Poly­phar­ma­zie im Alter: Häu­fi­ger bei Frauen

25.02.2019 | Medizin


Bei der Ein­nahme von zehn Medi­ka­men­ten besteht ein 90-pro­zen­ti­ges Risiko für eine Arz­nei­mit­tel­in­ter­ak­tion, wobei die Neben­wir­kungs­rate bei Frauen grund­sätz­lich höher ist. Die Gründe dafür: Ver­mut­lich sind die Dosen für Frauen a priori zu hoch und es kommt auch häu­fi­ger zu immu­no­lo­gi­schen Reak­tio­nen als bei Män­nern.

Laura Scher­ber

Poly­phar­ma­zie ist ein Pro­blem des alten Men­schen, weil alte Men­schen mul­ti­mor­bid sind“, sagt Univ. Prof. Michael Freiss­muth vom Insti­tut für Phar­ma­ko­lo­gie Wien. Und wei­ter: „In der Regel lei­den alte Men­schen an einer Hyper­to­nie, einem Typ-2-Dia­be­tes und oft ist auch noch eine psych­ia­tri­sche Stim­mungs­pro­ble­ma­tik vor­han­den“. Kom­men zusätz­li­che Erkran­kun­gen wie Poly­neu­ro­pa­thie, Arthrose, Gicht oder ein Tumor dazu, erge­ben sich Her­aus­for­de­run­gen für die phar­ma­ko­lo­gi­sche The­ra­pie. „Bei der Poly­phar­ma­zie zeigt sich ein kon­ti­nu­ier­li­cher Ver­lauf“, weiß Priv. Doz. Mar­kus Zeit­lin­ger von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Phar­ma­ko­lo­gie Wien. „Je älter die Pati­en­ten, umso mehr Medi­ka­mente wer­den ein­ge­nom­men“. Laut Zeit­lin­ger neh­men rund zwölf Pro­zent der 50- bis 59-Jäh­ri­gen sechs bis zehn ver­schie­dene Wirk­stoffe zu sich, wäh­rend es bei den 70- bis 79-Jäh­ri­gen fast 30 Pro­zent sind. Zwei Pro­zent der 50- bis 59-Jäh­ri­gen neh­men sogar elf bis 15 Wirk­stoffe ein; bei den über 90-Jäh­ri­gen sind es sogar mehr als zehn Prozent.

Mathe­ma­ti­sche Modelle zur Abschätzung

Für die Abschät­zung von poten­ti­el­len Neben­wir­kun­gen bei einer Poly­phar­ma­zie gibt es mathe­ma­ti­sche Modelle. Laut Zeit­lin­ger kann man bei einer Ein­nahme von zehn Medi­ka­men­ten davon aus­ge­hen, dass ein 90-pro­zen­ti­ges Risiko für Arz­nei­mit­tel­in­ter­ak­tio­nen besteht. „Aller­dings ist nicht jede Arz­nei­mit­tel­in­ter­ak­tion auch eine schwere Inter­ak­tion“, weiß der Experte. Es gibt drei Schwe­re­grade von Arz­nei­mit­tel­in­ter­ak­tio­nen: geringe Inter­ak­tio­nen („minor“), die sich zwar bemerk­bar machen, aber eigent­lich tole­ra­bel sind; mode­rate Inter­ak­tio­nen, die zwar nicht lebens­be­droh­lich, aber auch nicht tole­rier­bar sind, und schwere Inter­ak­tio­nen („major“), die sofort lebens­be­droh­lich sein kön­nen, aber nur einen rela­tiv gerin­gen Anteil der Arz­nei­mit­tel­in­ter­ak­tio­nen aus­ma­chen. Laut Freiss­muth haben Frauen in der Regel eine höhere Neben­wir­kungs­rate, wobei es dafür ver­schie­dene Erklä­run­gen gibt. Einer­seits wird ver­mu­tet, dass die Dosen a priori spe­zi­ell für Frauen zu hoch sind, ande­rer­seits gibt es bei Frauen häu­fi­ger immu­no­lo­gi­sche Reak­tio­nen, da das Immun­sys­tem von Frauen akti­ver ist und es daher auch häu­fi­ger zu Auto­im­mun­phä­no­me­nen kommt.

Wie bedroh­lich bezie­hungs­weise fol­gen­reich eine Arz­nei­mit­tel­in­ter­ak­tion ist, hängt von ver­schie­de­nen Fak­to­ren ab, wobei man zwi­schen der phar­ma­ko­ki­ne­ti­schen und der phar­ma­ko­dy­na­mi­schen Inter­ak­tion unter­schei­det. Bei der phar­ma­ko­ki­ne­ti­schen Inter­ak­tion ver­än­dert sich der Wirk­stoff­spie­gel eines oder meh­re­rer Medi­ka­mente, sodass ent­we­der zu wenig Wirk­stoff für einen the­ra­peu­ti­schen Effekt vor­han­den ist, dafür gibt es aber auch keine Neben­wir­kun­gen. Oder aber es kommt zu einer Über­do­sie­rung, das heißt die Wir­kung bleibt bestehen, jedoch tre­ten Neben­wir­kun­gen auf. „Man spricht hier auch von zwei Gegen­spie­lern, dem Täter und dem Opfer. Mit der Wir­kung des Täters pas­siert nichts, jedoch beein­flusst der Täter eben die Phar­ma­ko­ki­ne­tik des Opfers in einer nega­ti­ven Art und Weise, sodass es zu Über- oder Unter­do­sie­rung kom­men kann“, erläu­tert Zeit­lin­ger. Bei der phar­ma­ko­dy­na­mi­schen Inter­ak­tion ver­än­dert sich die Phar­ma­ko­ki­ne­tik über­haupt nicht, aber beide Medi­ka­mente haben bei­spiels­weise das glei­che Ziel­or­gan ihrer Neben­wir­kun­gen, wodurch es zu einer Poten­zie­rung des Risi­kos kommt.

„Start low – go slow“ heißt laut Freiss­muth die Faust­re­gel bei Medi­ka­men­ten zur Behand­lung von chro­ni­schen Erkran­kun­gen. Dem­nach sollte bei über 70-Jäh­ri­gen die Erwach­se­nen­do­sis auf die Hälfte, bei über 80-Jäh­ri­gen auf ein Drit­tel redu­ziert wer­den. Eine wei­tere Mög­lich­keit ist ein Aus­lass-Ver­such bei bestimm­ten Medi­ka­men­ten, wenn der Pati­ent älter wird. Hier liegt empi­ri­sche Evi­denz vor, dass dadurch auch eine Bes­se­rung der Sym­pto­ma­tik erreicht wer­den kann. Grund­sätz­lich sollte man älte­ren Pati­en­ten nur Arz­nei­mit­tel ver­ord­nen, die sich in gro­ßen kli­ni­schen Stu­dien lebens­ver­län­gernd und/​oder lebens­qua­li­täts­ver­bes­sernd erwie­sen haben, betont Freiss­muth. Denn: „In der Pra­xis wer­den sehr viele Alter­na­tiv­me­di­zi­ni­sche Sub­stan­zen ver­wen­det, deren Wirk­sam­keit nicht belegt ist.“ Sei­ner Ansicht nach sollte hier ange­setzt wer­den, wenn man die Zahl der Arz­nei­mit­tel redu­zie­ren möchte.

Viele Arz­nei­mit­tel­in­ter­ak­tio­nen kön­nen ver­mie­den wer­den, indem unnö­tige Medi­ka­mente abge­setzt oder inner­halb der Sub­stanz­klas­sen dif­fi­zil, aber rele­vante Unter­schiede und sich dar­aus erge­bende poten­ti­elle Inter­ak­tio­nen berück­sich­tigt wer­den. „Wenn ich zum Bei­spiel ein Makro­lid gegen einen Infekt ver­schrei­ben möchte und weiß, dass es bei der Gabe von Clari­thro­my­cin zu Arz­nei­mit­tel­in­ter­ak­tio­nen kommt, kann ich statt­des­sen Azi­thro­my­cin ver­ord­nen, das keine phar­ma­ko­ki­ne­ti­sche Arz­nei­mit­tel­in­ter­ak­tion über das Cytochrom P450 hat, aber die glei­che Wirk­sam­keit auf­weist“, führt Zeit­lin­ger aus. Ähn­lich ver­hält es sich bei­spiels­weise bei Sta­ti­nen: Der Aus­tausch eines Sta­tins durch ein ande­res kann einen gro­ßen Unter­schied machen – selbst wenn beide Medi­ka­mente gleich potent sind. Wich­tig ist laut Freiss­muth auch zu über­prü­fen, inwie­fern bei älte­ren Pati­en­ten die Not­wen­dig­keit besteht, Pro­to­nen­pum­pen­in­hi­bi­to­ren lang­fris­tig zu ver­ord­nen. PPIs haben zwar keine gra­vie­ren­den Neben­wir­kun­gen, stei­gern aber bei andau­ern­der The­ra­pie das Risiko für Osteo­po­rose und Lun­gen­ent­zün­dun­gen. Dar­über hin­aus kön­nen in Abhän­gig­keit vom Prä­pa­rat die Resorp­tion oder der Abbau von Arz­nei­mit­teln beein­flusst werden.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 4 /​25.02.2019