Phantomschmerz: Schmerz-Abgrenzung im Vorfeld

10.11.2019 | Medizin


Etwa 15 Prozent aller Patienten nach einer Amputation leiden unter einer schweren Form des Phantomschmerzes. Bei der Diagnostik ist die Abgrenzung von der nicht-schmerzhaften Phantomsensation und dem Stumpfschmerz wichtig, da sonst ein falscher Therapieansatz gewählt wird.
Laura Scherber

Die Bedeutung des Phantomschmerzes wurde lange Zeit unterschätzt. Erst in den letzten 20 bis 30 Jahren hat sich ein Bewusstsein für die Häufigkeit und die Auswirkung auf die Lebensqualität und psychosoziale Gesundheit der Patienten entwickelt. „Beim Phantomschmerz handelt es sich um einen persistierenden postchirurgischen, posttraumatischen Schmerz, der in 50 bis 85 Prozent aller Amputationen auftritt und sowohl geplante operative als auch traumatische Amputationen durch Unfälle und Verletzungen betrifft“, erklärt Univ. Prof. Hans Georg Kress von der Klinischen Abteilung für Spezielle Anästhesie und Schmerzmedizin der Med Uni Wien. „Der Phantomschmerz gehört zum Krankheitsbild der neuropathischen Schmerzen, die durch die Verletzung von peripheren und/oder zentralen Nerven zustande kommen und nach Amputation als Schmerz in einem nicht mehr vorhandenen Körperabschnitt wahrgenommen werden“, ergänzt Univ. Prof. Michael K. Herbert von der Klinischen Abteilung für Spezielle Anästhesiologie, Schmerz- und Intensivmedizin der Med Uni Graz. Die Schmerzsymptomatik kann dabei verschiedene Formen annehmen vom Attacken-förmigen, einschießenden, messerstichartigen, elektrisierenden Schmerz über brennende oder krampfartige Empfindungen bis hin zum Dauerschmerz, eventuell mit intermittierenden einschießenden Schmerzen. „Etwa 15 Prozent aller Patienten nach einer Amputation leiden unter einer schweren Schmerzform, mit einem Wert von über sechs auf einer Schmerzskala von eins bis zehn“, so Kress.

Meist Extremitäten betroffen

Der Phantomschmerz betrifft in den meisten Fällen die Extremitäten, wobei auch Fälle nach einer Brust-Amputation und nach der Extraktion eines Zahnes (atypische Odontalgie) in der Literatur beschrieben wurden. Gemäß den Zahlen einer deutschen Befragung aus dem Jahr 2019 war der Amputationsort in 95,5 Prozent der Fälle das Bein, in etwa 4,5 Prozent der Arm und dabei meistens die Finger oder Teile eines Fingers. Der Grund für den Verlust war in 42 Prozent der Fälle ein Unfall, in 24 Prozent eine arterielle Verschlusskrankheit, in jeweils neun Prozent ein Tumor oder Diabetes mellitus, in 7,5 Prozent Kriegsverletzungen und in 6,4 Prozent Entzündungen. Der Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens des Phantomschmerzes ist heterogen und kann unmittelbar nach der Amputation einsetzen, wenige Wochen oder sogar Jahre nach der Amputation. „Eine schmerzfreie Latenz von mehreren Jahren stellt keine Sicherheit dar, dass auch in Zukunft kein Phantomschmerz auftritt“, betont Herbert.

Im Rahmen der Diagnostik ist es essentiell, den Phantomschmerz von der nicht-schmerzhaften Phantomsensation und dem Stumpfschmerz abzugrenzen, „da sonst ein vollkommen falscher Therapieansatz gewählt wird“, betont Kress. „Der Stumpfschmerz ist in der Regel ein nicht-neuropathischer Schmerz, der im noch vorhandenen Stumpf durch eine Entzündung oder ein Neurom ausgelöst wird, also eine Auswucherung von Nervenaxonen, die fast immer nach Amputationen auftritt oder auch durch eine schlechtsitzende Prothese“, führt der Experte aus. Grundsätzlich können auch alle drei Phänomene bei einem Patienten gleichzeitig auftreten. „Wir haben einerseits die Patienten, die durch den Mangel an Input Symptome entwickeln, und andererseits Patienten, die vermutlich durch die ektopische Erregung der abgeschnittenen Nervenendigungen zu viel an Input haben, der über eine periphere, zu einer zentralen Sensibilisierung führt“, berichtet Kress.

Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass die Neuroplastizität für die Entwicklung des Phantomschmerzes eine Rolle spielt. Durch den Wegfall der neuronalen Impulse aus dem amputierten Glied findet eine kortikale Reorganisation im somatosensorischen Kortex statt, woraufhin das Areal, das die verlorene Körperregion präsentiert, nun auch neuronalen Input aus anderen benachbarten kortikalen Arealen bekommt. „Grundsätzlich hat der typische Phantomschmerz immer eine zentralnervöse, eine periphere und eine psychisch modulierende Komponente“, erläutert Kress.

Emotionale Belastung und Stress können den Phantomschmerz verstärken; psychologische Faktoren wiederum können dazu beitragen, dass neuropathische Schmerzen stärker empfunden werden. Laut Kress existieren fünf Risikofaktoren für die Entwicklung eines persistierenden postoperativen Schmerzes: ein bereits bestehender chronischer Schmerz; ein sehr starker, schlecht behandelter postoperativer Schmerz; Catastrophizing; junges Alter und weibliches Geschlecht. Gleichzeitig haben Patienten mit einer gut sitzenden, funktionellen Beinprothese weniger Phantomschmerzen als Patienten, die ihre Prothese aufgrund einer unzureichenden Funktionsfähigkeit oder aufgrund von Beschwerden nicht oder nur selten tragen.

Für den Phantomschmerz existiert nicht nur ein einziges Therapieverfahren, das bei allen Patienten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu einer erfolgreichen Schmerzreduktion führt. Kress dazu: „Zur Anwendung kommt eine multidisziplinäre, multimodale Therapie, mit der man den Phantomschmerz gut reduzieren, in der Regel aber selten heilen kann“. Bei der medikamentösen Therapie werden antineuropathisch wirksame Medikamente eingesetzt: trizyklische Antidepressiva am Abend (Amitriptylin) oder Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (Duloxetin, Venlafaxin), die mit weniger Nebenwirkungen assoziiert sind. „Häufig werden diese Medikamente mit Antikonvulsiva aus der Gabapentinoid-Reihe kombiniert, also mit hochdosiertem Gabapentin oder Pregabalin“, erklärt Kress. Führt diese Erstlinientherapie zu keiner Besserung, werden auch Opioide eingesetzt. Neben Tramadol hat sich laut dem Experten das relativ neue Tapentadol etabliert, das – ohne metabolisiert werden zu müssen – sowohl als Agonist am μ-Opioidrezeptor wirkt, als auch als selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. In sehr schweren Fällen mit besonders elektrisierenden, einschießenden Phänomenen wird auch auf klassische Antikonvulsiva wie Carbamazepin zurückgegriffen. „Nicht evidenzbasiert und schlecht wirksam sind hingegen Benzodiazepine oder andere Psychopharmaka“, betont Kress. In einigen Studien wird zwar auch der Einsatz von Calcitonin propagiert. Allerdings fehlen bisher noch große klinische Studien, die diesen Zusammenhang belegen. „Aussagekräftige Studien sind beim Phantomschmerz häufig schwierig, da ein Großteil der Amputationen unfallbedingt und damit nicht planbar ist“, erklärt Herbert. Und weiter: „Außerdem ist es ethisch fragwürdig, einen Patienten mit Phantomschmerz nur mit Placebo zu behandeln.“

Neben der medikamentösen Therapie gibt es eine Vielzahl von anderen Verfahren, die bei der Behandlung des Phantomschmerzes zum Einsatz kommen wie zum Beispiel die kognitive Verhaltenstherapie, Biofeedback, Spiegelnutzung, Nutzung einer myoelektrischen Prothese, sensorisches Diskriminationstraining, Vorstellungstraining oder Imaginationstraining. Auch wenn zu den einzelnen Verfahren wenig kontrollierte Studien existieren, zeigt sich in der Praxis, dass diese Verfahren durchaus wirksam sind. „Da man heute davon ausgeht, dass chronische Schmerzen aufgrund von biopsychosozialen Faktoren entstehen, sollte das auch in der Therapie berücksichtigt werden“, betont Herbert. Verfahren wie die Spiegeltherapie, bei der Patienten das nicht mehr vorhandene Glied gedanklich ergänzen und bewegen, machen sich den Mechanismus der kortikalen Reorganisation zunutze. „Empirisch wurde gezeigt, dass die weitgehende Verhinderung der kortikalen Reorganisation das Auftreten von Phantomschmerz vermindert und dass man umgekehrt Phantomschmerz verringern kann, wenn man versucht, eine bereits eingetretene kortikale Reorganisation wieder rückgängig zu machen“, weiß Kress. Obwohl alternative Verfahren wie Akupunktur, Akupressur und Entspannungstechniken als Therapie dritter Wahl zählen, können sie im Einzelfall durchaus wirksam sein. Wenn mit klassischen Therapien keine Besserung erzielt werden kann, können bestimmte Neuromodulationsverfahren zum Einsatz kommen; diese weisen jedoch heterogene Evidenz auf. Während die Spinal Cord Stimulation beim Phantomschmerz selten wirksam ist, stellt die Motorcortex-Stimulation eine wirksamere Option bei refraktären Patienten dar. Der Einsatz der nicht-invasiven transkraniellen Magnetstimulation beschränkt sich derzeit noch auf Forschungszentren.

„Da es keinen Goldstandard bei der Therapie gibt, erfordert der Phantomschmerz individualisierte Präzisionsmedizin, also die Zusammenarbeit eines interdisziplinären Teams mit der Ausarbeitung eines individualisierten Therapiekonzepts und die laufende Modulierung und Anpassung des Therapieprozesses“, betont Kress.  Während bei einem Stumpfschmerz orthopädische Rehabilitationseinrichtungen die passende Anlaufstelle sind, stellt beim Phantomschmerz ein interdisziplinäres Schmerzzentrum mit neuropathischer Schmerzbehandlung die richtige Anlaufstelle dar. „Die Betreuung eines Patienten mit Phantomschmerz ist nicht einfach und sollte in einer spezialisierten Einrichtung erfolgen, in der hochwirksame Schmerzmittel routinemäßig eingesetzt werden“, betont Herbert. Die richtige Dosierung, das Management von potentiellen Nebenwirkungen und der Austausch von bestimmten Medikamenten sei speziell beim Phantomschmerz ein komplexes Unterfangen und erfordere zumindest bei der medikamentösen Ersteinstellung entsprechende Expertise.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2019