. Hoppichler dazu: „Bei älteren Patienten ist der milde diuretische und blutdrucksenkende Effekt dieser Medikamentenklasse zu beachten. Eine Anpassung der Begleitmedikation kann notwendig werden“. Ebenfalls günstige kardiovaskuläre Effekte weisen GLP-1-Analoga auf. Allerdings hemmen auch sie den Appetit, was mit einer bei geriatrischen Patienten möglicherweise ungünstigen Gewichtsreduktion einhergehen kann. DPP-4 Inhibitoren hingegen kommen bei der Behandlung von geriatrischen Patienten häufig zum Einsatz, da sowohl das Hypoglykämie-Risiko als auch das Risiko für Arzneimittel-Interaktionen gering ist.

Zu den Sulfonylharnstoffderivaten meint Hoppichler: „Diese werden aufgrund des Hypoglykämierisikos und des Interaktionspotentials nur mehr eingeschränkt in der Behandlung älterer Patienten mit Diabetes eingesetzt“. Auch Pioglitazon kommt bei geriatrischen Patienten nur selten zum Einsatz, da es vor allem in Kombination mit Insulin die Flüssigkeitsretention steigert und bei Frauen das Risiko für periphere Knochenfrakturen erhöhen kann.

Eine günstige Therapieform bei älteren Patienten ist die Ergänzung einer Behandlung von oralen Antidiabetika mit langwirksamem Insulin beziehungsweise Insulinanaloga. „Allerdings sollte bei älteren Patienten keine zu komplexe Therapie eingesetzt werden“, berichtet Toplak. Dabei solle der Patient nicht „mit Maßnahmen belastet werden, die nicht notwendig sind. Was seiner Ansicht nach zentral ist: „Die psychosoziale Dimension wird in den nächsten Jahren in der Diabetes-Therapie noch mehr Augenmerk erhalten.“

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2020