Porträt Alexander Hermann: Rationalität im Chaos

25.06.2019 | Politik


Unter Stress arbeitet er besonders effizient – sagt der Wiener Internist und Intensivmediziner Alexander Hermann. Seine medizinische Leidenschaft kombiniert er nun mit der Freude am Reisen als Arzt für die beiden Flugambulanzen FAI Flight Ambulance und die Tyrol Air Ambulance.
40.000 Flugkilometer hat er in den ersten zwei Bereitschaftswochen gesammelt.

Ursula Jungmeier-Scholz

In Stresssituationen einzutauchen bereitet mir Freude. Da arbeite ich besonders effizient“, sagt Alexander Hermann. Die allererste Stresssituation, in der er seine Rationalität im Chaos ebenso wie sein medizinisches Talent unter Beweis stellen konnte, erlebte er als 15-jähriger Gymnasiast beim Warten auf die U-Bahn. Ein betrunkener Mann stürzte vor seinen Augen auf die Gleise und wurde von der Zuggarnitur mitgeschleift. Ohne Zögern sprang Hermann auf den Gleiskörper, um sein frisch erworbenes Wissen in Erster Hilfe in vivo anzuwenden, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Rettung verständigt und der Bereich ohne Gefahr begehbar war.

Im Bewusstsein, dem Betroffenen kaum schaden zu können, griff er ohne Ekel vor dem Blut oder dem Körpergeruch des Mannes ein. „Ich glaube, es gibt zwei Kategorien von Menschen: Die einen haben ein Problem damit und die anderen nicht. Nach diesem Erlebnis wusste ich, dass es mir keine Schwierigkeiten bereitet.“ Der Verunfallte atmete noch und Hermann verbrachte ihn bis zum Eintreffen der Rettungskräfte in die stabile Seitenlage. Der Mann überlebte.

Kleine Biosphäre

Seitdem hat Alexander Hermann zahlreiche Menschen akut- und intensivmedizinisch betreut; er selbst fand eine Heimat auf 13i2. So nennt sich jene internistische Intensivstation im AKH Wien, die bereit war, auch einen ganz jungen, aber höchst passionierten Medizinstudenten als Dauer-Famulanten aufzunehmen – und wo er noch heute tätig ist. Spezialisiert ist die Einheit auf akutes Lungenversagen, Extrakorporale Gasaustauschtherapie, Sepsis und hämato-onkologische Intensivmedizin. Das Team – „wir sind eine kleine Biosphäre“ – ist gut eingespielt und die „Vertrauensbrücke“, wie Hermann es nennt, stabil.

Im Moment pausiert er, um im Heeresspital seinen Präsenzdienst abzuleisten. Ungewöhnlich spät – mit 31 Jahren. „In meiner Ausbildung ist alles schnell gegangen: Matura, Studium, Facharztausbildung haben so harmonisch ineinandergegriffen, dass es mir ermöglicht wurde. die Zeit beim Heer aufzuschieben, bis die Ausbildung komplett abgeschlossen war. Davon profitieren nun beide Seiten.“

Sein Berufsweg als Arzt war Hermann nicht immer vorgezeichnet, obwohl der Vater Chirurg und die Mutter Anästhesistin ist. „In meiner Spätpubertät habe ich schon rebelliert und wollte Philosophie, Astronomie oder Physik studieren.“ Letztlich, so meint er, habe dann die Medizin ihn gewählt und nicht er die Medizin.

Auch Sprachen haben es dem jungen Intensivmediziner angetan: Englisch, Französisch, Russisch, Italienisch und Norwegisch hat er gelernt und teils darin auch Nachhilfe gegeben. Eine gute Vorübung für seine jetzige Lehrtätigkeit an der MedUni Wien. Immer sprüht er vor Energie, die er – neben nahezu professionellem Gerätekunstturnen in Jugendjahren – gerne ins Lesen und Lernen investiert. Zunächst konzentrierte er sich auf Sachbücher, aber mittlerweile „pflegt er auch sein humanistisches Ich“, wie er es formuliert. Der intensive Fremdsprachenerwerb ergänzt harmonisch seine „Freude am Unterwegssein“, wovon zahlreiche Auslandsaufenthalte von Stockholm bis Taipeh zeugen.

Nun ist es ihm gelungen, seine prägendsten Interessen zu einer außergewöhnlichen Tätigkeit zu verbinden: als Arzt der beiden Flugambulanzen FAI Flight Ambulance und Tyrol Air Ambulance. In den beiden ersten Bereitschaftswochen hat er 40.000 Flugkilometer gesammelt – und ganz neue Lebenserfahrungen. „Beworben habe ich mich gleich, nachdem ich mein Facharztdekret in Händen gehalten habe.“ Seine erste Route führte ihn von Nürnberg über Island und Philadelphia bis Lima, dann über die Bahamas nach Barcelona – und von Gabun nach Paris. Drei Patienten, die unterschiedlicher nicht hätten sein könnten, lagen auf dieser Tour in seiner Verantwortung: ein schwer herzkrankes Kind, das in Philadelphia operiert werden sollte, ein spanischer Urlauber in Peru mit einer abdominellen Sepsis und schließlich eine junge Malaria-Patientin in Gabun mit einem fulminanten Multiorganversagen, klassifiziert als MedEvac. Auf der ersten Etappe ließ er sich begleiten. „Ich habe bei FAI gesagt: ich fliege alles, auch instabile Patienten, wenn es medizinisch notwendig ist. Aber keine Kinder.“ Und so befand sich an seiner Seite eine Pädiaterin. Hermann hat in den Jahren akut- und intensivmedizinischer Erfahrung viele Kenntnisse und Fertigkeiten gesammelt und geht selbstsicher auch an große Aufgaben heran. Doch wenn er für sich eine Grenze spürt, überschreitet er sie nicht ohne Not.

Jenseits des Internets

Auch ein dickes Nachschlagewerk darf in seinem Handgepäck nicht fehlen, wenn er in Flug-Bereitschaft ist. „Auf 40.000 Fuß Flughöhe gibt es kein Internet. Wenn ich in einer Frage sichergehen möchte, muss ich nachlesen können.“ Sobald Hermann in Bereitschaft ist, steht der fertig gepackte Trolley griffbereit in der Nähe. „Innerhalb von vier Stunden muss ich in Nürnberg sein können.“ Derzeit sind seine Bereitschaftsdienste in der Flugambulanz nur im Urlaub möglich, denn einzelne freie Tage sind für die weltweiten Einsätze zu knapp bemessen.

„So sieht mein Glück heute aus. Wenn ich einmal eine Familie habe, wird sich das ganze System natürlich transformieren“, erklärt Hermann lachend in Termini technici, als erläutere er einem jungen Kollegen die Herz-Lungen-Maschine.

Sein derzeitiges „System“ verläuft nahezu ohne Stehzeiten und auf verschiedene ärztliche Tätigkeiten verteilt: den Hauptberuf, das Masterstudium in Health Care Management an der Wirtschaftsuniversität Wien, die Notarzttätigkeit in Wien, das Engagement in der Flugambulanz und die Privatmedizin; hier implantiert er in Privatkliniken zentralvenöse Portkatheter. „Das hat den Vorteil, dass ich mir Zeit nehmen und die Patienten von der Lokalanästhesie über die Sedierung bis hin zur Nachsorge durchgehend betreuen kann.“ Auch hier geht Hermann auf Nummer sicher: Im Hintergrund befindet sich ein befreundeter Chirurg auf Abruf.

Choreographie der Medizin

In seiner Ausbildungszeit war Hermann sehr kompetitiv orientiert. Nun, in vielerlei Hinsicht am Ziel seiner Ambitionen angelangt, kommt er zur Ruhe. Die Intensivmedizin lebt er als Teamplayer und weiß es zu schätzen, dass in diesem Bereich die Berufsgruppen so eng zusammenarbeiten. Jeder ist mit dem Arbeitsfeld des jeweils anderen auf eine Art vertraut, dass in dramatischen Situationen ohne zu zögern Berufsgrenzen überschritten werden können. Auch in der medizinischen Versorgung in der Luft sieht er eine „Choreographie“, wo auf engstem Raum gearbeitet wird und alle Beteiligten ihre Entscheidungen aufeinander abstimmen. „Die Piloten beziehen unser Wissen über den Gesundheitszustand des Patienten ebenso in die Wahl der Flughöhe mit ein wie das medizinische Team, bestehend aus Arzt und Pflege, das in die Ausarbeitung der Tankstopp-Strategie integriert ist.“ Etwa acht Stunden können die Jets der FAI in der Luft verbringen, bevor sie neuen Treibstoff benötigen; dementsprechend müssen auch transatlantische Routen gewählt werden. „Das Schöne an der Flugmedizin ist das mehrdimensionale Helfen“, erklärt Hermann. „Für Patienten wird in derartigen Ausnahmesituationen der Wunsch heimzukommen übermächtig. Mit dem Heimweh eines Gesunden ist dieses Gefühl nicht zu vergleichen.“ Zwar ist eine Reise für kritisch Kranke unter derartigen Umständen eine ungeheure Strapaze, „aber die Heimat zu erreichen ist Teil der Heilung“.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2019