COVID-19-Intensivstation: Kompromissbereit und entscheidungsfreudig

25.06.2020 | Coronavirus, Medizin


Das viele „Nicht-Wissen“ rund um COVID-19 in Entscheidungen zu verwandeln, sei eine der zentralen Herausforderungen auf der internistischen Intensivstation 13i2 im Wiener AKH gewesen, sagt Internist Alexander Hermann. Er berichtet über den nicht alltäglichen Alltag einer Intensivstation und warum Kompromisse zwischen Leitlinien notwendig sind – so zum Beispiel bei der richtigen Art und Weise, die Schutzausrüstung anzulegen.
Laura Scherber

An die Tatsache, dass schwerkranke Patienten versterben, ist man als Intensivmediziner gewöhnt und das gilt für die meisten Intensivstationen“, berichtet Alexander Hermann von der Universitätsklinik für Innere Medizin I in Wien. Der Internist und Intensivmediziner ist auf einer der beiden COVID-19-Intensivstationen des AKH Wien, wo derzeit nur Patienten mit COVID-19 und Verdachtsfälle behandelt werden. Ähnlich wie im Wiener Krankenanstaltenverbund gab es auch AKH-intern einen Stufenplan für die schrittweise Öffnung einer Intensivstation nach der anderen für COVID-19-Patienten – je nach Auslastung und medizinischem Bedarf. „Bisher ist es aber nicht über die Eskalationsstufe hinausgegangen“, berichtet Hermann. Diese besagt, dass zwei Intensivstationen – eine anästhesiologische und eine internistische – für COVID-19-Patienten reserviert hätten werden müssen. Im AKH wurden diejenigen Patienten aufgenommen, die auf die Infrastruktur des AKHs angewiesen waren, beispielsweise im Hinblick auf das Transplantationsmanagement oder eine ECMO-Therapie. Das Durchschnittsalter der Betroffenen war mit 40 bis 60 Jahren im Vergleich zu anderen Stationen, auf denen Patienten mit COVID-19 behandelt wurden, etwas niedriger.

Kompromissbereitschaft gefragt

„Die größte Herausforderung war ganz generell der Umgang mit dieser komplett neuen Erkrankung, die wir alle nicht kannten und auch bis heute noch nicht so richtig kennen“, fasst Hermann zusammen. Mehr Zeit, etwas über die Erkrankung lernen zu können, wäre daher aus seiner Sicht wünschenswert gewesen. Bis heute gibt es eine Fülle von Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen – von intuitivem Wissen aus Social-Media-Kanälen bis hin zu Ergebnissen aus randomisierten Doppelblindstudien – die alle bewertet und kritisch hinterfragt werden mussten. Die Folge sei ein vermehrter Austausch unter den Kollegen gewesen, da man als Arzt gewohnt sei, auf Leitlinien oder Empfehlungen zurückzugreifen, wenn man etwas nicht wisse. „Jeder war sehr informationshungrig und es wurde viel Zeit dafür verwendet, sich die wichtigsten und relevantesten Informationen herauszusuchen“, so Hermann. Ein Beispiel: „Wir sind seit Jahrzehnten gewohnt, bei infektiösen Patienten eine Schutzausrüstung anzulegen. Auf einmal war es aber so, als wäre es etwas völlig Neues, da von unterschiedlichen Stellen Anweisungen und Richtlinien veröffentlicht wurden, die sich in kleinen Aspekten unterschieden haben und die alle aus einer gewissen Perspektive nachvollziehbar waren“, berichtet Hermann. So hätten bestimmte Leitlinien vorgesehen, die Schutzbrille über die Haube zu ziehen und andere wiederum umgekehrt. Daher sei es notwendig gewesen, kompromissbereit und entscheidungsfähig zu sein und dieses viele „Nicht-Wissen“ in Entscheidungen zu verwandeln.

Ebenfalls unklar war lange Zeit – und ist bis heute auch noch nicht 100-prozentig geklärt – inwiefern die gängige nasale High-Flow-Therapie (High Flow Nasal Oxygen; HFNO) die Infektiosität beeinflusst. „Durch den hohen Gasfluss, mit dem die Atemwege geflutet werden, generiere ich natürlich eine gewisse Verwirbelung, worin viele die Gefahr erhöhter Virus-Belastung der Umgebungsluft geortet haben“, erklärt Hermann. Von Beginn an sei daher auch in den Leitlinien empfohlen worden, einen gewissen Sauerstofffluss nicht zu überschreiten und damit die Ansteckungsgefahr zu reduzieren. In der Folge habe dies natürlich das reguläre Arbeiten und die bisher zur Verfügung stehenden Mittel in gewisser Weise limitiert. Über die Zeit habe man gelernt, dass sich durch High-Flow-Nasal-Oxygen-Therapie eine Intubation und damit die Belastung auf beiden Seiten oftmals vermeiden lassen kann – sowohl für die Patienten als auch für das Personal. „Die Patienten, die diese Erkrankung entwickeln, haben im initialen Stadium besser als ursprünglich erwartet auf die HFNO- und Lagerungstherapie reagiert“, so der Intensivmediziner. Damit sei es auch leichter gelungen, die Intensivbetten für Schwerkranke freizuhalten.

Obwohl sich ein Arbeitstag selbst auf der Intensivstation mit COVID-19 nicht von einem ohne COVID-19 unterscheide, gäbe es doch Unterschiede wie ein geschmälertes Krankheitsspektrum, eine geänderte Arbeitsverteilung und organisatorische Änderungen. Patienten in die Diagnostik zu bringen, sei im Rahmen von COVID-19 zumindest mit einem gewissen Mehraufwand verbunden. „Intensivmedizin ist grundsätzlich eine sehr Patientennahe Tätigkeit. Es besteht viel mehr direkter Kontakt als auf der Normalstation“, betont Hermann. Der Hauptunterschied zur regulären Intensivstation liege vor allem darin, dass die Anzahl der direkten Patientenkontakte soweit wie möglich minimiert werde. „Die Herausforderung dabei ist es, die Exposition der Mitarbeiter ohne Verlust der Behandlungsqualität zu reduzieren“.

Besucherbeschränkung problematisch

Die Besucherbeschränkung hat sich für alle Beteiligten – Patienten, Angehörige und auch für das medizinische Personal – als einschneidende Regulierung herausgestellt. Für die Behandlung ist es wichtig und üblich, dass Informationen aus dem Umfeld, die Fremdanamnese durch Angehörige, herangezogen werden. Gleichzeitig werden die Angehörigen über den Krankheitsverlauf der Patienten informiert. Im Rahmen von COVID-19 war es Angehörigen von schwer kranken, jungen Patienten zeitweise verboten, die Station zu betreten – auch für Hermann eine schwierige Situation. „Je wacher und orientierter ein Patient ist, umso mehr nimmt er wahr, dass kein regelmäßiger Besuch kommt“, führt er aus. Und weiter: „Der Kontakt mit den Angehörigen bedeutet immer, den Kontakt zum Ziel nicht zu verlieren. Ist dieser nur eingeschränkt möglich, leidet die Motivation auf der Patientenseite“.

Wenn auch auf der Intensivstation grundsätzlich ein reger Austausch im Team stattfindet, wurden durch die aktuelle Situation vor allem die interdisziplinären Grenzen verringert, sodass unterschiedliche Fachdisziplinen und Berufsgruppen sehr gut ineinandergegriffen und sich gegenseitig unterstützt haben. „Es war sehr viel Zusammenhalt da, sehr viel Wertschätzung und Respekt im Umgang miteinander“, resümiert Hermann. „Man hat das Gefühl, dass alle gemeinsam an einem Strang ziehen wollen und das ist etwas, was uns auf eine etwaige zweite oder dritte Welle ganz gut vorbereitet“.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2020