Standpunkt Harald Mayer: Nicht wegschauen!

10.11.2020 | Aktuelles aus der ÖÄK


Nicht wegschauen!

© Gregor Zeitler

Zeit ist wertvoll. Das bleibt auch jungen Ärztinnen und Ärzten nicht verborgen. Sie bemerken in ihrer Ausbildung, dass das Stammpersonal zu wenig Zeit hat, sich ihnen in adäquater Weise zu widmen. Das ist nicht weiter verwunderlich, steigt doch die Arbeitsbelastung in den Spitälern seit Jahren kontinuierlich. Wir werden alle älter, wir benötigen mehr Ärztinnen und Ärzte. Aber wir Ärztinnen und Ärzte werden bald weniger. Zwar ist eine Entlastung der Spitäler, im Speziellen der Ambulanzen, durch den Ausbau der wohnortnahen Versorgung durch den niedergelassenen Bereich im Regierungsprogramm angedacht – doch das schert momentan niemanden. Zu sehr überschattet die Pandemie alles andere.

Es ist paradox, eigentlich völlig absurd: Seit Monaten werden Maßnahmen gesetzt, zum Wohle der Gesundheit in der Bevölkerung. Zum Schutz des Gesundheitssystems. Gleichzeitig übt man sich darin, Herausforderungen im Gesundheitssystem zu ignorieren. Es erhält nicht die Aufmerksamkeit, die es braucht. Dabei handelt es sich gar nicht um Brandneues. Denn seit Jahren warnen wir Ärztinnen und Ärzte davor, dass wir dringend mehr Ressourcen benötigen. Weil die Ärzteschaft älter wird, weil das Ausland mit attraktiven Arbeitsbedingungen lockt, während hierzulande nur punktuell auf die Bedürfnisse der nächsten Generation eingegangen wird. Seit Jahren sprechen wir darüber, dass wir in den Spitälern eine extreme Arbeitsverdichtung erleben. Dass Spitäler ihren Personalbedarf – gelinde gesagt – oft an der Realität vorbei managen.

Ausbildung ist kein Privileg. Sie ist eine Verpflichtung. Wir wollen unser Wissen an die Jungen weitergeben. Dafür benötigen wir aber Zeit. Ein Zugeständnis über die Wertigkeit der Ausbildung wäre, eigene Dienstposten für Ausbildungsärzte zu schaffen. Und zwar flächendeckend. Der Ärztenachwuchs verdient es, richtig ausgebildet zu werden. Das ist auch notwendig, um das Niveau in der medizinischen Versorgung in Österreich konstant hoch zu halten. Wir können dieser Verpflichtung, unser Wissen dem Nachwuchs weiterzugeben, nur nachkommen, wenn die Rahmenbedingungen passen. Wenn wir zu wenig Personal haben und uns statt mit den Patienten mit bürokratischen Systemen, Eingabe von Patientendaten oder aufwendigen Arztbriefen befassen müssen, dann ist das ein Problem. Wegschauen funktioniert eine Zeit lang. Doch irgendwann wird es zu spät sein. Es ist bereits jetzt eins vor zwölf.

Dr. Harald Mayer
3. Vize-Präsident der Österreichischen Ärztekammer

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2020