Sexualmedizin: „Vorreiter Österreich“

25.01.2020 | Aktuelles aus der ÖÄK


Die Allgemeinmedizinerin und Psycho- und Sexualtherapeutin Elia Bragagna spricht im Interview über die Erfolge und Herausforderungen in der Sexualmedizin.
Sophie Niedenzu

Wie sind Sie zur Sexualmedizin gekommen?
Da Sexualmedizin kein Bestandteil des Medizinstudiums war, wurde mir erst im Rahmen meines Turnus an der onkologischen Abteilung bewusst, wie sich Erkrankungen, Operationen und Medikamente auf die sexuelle Gesundheit der Patienten auswirken können. Über diverse Fortbildungen versuchte ich, diese Wissenslücke zu schließen. 2002 durfte ich die Sexualambulanz im Wilhelminenspital eröffnen.

Was waren die nächsten Schritte?
Um Kolleginnen und Kollegen ein seriöses sexualmedizinisches Basiswissen für ihren Arbeitsalltag zu ermöglichen, begann ich zusammen mit Spezialisten aus diversen Fachrichtungen 2009 in Wien sexualmedizinische Fortbildungen anzubieten, zeitgleich machten das auch Kollegen in Salzburg. In Sachen Sexualmedizin nimmt Österreich eine Vorreiterrolle ein: Es war eines der ersten Länder in Europa, das durch die Ärztekammer eine Unterstützung erhalten hat, wodurch 2011 das ÖÄK-Zertifikat und Diplom eingeführt wurden.

Wer nimmt an den Fortbildungen teil?

Mittlerweile haben 478 Personen an der ÖÄK-Zertifikatsfortbildung und 92 an der ÖÄK-Diplomfortbildung in Wien und in Salzburg teilgenommen, davon sind etwa dreiviertel Frauen. Der Großteil kommt aus der Gynäkologie oder Allgemeinmedizin, auch Urologen, Psychiater und Internisten bilden sich in diesem Bereich fort. An der Zertifikats-Fortbildung dürfen in Wien auch zu einem geringen Prozentanteil Psychotherapeuten oder DGKS teilnehmen, wenn sie nachweisen, dass sie im Krankenhaus oder in einer Ordination für die Sexualberatung zuständig sind.

Inwiefern sind sexualmedizinische Kenntnisse wichtig?
Sexualmedizin betrifft alle medizinischen Bereiche, denn Sexualstörungen haben sehr oft neben psychosozialen auch organische Ursachen. Sie können das erste Symptom für eine systemische Erkrankung, wie zum Bespiel Diabetes oder Hypertonie, sein. Ein behandelnder Arzt sollte präventiv arbeiten, etwa sexualfreundliche Medikamente verschreiben, um Sexualstörungen zu verhindern und den Patienten den Zusammenhang zwischen der Erkrankung und die Folgen für die Sexualität aufzeigen. Ebenso sollten Chirurgen versuchen, sexualfunktionserhaltend zu operieren. Eine Studie hat gezeigt, dass weltweit etwa 45 Prozent der Frauen und 39 Prozent der Männer länger anhaltende sexuelle Probleme haben. Es ist daher wichtig, dass jede Ärztin und jeder Arzt über ein sexualmedizinisches Basiswissen verfügt. Seit dem Jahr 2000 gilt die WHO-Empfehlung, wonach die sexuelle Gesundheit immer als Teil der Gesamtgesundheit gesehen und angesprochen werden sollte.

Wie soll sich die Sexualmedizin in Österreich weiterentwickeln?
Wir müssen früh mit der Wissensvermittlung anfangen. An den österreichischen Universitäten bieten einzig die MedUni Wien und die SFU Fortbildungen an. Die universitäre Ausbildung sollte um das sexualmedizinische Wissen in jedem Fachbereich ergänzt werden, sodass Medizinabsolventen den Zusammenhang zwischen psychosozialen Stressoren, Erkrankungen, Operationen, Traumata, Medikation und sexuelle Gesundheit als integralen Bestandteil ihres ärztlichen Wissens abgespeichert haben. Auch während der klinischen Ausbildungsjahre sollte der ärztliche Blick für die Auswirkungen der ärztlichen Interventionen auf die sexuelle Gesundheit geschult werden. Denn ein gesundes Sexleben ist wesentlich für Körper und Psyche und für funktionierende Beziehungen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.1.2020