Neurologische Nebenwirkungen von Medikamenten: Altersunabhängig

25.09.2019 | Medizin


Da eine Vielzahl von Medikamentengruppen neurologische Symptome oder Erkrankungen auslösen kann, ist die Medikamenten-Anamnese ein wichtiger Bestandteil bei der Abklärung dieser Symptome. Diese Medikamenten-induzierten Nebenwirkungen und Erkrankungen treten unabhängig vom Alter auf – und können auch bei Kindern und Jugendlichen vorkommen.

Laura Scherber

Durch Medikamente verursachte Symptome oder ausgelöste Erkrankungen können ganz unterschiedliche Relevanz haben und in der Folge verschiedene Funktionssysteme des zentralen oder peripheren Nervensystems beeinträchtigen. Wie Univ. Prof. Thomas Berger von der Universitätsklinik für Neurologie am AKH Wien erklärt, kann dies auf drei Arten geschehen. Erstens: indem ein Medikament direkt toxisch für das zentrale oder periphere Nervensystem inklusive Muskulatur ist; zweitens indem es durch sein Eingreifen in den Stoffwechsel eine sehr spezielle Funktionsstörung bewirkt oder drittens indem es tatsächlich das Risiko einer zusätzlichen neurologischen Erkrankung fördert. „Bestimmte Chemotherapeutika sind klassische Beispiele für Medikamente, die neurotoxisch auf einen Teil des peripheren Nervensystems wirken und in diesem Zusammenhang Neuropathien verursachen können“, weiß Berger. Aber auch die vielfach beworbene Einnahme von Präparaten mit einem Vitamin B-Komplex kann bei exzessiver Aufnahme zu Neuropathien führen. Andere Medikamente wie Neuroleptika können sehr spezielle Funktions- und Bewegungsstörungen hervorrufen, da sie in das dopaminerge System eingreifen: So kann Metoclopramid in seltenen Fällen zu akuten Dystonien führen. Die klassischen Schlunddystonien, die durch die erstmalige Einnahme von bestimmten Neuroleptika oder Antipsychotika im Kontext eines stark ausgeprägten Singultus auftreten, sind mit Anticholinergika gut behandelbar.

Das Risiko von bestimmten Medikamenten, eine neurologische Erkrankung zu verursachen, tritt laut Berger vor allem im Rahmen von immunsuppressiven und immunmodulierenden Therapien auf. Durch neue spezifischere Therapieoptionen haben sich diese neurologischen Erkrankungsrisken wie zum Beispiel eine gesteigerte Anfälligkeit für opportunistische Infektionen entwickelt; eine Problematik, die früher bei der Therapie der Multiplen Sklerose beispielsweise nicht vorgekommen ist.

Neben den klassischen Medikamenten mit den überwiegend bekannten neurologischen Nebenwirkungen gibt es in den letzten Jahren neue Therapieansätze. Dabei handelt es sich um Medikamente, die auf das Immunsystem einwirken und neurologische Nebenwirkungen haben.

Bei den bekannten neurologischen Nebenwirkungen von Medikamenten führt Assoz. Prof. Michael  Khalil von der Universitätsklinik für Neurologie in Graz unter anderem Kopfschmerzen, Neuropathien, das Guillain-Barré-Syndrom, das maligne neuroleptische Syndrom, das Serotonin-Syndrom oder Dystonien an. Medikamente, die die Schwelle für die Krampfbereitschaft herabsetzen, können außerdem die Wahrscheinlichkeit für einen epileptischen Anfall erhöhen. „Neben den bereits bekannten Nebenwirkungen hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass gerade neuere Medikamente und hier vor allem monoklonale Antikörper zu neurologischen Nebenwirkungen und Erkrankungen führen können“, weiß Khalil. Bei der Therapie der Multiplen Sklerose etwa kommt unter anderem der humanisierte monoklonale Antikörper Natalizumab zum Einsatz. Dabei kann es zu schweren Nebenwirkungen wie etwa zur progressiven multifokalen Leukenzephalopathie – ausgelöst durch das ubiquitär vorkommende John Cunningham-Virus – kommen. „Natalizumab hemmt den Übertritt von Leukozyten aus der Peripherie in das zentrale Nervensystem. Wahrscheinlich infolge der mangelnden Viruskontrolle kann es zu einer Entzündung des zentralen Nervensystems und so zu einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie kommen“, erklärt Khalil. Neben Natalizumab sind auch andere Präparate, die zur Behandlung der Multiplen Sklerose eingesetzt werden mit diesen Nebenwirkungen assoziiert, berichtet der Experte.  TNF-alpha-Blocker, die besonders in der Rheumatologie eingesetzt werden, können durch die Blockade mit monoklonalen Antikörpern immunologische Reaktionen bedingen, so Khalil. Unter der Therapie mit TNF-alpha-Blockern wurden dabei Fälle beschrieben, in denen demyelinisierende Erkrankungen des Zentralnervensystems wie Multiple Sklerose ausgelöst wurden. „Hier konnte jedoch die Kausalität noch nicht eindeutig geklärt werden“, so Khalil.

Immun-Checkpoint-Inhibitoren als Auslöser

Eine neue Medikamentengruppe, die in der Onkologie immer breiter zur Anwendung kommt und zu neurologischen Nebenwirkungen und Erkrankungen führen kann, sind Immun-Checkpoint-Inhibitoren. Diese – ausschließlich in Form von monoklonalen Antikörpern – regulieren die Stärke der Immunreaktion und ermöglichen eine effektivere Bekämpfung der entarteten Zellen durch das eigene Immunsystem. „Durch diese überschießende Immunreaktion beziehungsweise die fehlende Bremsung des Immunsystems können die unterschiedlichsten Erkrankungen mit ausgelöst werden wie zum Beispiel Colitis, Hepatitis, Vaskulitis oder Myopathien“, weiß Khalil. Neurologische Nebenwirkungen können ebenso von Immun-Checkpoint-Inhibitoren verursacht werden. Dazu gehören Neuropathien, aseptische Meningitis, Autoimmunenzephalitis und Hypophysitis. Besonders die Immun-Checkpoint-Inhibitoren und die damit verbundenen Nebenwirkungen erlangten zunehmende Bedeutung.

Die einfachsten therapeutischen Möglichkeiten ergeben sich bei den neurologisch funktionsspezifischen Störungen, bei denen das Absetzen des Medikaments indiziert ist. Von Bedeutung ist auch der zeitliche Zusammenhang, wenn sich durch die jahrelange Einnahme eines Medikaments eine Symptomatik entwickelt wie beispielsweise beim Analgetika-induzierten Kopfschmerz. „Da gibt es keine andere Möglichkeit, als den Entzug von diesen Medikamenten und die gleichzeitige Suche nach einer Alternative, um einen adäquaten Ersatz ohne diese Nebenwirkung zu finden“, erklärt Berger.

Chemotherapie-induzierte Neuropathien

Die durch Chemotherapien induzierten Neuropathien sind hingegen transient und implizieren eine Risiko-Nutzen-Abwägung. Übersteigt der vermutete Nutzen der Chemotherapie das Risiko für neuropathische Beschwerden, kann man den Patienten dahingehend entängstigen, dass die Symptome nach Ende der Therapie üblicherweise von selbst verschwinden. „Wird durch ein Medikament eine opportunistische Infektion ausgelöst, muss man das Medikament absetzen und falls möglich die opportunistische Infektion adäquat behandeln“, so Berger. Für die durch Immun-Checkpoint-Inhibitoren hervorgerufenen Nebenwirkungen und Erkrankungen gibt es noch keine standardisierten Therapieschemata. Laut Khalil kommen dann unter anderem intravenöse Immunglobuline, Plasmapharese, Immunsuppressiva oder hochdosiertes Cortison i.v. zum Einsatz.

„Wichtig ist, grundsätzlich daran zu denken, dass es sich nicht immer um eine eigenständige Erkrankung handeln muss, sondern bestimmte Symptome auch durch Medikamente ausgelöst werden können“, betont Berger. Da eine Vielzahl von Medikamentengruppen neurologische Nebenwirkungen auslösen kann, ist die Medikamentenanamnese ein wichtiger Bestandteil bei der Abklärung von neurologischen Symptomen. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass diese Medikamenten-induzierten Nebenwirkungen und Erkrankungen unabhängig vom Alter auftreten und so beispielsweise auch Dystonien bei Kindern und Jugendlichen auftreten könnten. Ist bei einem Patienten, der bereits an einer neurologischen Erkrankung leidet, eine neue Medikation indiziert, sind die gegenseitigen Wechselwirkungen im Vorfeld genau zu bedenken. „Patienten mit Morbus Parkinson können im Zuge des L-Dopa-Langzeitsyndroms zu psychotischen Episoden neigen, wobei man dann nicht ausgerechnet ein antipsychotisches Medikament nehmen wird, das besonders mit extrapyramidalen Nebenwirkungen assoziiert ist“, hebt Berger hervor.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2019