Standpunkt Herwig Lindner: Zurück zur Vernunft

25.10.2020 | Aktuelles aus der ÖÄK

© Bernhard Noll

Ein Virus hält die Menschheit fest umklammert. Obwohl es wirksame Wege gibt, sich vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 zu schützen. Schon einfache Maßnahmen wie Abstand zu halten, Händehygiene, MNS- bzw. FFP-Masken reduzieren die Infektionswahrscheinlichkeit drastisch.

Sorge bereitet die Zunahme der PCR-Tests an Symptomlosen und die wiederkehrende Knappheit an Testkapazitäten für Verdachtsfälle. Ohne Verdacht auf Infektion oder Cluster werden mit Sicherheitsversprechen branchenweite Massentests vorgenommen. Sicherheitsversprechen, die nicht halten. Im Gegenteil: wenn jemand ein so mächtiges Werkzeug wie die PCR verwendet ohne die Ergebnisse interpretieren zu können, wird es erst recht unsicher. Denn das massenweise Testen von Symptomlosen produziert neben falsch negativen auch viele falsch positive Ergebnisse. Das führt nicht zu mehr Sicherheit, sondern zu unerwünschten Nebenwirkungen wie Quarantäne von Nicht-Infizierten, Information an Arbeitgeber oder die Schule.

Der PCR-Test ist bei einem symptomatischen Verdachtsfall ein wichtiges Diagnoseinstrument. Wir Ärzte stellen eine Diagnose nicht nur aufgrund von Befunden. Wir sprechen mit Patienten, beurteilen deren Symptome und ordnen gegebenenfalls einen Test an. Das machen wir auch während der Pandemie nicht anders. Der Satz „Wir behandeln Menschen und nicht Laborwerte“ gilt noch immer.

Rezente Studien zeigen, dass Menschen mit anderen Erkrankungen oft zu kurz gekommen sind. Seit Beginn der Pandemie gab es mehr tödliche Herzinfarkte, weil Patienten zu spät oder gar nicht ins Spital kamen. Psychische Erkrankungen sind wegen Therapieunterbrechungen exazerbiert. Patienten müssen sich wieder in die Ordinationen und Spitäler trauen, um notwendige Untersuchungen und Behandlungen nicht länger aufzuschieben. Wir müssen sogenannte Kollateralschäden vermeiden. Es geht um Verhältnismäßigkeit und Weitblick.

Es ist Zeit, dass die Politik zur Vernunft zurückfindet und mit Maß und Ziel handelt. Ziel muss sein, alle zu versorgen, die medizinische Hilfe brauchen, nicht in einer neuen Realität, sondern in der Realität einer funktionierenden Gesundheitsversorgung. Die Handlungskette Anamnese – Verdachtsdiagnose – diagnostische Schritte – Diagnose – Maßnahmen gilt immer noch.

Bei aller Anerkennung der Verdienste von 1450 und der Telemedizin muss die Politik begreifen, dass die Patient-Arzt-Beziehung durch nichts ersetzt werden kann.

 

Dr. Herwig Lindner
1. Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2020