Österreichische Interdisziplinäre Hochaltrigenstudie: Individuelle Unterstützung

15.08.2019 | Medizin


Ebenso wie junge Menschen sind auch ältere sehr unterschiedlich, was sich auch im Unterstützungsprozess widerspiegeln muss. Dazu zählt etwa die Individualisierung von Betreuungsstrukturen und der Einsatz von mobilen, multiprofessionellen Teams, um vorhandene Kompensations- und Adaptionsfähigkeiten zu stärken.

Laura Scherber

Bis zum Jahr 2050 wird speziell der Anteil der Hochaltrigen in Österreich zunehmen – das hat eine aktuelle Erhebung gezeigt. „Wie aus der Österreichischen Interdisziplinären Hochaltrigenstudie und weiteren internationalen Erhebungen hervorgeht, nimmt die Wahrscheinlichkeit, an chronischen und akuten Erkrankungen zu leiden, mit höherem Lebensalter zu“, sagt Univ. Prof. Regina Roller-Wirnsberger von der Universitätsklinik für Innere Medizin Graz. Gleichzeitig verringern sich die Funktionalität und die Selbstversorgungsfähigkeit. „Die gesundheitliche Entwicklungsgeschwindigkeit und Differenzierung nimmt zwischen dem 80. und 90. Lebensjahr enorm zu“, erklärt Georg Ruppe von der Österreichischen Plattform für Interdisziplinäre Alternsfragen (ÖPIA). Die Plattform führt die Hochaltrigenstudie durch, in der die Gesundheits-, Lebens- und Betreuungssituation von Menschen über 80 Jahren erhoben werden. „Wir sehen dabei eine starke Auseinanderdifferenzierung in dieser Lebensphase. Das heißt, dass ein Teil der Personen tendentiell mit relativ guter Gesundheit älter werden kann, während bei den übrigen immer mehr gesundheitliche und vor allem funktionale Schwierigkeiten auftreten.“ Die Ergebnisse spiegeln die Relativität der Gesundheit im hohen Alter wider: Bei einem Großteil der Teilnehmenden liegen eine oder mehrere chronische Erkrankungen vor. Auch diejenigen, die sich einen guten Gesundheitszustand bewahrt haben, erleben gesundheitliche Einschränkungen; sie schaffen es aber, beträchtliche Potenziale zu mobilisieren, Verluste zu kompensieren und im sozialen Netzwerk weiterhin aktiv zu bleiben.

Die Weiterverfolgung im Längsschnitt hat gezeigt, dass der Anteil der rüstigen und fitten Hochaltrigen tendentiell gestiegen ist, so Ruppe. 18 Prozent sind zwischen Erst- und Zweiterhebung in der Zwischenzeit verstorben, wobei dies mehrheitlich Teilnehmende mit einem niedrigen sozioökonomischen Status waren. „Wir haben eine enorme soziale Selektion ins hohe Alter hinein“, weiß Ruppe: „Die Wahrscheinlichkeit, das hohe und sehr hohe Alter zu erreichen, hängt stark von den sozio-ökonomischen Verhältnissen ab.“ Andere Faktoren, die mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko assoziiert sind, sind eine negative subjektive Bewertung der eigenen Gesundheit, eine starke kognitive Beeinträchtigung, Depression, soziale Isolation, eingeschränkte Mobilität sowie Polypharmazie. Eine weitere wichtige Erkenntnis der Studie ist, dass der gesundheitliche Funktionsstatus nicht irreversibel ist, sondern dass es durchaus Potential für Verbesserungen gibt. So konnten auch Personen, die in der ersten Erhebungswelle als „pre-frail“ oder sogar „frail“ eingestuft wurden, in der zweiten Erhebungswelle nochmals eine Verbesserung ihres Gesundheitszustands erreichen.

Multimorbidität als zentrale Herausforderung

In beiden Erhebungswellen der Österreichischen Interdisziplinären Hochaltrigenstudie hat sich die Multimorbidität als zentrale Herausforderung herauskristallisiert. In der Altersgruppe über 80 Jahren gibt es kaum Personen ohne chronische Erkrankungen. „Die Harninkontinenz erweist sich als die zweithäufigste Krankheit im hohen Lebensalter und gilt nach der kognitiven Einschränkung als wesentlichster Grund für die Aufnahme in ein Pflegeheim“, berichtet Ruppe. Mehr als ein Drittel der Befragten waren von einer Harninkontinenz betroffen; zwei Drittel von ihnen hatten diesbezüglich noch keinerlei ärztliche Beratung in Anspruch genommen. Obwohl Harninkontinenz in vielen Fällen gut behandelbar oder sogar heilbar sei, scheitere die offene Ansprache dieses Problems immer noch an der Tabuisierung. Zu bedenken ist laut Ruppe auch, dass die Harninkontinenz in manchen Fällen auch durch Medikamente negativ beeinflusst werden kann, nicht zuletzt etwa durch Antidementiva.

„Da diese Patienten die Hauptkonsumenten in unserem Gesundheitssystem sind und natürlich auch in Zukunft sein werden, muss sich das Gesundheitssystem in Österreich entsprechend weiterentwickeln“, erklärt Roller-Wirnsberger die großen Herausforderungen in der Geriatrie. International, vor allem in Ländern wie England und Spanien, hat man bereits vor 20 Jahren sowohl mit einer longitudinalen als auch einer horizontalen Integration auf diese Entwicklungen reagiert. Die longitudinale Integration ist charakterisiert durch eine integrierte, abgestufte medizinische Versorgung, vom Erstkontakt beim Hausarzt bis zur spezialisierten Versorgung hochaltriger Patienten durch einen Geriater je nach den individuellen Bedürfnissen. Hier ist die notwendige Fachexpertise verbunden mit einer entsprechenden Ausbildung essentiell. Der Begriff der horizontalen Integration bezieht sich auf die Implementierung eines multiprofessionellen Managements, bei dem neben der ärztlichen Komponente, die pflegebezogene, rehabilitative und präventive Komponente eine adäquate Versorgung dieser Patientengruppe sicherstellen.

Versorgungssituation in Österreich

„In Österreich ist die Versorgung hochaltriger Menschen stark im Primärversorgungsbereich verhaftet“, weiß Roller-Wirnsberger. Das nachgeschaltete, stark spezialisierte Gesundheitssystem sieht die Versorgung von älteren Menschen in Akutgeriatrien vor. Diese nehmen ältere Menschen oft nicht akut auf, sondern poststationär in einer Spitalsversorgungseinheit, in der ein rehabilitativer Ansatz im Vordergrund steht. Ziel ist es, den Menschen die Möglichkeit zu geben, wieder in ihr gewohntes Umfeld zurückzukehren. Regelmäßige Screening-Programme außerhalb der Primärversorgung sowie die Integration des Geriaters in das Akutversorgungssetting, in die Rehabilitation und die poststationäre Betreuung sind laut der Expertin notwendige Schritte, um mit den internationalen Entwicklungen mithalten zu können.

„Wie auch aus der Österreichischen Interdisziplinären Hochaltrigenstudie hervorgeht, wird die monozentrische, hochspezialisierte Versorgung den umfassenden Bedürfnissen der hochaltrigen Patienten nicht gerecht“, hebt Roller-Wirnsberger hervor. Die Expertin beobachtet in der Praxis, was auch die qualitative Befragung der Hochaltrigen gezeigt hat: Die Krankheiten nehmen einen großen Stellenwert in Alltag der Betroffenen ein und Krankenhausaufenthalte sind keine Seltenheit. „Im akuten Spitalsbereich haben wir in der Regel eine sehr kurze Liegedauer,woraufhin die Patienten nach Hause geschickt werden, nach spätestens drei bis vier Wochen aber wieder da sind“, so Roller-Wirnsberger.

Die Ergebnisse der Hochaltrigenstudie zeigen auch, dass eine massive Pflegebedürftigkeit nicht sehr häufig vorliegt. Hochaltrige, die im Pflegeheim leben und auf den Rollator angewiesen sind, machen etwa zehn bis zwölf Prozent aus. Acht bis zehn Prozent der Personen leben in Übergangsformen (betreutes Wohnenetc.) und rund 80 bis 85 Prozent im eigenen Haushalt, wenn auch teilweise mit Unterstützung durch Familienmitglieder oder mobile Pflegedienste. „Altern ist ein enorm heterogener Prozess. Wir sind schon als jüngere Menschen unterschiedlich und im Alter verstärkt sich das tendentiell noch. Diese Unterschiedlichkeit muss auch bei entsprechend abgestimmten Unterstützungsangeboten berücksichtigt werden“, betont Ruppe.

Laut dem Experten ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ein Bewusstsein für das Altern zu schaffen und eine Art Alternskultur zu etablieren, in der auch Strukturen wie Barrierefreiheit etabliert werden. Daher sind auch die Individualisierung von Versorgungs- und Betreuungsstrukturen und der Einsatz von mobilen, multiprofessionellen Teams notwendig, um vorhandene Kompensations- und Adaptionsfähigkeiten zu stärken. Für die Zukunft ist es laut Roller-Wirnsberger auch wichtig, das Potential des Alters und den Erfahrungsschatz der älteren Bevölkerung zu erkennen und aktiv zu nutzen.


Details zur Studie

Untersucht werden die Gesundheits-, Lebens- und Betreuungssituation von Menschen über 80 Jahren in Form von persönlichen, Fragebogen-gestützten Interviews und geriatrischen Assessments. Bei den Teilnehmenden handelte es sich sowohl um selbstständig in Privathaushalten lebende Personen (inklusive Seniorenresidenzen und betreute Wohnformen) als auch in Pflegeheimen lebende Personen.
Von 2013 bis 2014 wurden die Pilotstudie und die erste Erhebungswelle der Österreichischen interdisziplinären Hochaltrigenstudie mit der Untersuchung von insgesamt 410 Personen im Alter von 80 bis 85 Jahren in Wien und der Steiermark durchgeführt. Von 2015 bis 2018 wurde die Stichprobe der ersten Erhebungswelle in Wien und der Steiermark im Panel weiterverfolgt und eine erste Querschnitterhebung in Niederösterreich mit 200 Personen durchgeführt. Die dritte Erhebungswelle wird von 2018 bis 2021 in Wien, Niederösterreich, Steiermark und Salzburg durchgeführt. Die Berichte stehen unter https://www.oepia.at/hochaltrigkeit/ zum Download zur Verfügung.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2019