COVID-19: Epidemiologie – Ein zunehmendes Herantasten

10.05.2020 | Coronavirus, Medizin

Drei verschiedene Strategien stehen zur Verfügung, um den Replikationsfaktor unter 1 zu senken und so das exponentielle Ansteigen der Infektionszahlen zu verhindern. Die Beweggründe für den österreichischen Weg erläutert Univ. Prof. Eva Schernhammer, Epidemiologin an der MedUni Wien.
Laura Scherber

Unsicherheit führt häufig dazu, dass strikte Ma.nahmen gesetzt werden“, betont Univ. Prof. Eva Schernhammer von der Abteilung für Epidemiologie des Zentrums für Public Health der MedUni Wien. Dies sei bei COVID-19 in besonderem Maße in einigen asiatischen Ländern umgesetzt worden, vor allem im Hinblick auf das Tracking des Quarantäne-Verhaltens der Bevölkerung und daraus resultierenden Sanktionen. In Europa sei das in diesem Ausmaß schwer vorstellbar gewesen, allerdings wurden auch hier strikte Ma.nahmen verfolgt. In den kommenden Wochen und Monaten wird die Evaluierung zeigen, welche Learnings man aus den Strategien etwa in Skandinavien im Vergleich zu Mittel- und Süd-Europa machen kann. „Wenn ein neues Virus ausbricht, wäre es natürlich idealerweise so, dass das lokal vor Ort unter Kontrolle gebracht werden kann und es zu keiner Pandemie kommt“, berichtet Schernhammer. In der Vergangenheit sei das wie bei SARS und MERS zum Teil gelungen, aber mit COVID-19 aus den verschiedensten Gründen nicht, was wahrscheinlich in der kommenden Zeit noch einmal aufzuarbeiten sei. Um einen Ausbruch zu verhindern, ist es wichtig, die Fälle schnell zu identifizieren, indem man in ausreichendem Ma. testet und in weiterer Folge alle Kontakte einer COVID-19-positiv getesteten Person rücktraced und ebenfalls isoliert. Bei COVID-19 war und ist aber eine von vielen Schwierigkeiten die Inkubationszeit und die Möglichkeit, andere zu infizieren, wenn man selbst keine Symptome aufweist. „Das ist eine ungünstige Eigenschaft für ein Virus und günstig für die Ausbreitung und bewirkt zusätzliche Schwierigkeiten darin, dass man das Virus lokalisiert“, betont Schernhammer. Nach Italien wurde in Österreich relativ schnell eine große Anzahl von Neuinfektionen festgestellt – vermutlich nicht zuletzt aufgrund diverser Hotspots. Bewegt man sich hier erst einmal auf der exponentiellen Wachstumskurve, übersteigt es der Expertin zufolge rasch die praktischen Möglichkeiten, alle Kontakte von positiven Quellen zu verfolgen. Eine weitere unangenehme Eigenschaft von COVID-19 habe letztendlich zum Strategiewechsel und zum Shut down in Österreich geführt: Die Tatsache, dass 20 Prozent aller positiv getesteten Fälle sehr krank sind und einen Krankenhausaufenthalt erforderlich machen sowie fünf Prozent sogar intensivstationspflichtig sind. „Da kann man sich sehr schnell ausrechnen, dass die Kapazitäten überwältigt sind“, weiß Schernhammer. Und weiter: „Das hat man auf drastische Weise in Italien miterlebt und ab dem Zeitpunkt war es das Bestreben jedes anderen europäischen Landes, dies zu vermeiden und auf jeden Fall sicherzustellen, dass die Intensivbetten nicht überlastet werden“.

Ziel: Replikationszahl unter 1

Die Replikationszahl unter 1 zu bringen war ein wesentliches Ziel, um das exponentielle Wachstum zu verhindern, was laut Schernhammer durch drei verschiedene Hauptstrategien erreicht werden kann. Die erste Strategie, die europäische Länder wie Schweden oder Großbritannien verfolgt haben, ist das Anstreben der Herdenimmunität in der Bevölkerung, die im Fall von COVID-19 bei einer Durchseuchung von 60 bis 70 Prozent zu einer R0 von unter 1 geführt hätte. „Wie sich jetzt herausgestellt hat, ist nach der ersten Welle nur ein sehr kleiner Prozentsatz durchseucht, so dass es ein langwierigerer Prozess ist, als man gedacht hat“, fasst Schernhammer zusammen. Die zweite Strategie – Immunität durch Impfung herzustellen, ist derzeit noch nicht m.glich. So haben sich wie Österreich viele Länder für die dritte Strategie entschieden: die Einführung von kontrollierenden Ma.nahmen wie Social Distancing und den Einsatz von Schutzmasken. „Da sind unterschiedliche Länder unterschiedlich erfolgreich gewesen. Aber in Summe scheint es überall irgendwann zu klappen, dass man das exponentielle Wachstum wieder reduziert“, fasst die Expertin zusammen. Was sich vielleicht zu spät abgezeichnet habe, sei die Risikogruppe der Personen in Alters- und Pflegeheimen. „Allerdings hat niemand genau gewusst, was auf uns zukommt und dass die Mortalität relativ hoch sein wird, dass die Inkubationszeit so lang ist und dass ein großer Prozentsatz asymptomatisch, trotzdem aber Träger und Weitergeber des Virus ist“, hebt Schernhammer hervor. Die nun in vielen Ländern einsetzenden Lockerungen bezeichnet sie als eine Phase des Herantastens. „In Österreich werden die Schulen vorerst nur für Maturanten geöffnet, in Deutschland für kleine Untergruppen von Schülern, in Dänemark für Volksschüler sowie Kindergärten. Das ist nicht uninteressant, weil man ein Spektrum hat, das man vergleichen kann“, erklärt Schernhammer. Die genaue Rolle der Kinder bei der Übertragung sei schließlich auch noch nicht geklärt. „Das ist jetzt ein wirklich wichtiger Prozess, wo man sich gut aneinander orientieren und voneinander lernen kann, indem man diese kleinen Schritte evaluiert“, fasst die Expertin zusammen. (ls)

 

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2020