BKNÄ: Interview Stephan Hofmeister – „Ruhe und Sachlichkeit“

25.11.2020 | Aktuelles aus der ÖÄK


Stephan Hofmeister, stellvertretender Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in Deutschland, spricht im Interview über die Wiedereinführung der telefonischen Krankschreibung und wie die deutsche Ärzteschaft in den Herbst geht.
Sascha Bunda

Die KBV hat sich lange für die Wiedereinführung der telefonischen Krankschreibung in Deutschland stark gemacht. Mitte Oktober beschloss der Gemeinsame Bundesausschuss im Gesundheitswesen diese. Wie kommentieren Sie diese Entscheidung? Wir begrüßen diesen Beschluss sehr. Wir haben darauf hingewirkt, dass diese Regelung, die wir ja auch schon im Frühjahr hatten, mit der nun beginnenden Erkältungs- und Grippesaison wieder bundesweit gilt. Ärzte haben – zunächst bis Ende des Jahres – die Möglichkeit, Patienten mit leichten Erkrankungen der oberen Atemwege nach telefonischer Anamnese krankzuschreiben. Diese Sonderregelung bietet uns eine wirksame Handhabe zur Pandemiebekämpfung. Potentiell infektiöse Menschen können so unnötige Wege im öffentlichen Raum vermeiden. Außerdem entlastet es die Praxen, die durch die gestiegenen Hygieneanforderungen ohnehin am Limit ihrer Kapazitäten arbeiten.

Seitens der AOK wurde bestätigt, dass sowohl Ärzte als auch Versicherte sehr verantwortungsbewusst mit der Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung umgegangen sind. Wie ist die Wahrnehmung der Ärzteschaft zum Umgang? Das deckt sich auch mit unserer Wahrnehmung. In den Praxen und auch von Seiten der Versicherten wird diese Möglichkeit in den allermeisten Fällen äußerst gewissenhaft genutzt. Auch das war ein Aspekt, warum wir uns erneut für diese Sonderregelung eingesetzt haben.

Wie geht man in Deutschland mit dem Thema Grippeimpfung um? Wir setzen uns dafür ein, den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission zu folgen: Zuerst sollten die Risikogruppen geimpft werden. In den vergangenen Jahren wurde die Grippeschutzimpfung längst nicht in dem Maße von den Bürgern wahrgenommen, wie es sinnvoll gewesen wäre. Wie es in diesem Jahr aussehen wird, muss sich noch zeigen. Wir haben Meldungen, dass in einzelnen Praxen oder Apotheken der Impfstoff knapp geworden ist. Es gibt aber die Möglichkeit, Impfstoff nachzuordern. Zudem hat das Bundesgesundheitsministerium eine nationale Reserve eingerichtet.

Die Anerkennung der Leistungen der Ärzteschaft durch die Politik sind auch in Deutschland wieder ein Thema geworden. Wie stellt sich die Lage hier aktuell dar? Die niedergelassenen Ärzte haben beim ersten Ausbruch im März Großartiges geleistet. Insgesamt kamen im Monat März rund 350.000 Tests auf eine COVID-19-Infektion und darüber hinaus rund 850.000 Behandlungsanlässe zur Versorgung einer Coronavirus-Infektion oder eines -Infektionsverdachts. Selbst während der Hochphase der Pandemie sind 85 Prozent der betroffenen Patienten in den Arztpraxen versorgt worden. Die niedergelassenen Kollegen mit ihren Praxisteams hielten den Krankenhäusern den Rücken frei. Dieser Schutzwall bewahrte unser Gesundheitssystem vor einer Überlastung und sichert uns auch jetzt wieder ab. Aktuell werden 19 von 20 COVID-Patienten in Deutschland ambulant behandelt.

Wir sehen aber auch, dass es in den Praxen einen gestiegenen Beratungsbedarf gibt. Viele Menschen sind verunsichert und suchen Rat bei ihrem Arzt, etwa zur Frage, wann ein Test notwendig ist. Im Umgang mit der Pandemie sind wir gut beraten, wenn wir weniger auf Bedrohlichkeit und Angsterzeugung setzen. Wir glauben, dass vielmehr Ruhe und Sachlichkeit angeraten sind. Wir sollten nicht panisch auf ansteigende Zahlen starren. Das deutsche Gesundheitssystem verfügt über genügend Kapazitäten. Was nicht heißen soll, die Zahlen ins Uferlose laufen zu lassen. Maßnahmen wie die AHA-Regel (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske) sollten selbstverständlich für uns alle sein.

Welche Lehren haben Sie aus dem bisherigen Pandemieverlauf gezogen? Wir müssen akzeptieren, dass das Coronavirus unser Leben noch längere Zeit begleiten wird. Deshalb ist es aus unserer Sicht unumgänglich, dass jeder Einzelne das Übertragungsrisiko auf sich selbst und auf andere durch sein eigenverantwortliches Verhalten minimieren sollte. Wir müssen aber darauf Acht geben, dass die Auswirkungen auf das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben dabei möglichst gering bleiben.

Allein aus ärztlicher Sicht gesprochen: Die niedergelassenen Ärzte in Deutschland haben im Jahr über 900 Millionen Patientenkontakte. Nicht nur die chronisch kranken Patienten, auch die Behandlung von Bagatellerkrankungen oder Vorsorgeuntersuchungen dürfen in Zeiten von Corona nicht auf der Strecke bleiben. Wir müssen darauf achten, dass nicht die Nebenwirkungen den größeren Schaden anrichten.

 

 

 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2020