Digi­tale Medi­zin: Künst­li­che Intel­li­genz als neue Hoffnung?

10.04.2019 | Politik


Künst­li­che Intel­li­genz ist nach Big Data das nächste große Schlag­wort, wie sich kürz­lich bei einer der welt­weit größ­ten Kon­fe­ren­zen für Digi­tal­me­di­zin, der Health­care Infor­ma­tion Manage­ment Sys­tems Society (HIMSS), in Orlando zeigte.
Nora Schmitt-Sau­sen

Eine der größ­ten Bar­rie­ren für die volle Ent­fal­tung von Digi­tal Health hat die Regie­rung von Donald Trump Mitte Februar die­ses Jah­res aus dem Weg geräumt: Einen Tag vor Beginn der Kon­fe­renz der Health­care Infor­ma­tion Manage­ment Sys­tems Society (HIMSS), einem der welt­weit größ­ten Tref­fen der Digi­tal­me­di­zin, ver­kün­dete die Regie­rung, dass im US-Gesund­heits­we­sen künf­tig ein Sys­tem-über­grei­fen­der Daten­aus­tausch mög­lich sein muss. Das heißt: Digi­tale Gesund­heits­da­ten von Pati­en­ten sol­len bald pro­blem­los von einem Sys­tem ins andere wan­dern kön­nen. Es soll ein ver­netz­tes Umfeld „für den siche­ren Aus­tausch von Infor­ma­tio­nen“ ent­ste­hen. Die US-Regie­rung eta­bliert dafür ein­heit­li­che Stan­dards. Das schon lange bekannte Pro­blem, dass IT-Sys­teme nicht mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren konn­ten, soll damit gelöst wer­den. Der nicht mög­li­che Daten­aus­tausch war bis­lang einer der größ­ten Knack­punkte, warum das Poten­tial der digi­ta­len Medi­zin noch nicht voll aus­ge­schöpft wer­den konnte. Ent­spre­chend posi­tiv sind die meis­ten Reak­tio­nen auf die neuen Bestim­mun­gen der US-Regie­rung ausgefallen.

Die Ent­schei­dung der Regie­rung Trump hat noch einen ganz beson­de­ren Effekt. Sie stelle „den Pati­en­ten in das Zen­trum der Ver­sor­gung“, sagte Seema Verma von der US-Gesund­heits­be­hörde „Cen­ters for Medi­care & Medi­caid Ser­vices“ in Orlando. Auch damit wol­len sich die USA einen Schritt der Vision nähern, den viele für die digi­tale Medi­zin haben: Dass der Pati­ent mehr im Zen­trum der Ver­sor­gung steht als bis­lang. Denn: Der lange vor­be­rei­tete Schritt befä­hige Pati­en­ten, zu einem gleich­be­rech­tig­ten Part­ner in der Ver­sor­gung zu wer­den. Aber auch des­we­gen, weil Gesund­heits­da­ten, die inner­halb des Gesund­heits­sys­tems erho­ben wer­den, künf­tig genauso mit in die Behand­lung ein­flie­ßen sol­len kön­nen wie jene, die die Pati­en­ten selbst via Smart­watch und Apps erfassen.

Auch über den Umgang mit Gesund­heits­da­ten wurde auf der Kon­fe­renz sehr viel gespro­chen – gel­ten sie doch als Schlüs­sel der Ver­sor­gung von mor­gen. Doch bis sie zum erhoff­ten Mehr­wert füh­ren kön­nen, gibt es noch einige Bar­rie­ren zu über­win­den: Wie kommt man an all die Daten sei­ner Pati­en­ten heran? Wie wer­den diese neuen Daten­mas­sen sor­tiert? Wie kann man aus den Daten Infor­ma­tio­nen gewin­nen? Wie kön­nen Feh­ler bei der Aus­wer­tung ver­mie­den wer­den? Wie kön­nen die Daten für die Pati­en­ten nutz­bar gemacht wer­den? Auf viele die­ser Fra­gen gibt es noch keine Ant­wor­ten. Viele set­zen die Hoff­nung auf künst­li­che Intel­li­genz (KI). Nach Big Data ist es das nächste große Zau­ber­wort für die Ver­sor­gung der Zukunft – und war auch auf der HIMSS eines der gro­ßen Themen. 

Die Ver­spre­chun­gen klin­gen hoff­nungs­voll – spe­zi­ell im Hin­blick auf das Manage­ment der neuen digi­ta­len Daten­mas­sen. Künst­li­che Intel­li­genz könne hel­fen, den Wust von Gesund­heits­da­ten auf­zu­be­rei­ten, aus­zu­wer­ten und zu interpretieren.

Künst­li­che Intel­li­genz und Ärzte wer­den beim Kon­gress in Orlando häu­fig auch im Zusam­men­hang mit Burn­out genannt. Aktu­ell ist das in den USA ein der­art gro­ßes Pro­blem, dass es in Fach­krei­sen inzwi­schen als Bedro­hung für die öffent­li­che Gesund­heit ange­se­hen wird. Die Hoff­nung: Künst­li­che Intel­li­genz könne hel­fen, Ärzte zu ent­las­ten, damit sich diese wie­der mehr auf ihre Kern­ar­beit – die Arbeit mit Pati­en­ten – kon­zen­trie­ren kön­nen anstatt ihre Zeit mit Daten­er­fas­sung, Doku­men­ta­tion und Ver­wal­tungs­tä­tig­kei­ten zu ver­brin­gen. Eine der Über­le­gun­gen dabei lau­tet: Künst­li­che Intel­li­genz könne den Work­flow von Ärz­ten rund um elek­tro­ni­sche Gesund­heits­ak­ten ver­bes­sern, indem sie bei­spiels­weise Lücken und Schwach­stel­len darin iden­ti­fi­ziert. Oder dass die künst­li­che Intel­li­genz dazu bei­tra­gen könne, die ärzt­li­che Doku­men­ta­tion künf­tig zu auto­ma­ti­sie­ren – und zwar über Ton­auf­nah­men und digi­tale Sprach­erfas­sung, die dann auto­ma­tisch wäh­rend des Arzt-Pati­en­ten-Gesprächs erfolgt. 

Erste beacht­li­che Erfolge

Auf ande­ren Gebie­ten kann Künst­li­che Intel­li­genz bereits erste beacht­li­che Erfolge erzie­len: etwa indem sie Rönt­gen­bil­der oder Krank­heits­ver­läufe treff­si­che­rer inter­pre­tiert als Ärzte. Doch den Pra­xis­test hat die Künst­li­che Intel­li­genz noch lange nicht bestan­den. Auch das wurde beim Kon­gress in Orlando – abge­se­hen von den gro­ßen Hoff­nun­gen, die man in sie setzt – deut­lich. Denn viele Fra­gen blei­ben vor­erst noch offen: Was ist Hype und was kön­nen die Algo­rith­men wirk­lich leis­ten? Wie steht es um noch viele unbe­ant­wor­tete ethi­sche Fra­gen rund um künst­li­che Intel­li­genz und maschi­nel­les Ler­nen? Wie kann man die Feh­ler­an­fäl­lig­keit in den Griff bekom­men? Wie steht es um die Evi­denz, die in der Medi­zin so wich­tig ist, in der digi­ta­len Medi­zin aber so häu­fig noch fehlt?

Evi­denz – ein wei­te­rer zen­tra­ler Begriff auf der HIMSS. Das machte etwa S. David McS­wain von der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät South Caro­lina in einem Vor­trag über Tele­me­di­zin deut­lich. Im Ver­gleich zu ande­ren digi­ta­len Tech­no­lo­gien wird die Tele­me­di­zin in den USA bereits in brei­ter Form ange­wen­det. Den­noch hat sie sich noch nicht so eta­bliert, wie sich das viele Anhän­ger der digi­ta­len Tech­no­lo­gie erhofft hat­ten. Einen der Gründe sehen Exper­ten darin, dass die Ärzte gegen­über den neuen tech­ni­schen Ent­wick­lun­gen wei­ter zurück­hal­tend sind. Für McS­wain – selbst ein gro­ßer Befür­wor­ter der Tele­me­di­zin – ist nicht zuletzt die man­gelnde Evi­denz eine mög­li­che Erklä­rung. „Ärzte brau­chen Evi­denz. Uns wurde in den Medi­cal Schools ein­ge­bläut, dass es Evi­denz benö­tigt, bevor man die Behand­lung ver­än­dert.“ Dies müsse Ent­wick­lern bewusst sein, wenn sie neue Inno­va­tio­nen auf den Markt brächten.

Ärzte mit an Bord holen

Und er hatte noch einen Tipp: IT-Fir­men – und Gesund­heits­ein­rich­tun­gen – müss­ten das medi­zi­ni­sche Per­so­nal mit an Bord holen, wenn die digi­tale Medi­zin erfolg­reich sein soll. „Es wird mit Blick auf die Pati­en­ten immer so viel über die Cus­to­miza­tion im Gesund­heits­we­sen gespro­chen. Ärzte sind aber genauso Kun­den“, betonte McS­wain. Ein digi­ta­les Pro­dukt könne nicht durch­set­zen, wenn die­je­ni­gen, die es tag­täg­lich nut­zen sol­len, nicht über­zeugt sind. Ärz­tin­nen und Ärzte müss­ten einen Mehr­wert dahin­ter sehen.

Ähn­lich argu­men­tiert die Ame­ri­can Medi­cal Asso­cia­tion (AMA). Auch sie sieht nicht nur Ärzte und Gesund­heits­ein­rich­tun­gen in der Pflicht, wenn die digi­tale Medi­zin in den kom­men­den Jah­ren eine Erfolgs­ge­schichte schrei­ben will, son­dern auch die­je­ni­gen, die die Inno­va­tio­nen und Sys­teme ent­wi­ckelt haben: die IT-Unter­neh­men. Nicht erst seit Orlando hat sich die AMA auf die Fahne geschrie­ben, „Tech­no­lo­gie zu einem Vor­teil in der Ver­sor­gung zu machen, nicht zu einer Bürde.“ Die Ärz­te­or­ga­ni­sa­tion appel­lierte auf der HIMSS, die Per­spek­tive von Ärz­ten – und Pati­en­ten – stär­ker in Inno­va­tio­nen mit ein­flie­ßen zu las­sen. Die­ser Appell war ganz im Sinne der Ver­an­stal­ter. Die HIMMS will Pati­en­ten und Ver­sor­ger künf­tig mehr in den Mit­tel­punkt rücken. Zen­trale Vision sind Gesund­heits­sys­teme, die sich an den Bedürf­nis­sen der Pati­en­ten aus­rich­ten – und in denen die Ver­sor­ger dank tech­ni­scher Errun­gen­schaf­ten in ihren Ent­schei­dungs­pro­zes­sen unter­stützt werden.

Deut­lich wurde in Orlando: Dies kann nur gelin­gen, wenn alle Betei­lig­ten – IT-Indus­trie, Ärzte, Gesund­heits­ein­rich­tun­gen, Ver­si­che­rer, Poli­tik – mehr an einem Strang zie­hen als dies in der Ver­gan­gen­heit der Fall war.


HIMSS – Überblick

Die Health­care Infor­ma­tion Manage­ment Sys­tems Society (HIMSS) ist eine glo­bale, gemein­nüt­zige Orga­ni­sa­tion, deren Ziel es ist, die Gesund­heits­ver­sor­gung durch Infor­ma­tion und Tech­no­lo­gie zu ver­bes­sern. Gegrün­det wurde die HIMSS 1961 am Geor­gia Insti­tute of Tech­no­logy; heute hat sie ihren Haupt­sitz in Chi­cago (Illi­nois). Büros gibt es außer­dem auch noch in ande­ren Regio­nen in den USA, Europa und Asien. Zur HIMSS-Gemein­schaft gehö­ren nach eige­nen Anga­ben mehr als 70.000 Ein­zel­per­so­nen, von denen der Groß­teil bei Gesund­heits­dienst­leis­tern, staat­li­chen und gemein­nüt­zi­gen Orga­ni­sa­tio­nen welt­weit arbei­tet. Dazu kom­men mehr als 600 Unter­neh­men und 450 Part­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen, die das Ansin­nen der HIMSS tei­len. Viele Füh­rungs­kräfte bei HIMSS sind Ärzte.

Die fünf­tä­gige Jah­res­kon­fe­renz zählt zu den größ­ten Kon­fe­ren­zen für digi­tale Medi­zin welt­weit. Einst ein Event aus­schließ­lich für IT-Nerds, hat sich die Ver­an­stal­tung zu einem glo­ba­len Bran­chen­tref­fen für digi­tale Ent­wick­lun­gen im Gesund­heits­we­sen ent­wi­ckelt. US-Medi­zin­or­ga­ni­sa­tio­nen bie­ten Bil­dungs­pro­gramme an, das Gesund­heits­mi­nis­te­rium nutzt die Auf­merk­sam­keit, um neue Poli­tik zu ver­kün­den, Unter­neh­men prä­sen­tie­ren ihre neu­es­ten Ent­wick­lun­gen, Uni­ver­si­tä­ten zei­gen ihr digi­ta­les Know-how. Die mehr als 43.000 Besu­cher im Jahr 2019 kamen aus 90 Ländern.

Das dies­jäh­rige Bil­dungs­pro­gramm in Orlando war dicht gedrängt und umfasste fast 500 Vor­träge zu vie­len ver­schie­de­nen The­men wie zum Bei­spiel „Altern und Tech­no­lo­gie: Was uns die Daten erzäh­len“, „Künst­li­che Intel­li­genz und Bild­ge­bung: Daten als stra­te­gi­scher Vor­teil“, „Cyber­se­cu­rity Check-up: Leis­tung errei­chen und mes­sen“, „Wie prak­ti­sches Big Data-Manage­ment den Wert im Gesund­heits­we­sen stei­gern kann“.

Im Rah­men der Kon­fe­renz wurde der Blick auf die Erfolge gerich­tet, die mit digi­ta­ler Medi­zin mög­lich sind – etwa bei der Ver­sor­gung von chro­nisch Kran­ken oder der Betreu­ung von Pati­en­ten in länd­li­chen Gebie­ten. Doch auch Pro­bleme und Bar­rie­ren der digi­ta­len Medi­zin wur­den wäh­rend der fünf Tage offen ange­spro­chen. Zum Bei­spiel diese: Lücken bei der Cyber­si­cher­heit, Gren­zen bei der Imple­men­tie­rung der Tele­me­di­zin, die Über­for­de­rung von Pati­en­ten, man­gelnde Benut­zer­freund­lich­keit elek­tro­ni­scher Gesund­heits­ak­ten und auch die nach wie vor unge­löste Frage, wie digi­tale Leis­tun­gen hono­riert werden.

Bei der Indus­trie­aus­stel­lung im Zuge der HIMSS prä­sen­tier­ten 1.300 Aus­stel­ler aus aller Welt ihre Neu­hei­ten: Ama­zon, Google und IBM Seite an der Seite von tra­di­tio­nel­len Gesund­heits­un­ter­neh­men und Start-ups.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 7 /​10.04.2019