COVID-19: Interview Michael Kunze – „Das Experiment beginnt“

10.05.2020 | Coronavirus, Medizin


Pandemien sind nichts Neues – und man hat sich mit mehr oder weniger großer Intensität darauf vorbereitet, sagt Univ. Prof. Michael Kunze von der Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin des Zentrums für Public Health der MedUni Wien. Jetzt beginnt allerdings das Experiment: Mit welcher Geschwindigkeit und mit welchen Maßnahmen die ‚Liberalisierung‘ erfolgt, erklärt er im Gespräch mit Laura Scherber.

Sie haben immer gesagt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zu einer Pandemie kommt. Jetzt sind wir mittendrin. Waren wir darauf vorbereitet?
Das Institut für Sozialmedizin hat schon 1998 mit der Pandemieplanung in Österreich begonnen und die Regierung hat das entsprechend fortgeführt. Pandemien an sich sind in der Medizin eigentlich nichts Neues. Abgesehen von jetzt haben wir die Schweine-Influenza erlebt, die Vogel-Influenza, dann SARS und so weiter und natürlich früher gab es die Spanische Grippe. Also Pandemien sind nichts Neues und man hat sie mit mehr oder minder großer Intensität vorbereitet. Auf die Pandemie 2009, die sogenannte Schweinegrippe, hat man sich intensiv vorbereitet. Alle Planungen sind vorhanden. Wenn es zum Beispiel einen Impfstoff bei COVID gibt, dann muss man ja organisatorisch alles bewerkstelligen, um viele Menschen zu impfen. Diese Unterlagen liegen alle auf, die muss man nur ausheben. Also insofern sind wir vorbereitet. Auch wenn wir Corona-Viren gekannt haben: Dieses spezielle Corona-Virus haben wir nicht kommen sehen. Darauf konnten wir uns also nicht spezifisch vorbereiten.

Wo liegen aktuell die größten Herausforderungen?
Jetzt sind wir absolut auf einem Erfolgskurs. Alle Zahlen deuten darauf hin, dass das Problem nicht größer, sondern kleiner wird. Und jetzt kommt die große Herausforderung: Was hei.t das jetzt für das öffentliche Leben? Was hei.t das für die Wirtschaft, die Psychologie, die Medizin et cetera. Jetzt ist das große Problem nicht mehr die Eindämmung des Ganzen, sondern wie halten wir die Situation aufrecht und verändern die Gesellschaft wieder in die Richtung, in der sie schon war, weil dieser extreme Shutdown ja nicht mehr lange durchzuhalten ist. Und jetzt beginnt das ganz große Experiment: mit welcher Geschwindigkeit und welchen Maßnahmen können wir ‚liberaler‘ werden. Natürlich ist es dazu notwendig, dass man die epidemiologische Situation ganz genau beobachtet, um dann, wenn irgendwo etwas aufpoppt, gegensteuern zu können. Aber ich nehme zum gegebenen Zeitpunkt nicht an, dass wir wieder zurückkehren müssen zu massivsten Maßnahmen.

Den R0-Wert unter 1 zu senken, war ein definiertes Ziel. Nun liegt er bei etwa 0,7 und Stimmen werden laut, dass damit erst ein Zwischenziel erreicht ist und der Wert noch viel niedriger sein müsste. Wie beurteilen Sie diese Aussage?
Der R0-Faktor beschreibt, wie viele Personen durch eine infekti.se oder erkrankte Person angesteckt werden, und ist jetzt in Österreich deutlich unter eins, mit fallender Tendenz. Das hei.t wir haben nicht mehr das exponentielle Wachstum und daher passt das alles. Das Ziel w.re natürlich null. Aber das kann man theoretisch gar nicht erreichen, au.er man macht eine Durchimpfung aller Personen oder die Variante, dass man alle Personen die Infektion durchmachen lässt. Aber das wollen wir nicht, weil da zu viele Leute sterben, die gefährdet sind. Und jetzt kommt noch eines: Der Sommer wird uns helfen, die Hitze und die UV-Strahlung sind nicht gut fürs Corona-Virus. Ich wünsche mir eine massive Hitzewelle – die Landwirtschaft hat vielleicht weniger Freude damit. Aber da sind sich wirklich nicht alle einig und wir werden sehen, ob das so stimmt.

Was lernen wir aus COVID-19 und für zukünftige Pandemien? Wie hat Österreich im Vergleich zu anderen Ländern agiert?
Wir lernen zunächst einmal, was die Bevölkerung eigentlich an Einschränkungen aushält. Dass sich die Bevölkerung so diszipliniert verhält, hätte ich mir eigentlich nicht vorgestellt. Die Frage ist natürlich, wie lang halten wir das durch. In Schweden, wo ich die Situation sehr genau verfolge, kommt die Abrechnung erst noch. Jetzt gibt es dort wesentlich mehr Todesfälle als bei uns. Sie sind aber liberaler im Umgang mit der Einschränkung im öffentlichen Leben. Wir werden dann in einigen Monaten sagen können, was ‚gescheiter‘ war. In Österreich haben wir uns festgelegt, dass wir die Todesfälle m.glichst gering halten wollen und das ist gelungen. In Südkorea haben sie den Weg der extremen Verfolgung jedes einzelnen Falles gewählt und waren sehr erfolgreich. Da die Bevölkerung dort technisch sehr interessiert ist, wurde es toleriert, dass durch Apps eine genaue Überwachung erfolgte. Wir sind ja mit der totalen Überwachung der Bewegungslinien der Menschen etwas zurückhaltender. Es sind verschiedene Vorgangsweisen, aber Österreich ist absolut top mit der Inkaufnahme von großen ökonomischen Problemen.

Was gilt es jetzt zu tun? Jetzt müssen wir eine Analyse machen: Was haben wir getan?
Was hat wie gewirkt und dann gibt es eines: üben, üben, üben. Wir üben im Moment sowieso im Realen. Aber für nachher gibt es EU-weite Planspiele und die Planungen aus den früheren Jahren. Das haben wir vom Militär gelernt, wie Manöver gemacht werden. Aber auch in der Sozialmedizin ist das eine gängige Art und Weise und das werden wir hoffentlich regelmäßig verstärken, nicht nur auf der Ebene des Gesundheitswesens, sondern gesamtgesellschaftlich.

 

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2020