Round Table Neu­ro­der­mi­tis: Diät als Risi­ko­fak­tor für Allergien

10.03.2019 | Medizin


Bei einem ato­pi­schen Eltern­teil beträgt das Risiko für die Ent­ste­hung einer Neu­ro­der­mi­tis 30 Pro­zent, bei zwei ato­pi­schen Eltern­tei­len oder einem Geschwis­ter­kind 60 Pro­zent. Wel­che Rolle dabei Nah­rungs­mit­tel­all­er­gien spie­len und wor­auf es bei der The­ra­pie der Neu­ro­der­mi­tis ankommt, dar­über dis­ku­tier­ten Exper­ten bei einem von der ÖÄZ orga­ni­sier­ten Round Table.

Agnes M. Mühlgassner

Bei wel­chen Sym­pto­men sollte man an eine Neu­ro­der­mi­tis den­ken?

Johan­nes Neu­ho­fer:
Es gibt ein paar typi­sche Zei­chen, die schon als ein­fa­che Blick­dia­gnose Hin­weise geben: tro­ckene unscharf begrenzte weiß­li­che Fle­cken im Wan­gen­be­reich oder an den Ober­ar­men und seit­li­che Lich­tung der Augen­brauen. Die Haut­pro­bleme sind sehr viel­schich­tig und auch alters­ab­hän­gig. Der Juck­reiz ist der Impuls­ge­ber des cir­cu­lus vitio­sus bei Neurodermitis.

Wel­chen Stel­len­wert hat die Dia­gnose ‚Neu­ro­der­mi­tis‘ bei den Zuwei­sun­gen an das All­er­gie­zen­trum, an dem Sie tätig sind?

Ste­fan Wöhrl:
Es gibt eine völ­lig über­pro­por­tio­nal hohe Zahl an Selbst-Dia­gno­sen bezüg­lich Nah­rungs­mit­tel­all­er­gie. Mit Aus­nahme von Neu­ro­der­mi­tis-Pati­en­ten gibt es aber kaum Men­schen, die tat­säch­lich eine Nah­rungs­mit­tel­all­er­gie haben. Sol­che All­er­gien kom­men spe­zi­ell bei unter Sechs­jäh­ri­gen vor. 25 Pro­zent die­ser Kin­der haben die drei typi­schen Nah­rungs­mit­tel­all­er­gien gegen Milch, Ei und Wei­zen und je nach Expo­si­tion auch gegen Soja. In mari­ti­men Län­dern sind es auch Fisch und Mee­res­früchte. Das zweite All­er­gen, das eine große Rolle spielt, ist die Erd­nuss. Und bei klei­nen Kin­dern zei­gen sich Lebens­mit­tel­all­er­gien typi­scher­weise an der Haut.

Woran lei­den die mit der Dia­gnose ‚Neu­ro­der­mi­tis‘ zuge­wie­se­nen Pati­en­ten tat­säch­lich?

Wöhrl: Ein Gut­teil der erwach­se­nen Pati­en­ten mit Haut­sym­pto­men hat eine chro­ni­sche Urti­ka­ria. Die All­ge­mein­me­di­zi­ner soll­ten ihre Pati­en­ten ermu­ti­gen, die Haut­ver­än­de­run­gen zu foto­gra­fie­ren. In den eng­li­schen Leit­li­nien zum Bei­spiel ist das Han­dy­foto zur Dia­gnose einer Neu­ro­der­mi­tis mitt­ler­weile inklu­diert. Ent­schei­dend für die Dif­fe­ren­ti­al­dia­gnose: Die Urti­ka­ria wan­dert und ist flüchtig.

Wel­che The­ra­pien kom­men bei Neu­ro­der­mi­tis zum Ein­satz?

Mat­thias Schmuth: Im Zuge der Basis­the­ra­pie erfolgt eine regel­mä­ßige Rück­fet­tung zur Stär­kung der Haut­bar­riere. In aktu­el­len Stu­dien konnte nach­ge­wie­sen wer­den, dass man mit einer Basis­the­ra­pie bei Neu­ge­bo­re­nen mit einer posi­ti­ven Fami­li­en­ana­mnese das Auf­tre­ten einer Neu­ro­der­mi­tis inner­halb der ers­ten zwei Lebens­jahre um bis zu 50 Pro­zent redu­zie­ren kann.

Bea­trix Volc-Plat­zer: Bei der Ent­zün­dung kom­men lokale Kor­ti­kos­te­ro­ide zum Ein­satz, weil Kor­ti­son am ver­läss­lichs­ten und am schnells­ten wirkt. Alter­na­tiv oder im Anschluss an eine erfolg­rei­che The­ra­pie mit loka­len Ste­ro­iden ste­hen für Kin­der, aber auch für Erwach­sene mit schwe­ren Ekze­men lokale Kal­zi­neu­rin­in­hi­bi­to­ren zur Ver­fü­gung. Fin­det man mit der Lokal­the­ra­pie allein kein Aus­lan­gen, besteht pri­mär für Erwach­sene die Mög­lich­keit der UV-The­ra­pie oder man muss zu Sys­tem­the­ra­pien wie Kor­ti­kos­te­ro­ide, Cyclos­po­rin A, Aza­thio­prin oder neu­er­dings auch Bio­lo­gika greifen.

Kle­mens Rap­pers­ber­ger: Aktu­ell ver­fü­gen wir bei schwe­ren Ver­laufs­for­men auch über ein Bio­lo­gi­kum, mit dem wir bis­her gute Erfah­run­gen gemacht haben.

Neu­ho­fer: Auch ich ver­schreibe in der Ordi­na­tion die­ses Bio­lo­gi­kum. Ent­schei­dend ist ja, dass der Juck­reiz ver­schwin­det. So kann die Lebens­qua­li­tät der Betrof­fe­nen deut­lich ver­bes­sert wer­den.

Bei Erwach­se­nen mit Neu­ro­der­mi­tis sind vor allem die krank­heits­be­ding­ten Aus­fälle ein gro­ßes Thema.

Maria M. Hof­mar­cher: Grund­sätz­lich sind die krank­heits­be­ding­ten Aus­fälle bei allen chro­ni­schen Krank­hei­ten von Bedeu­tung. Zum einen geht es hier um direkte Kos­ten, die dadurch ent­ste­hen, wenn ein Betrof­fe­ner im Gesund­heits­sys­tem Leis­tun­gen bean­sprucht. Ande­rer­seits ent­ste­hen indi­rekte Kos­ten, die auch pri­vate Kos­ten sein kön­nen, weil die Betrof­fe­nen alle Maß­nah­men ergrei­fen, um den Juck­reiz los­zu­wer­den und nicht alles von den Kas­sen erstat­tet wird. Volks­wirt­schaft­lich betrach­tet kön­nen krank­heits­be­dingte Aus­fälle schon enorme Aus­wir­kun­gen haben, spe­zi­ell wenn von einer Erkran­kung Per­so­nen aus höhe­ren Bil­dungs­schich­ten und Ein­kom­mens­grup­pen betrof­fen sind. Vom Krank­heits­leid und den Ein­bu­ßen bei der Lebens­qua­li­tät sind alle betrof­fen. Ein guter Zugang zu öffent­li­cher Ver­sor­gung ist beson­ders für benach­tei­ligte Men­schen sicherzustellen.

Schmuth: Weil es sich bei Neu­ro­der­mi­tis um eine chro­ni­sche Erkran­kung han­delt, ist es ganz wich­tig, dass die Betrof­fe­nen eine Bezie­hung zum behan­deln­den Arzt auf­bauen und auch eine gewisse Kon­ti­nui­tät vor­han­den ist.

Volc-Plat­zer: Bei vie­len chro­ni­schen Erkran­kun­gen wie auch bei der Neu­ro­der­mi­tis ist es das gene­relle Pro­blem in der Medi­zin, dass es in der Inter­ak­tion zwi­schen Pati­en­ten und Ärz­ten oft­mals keine Kon­ti­nui­tät gibt. Die Situa­tion wird durch unser frag­men­tier­tes Gesund­heits­sys­tem noch ver­schärft. Dazu kommt, dass die Zusam­men­ar­beit inner­halb der Ärz­te­schaft, mit und auch zwi­schen den ande­ren Berufs­grup­pen oft ein­fach eine Zusatz­leis­tung ist, die jeder erbringt, weil man will, dass die Pati­en­ten gut ver­sorgt sind. Hier gibt es struk­tu­rell schon noch einige Hür­den zu überwinden.

Rap­pers­ber­ger: Also bei der Bera­tung von Eltern mit einem Neu­ro­der­mi­tis-Kind brau­che ich per­sön­lich min­des­tens 30 bis 45 Minu­ten, weil das sehr umfang­reich ist. Und meis­tens haben die Eltern ja auch viele Fragen.

Volc-Plat­zer: Lei­der wird bei der The­ra­pie oft außer Acht gelas­sen, dass die Pati­en­ten auch einen bestimm­ten Zeit­plan ver­fol­gen müs­sen. Man sollte die Lokal­the­ra­pie mit Wirk­stof­fen wie Ste­ro­iden lang­sam und stu­fen­weise redu­zie­ren und im Anschluss an die täg­li­che Appli­ka­tion über bei­spiels­weise eine Woche nur jeden zwei­ten Tag und über einen fest­ge­leg­ten Zeit­raum durch­füh­ren. Nach Abhei­lung der akti­ven Ekzem­lä­sio­nen sollte man bei einer mäßi­gen bis schwe­ren Neu­ro­der­mi­tis zur soge­nann­ten pro­ak­ti­ven The­ra­pie über­ge­hen. Dabei wird auf die Haut­stel­len, an denen das Ekzem stark aus­ge­prägt war, zwei Mal in der Woche Kor­ti­son oder ein Kal­zi­neu­rin­in­hi­bi­tor auf­ge­tra­gen. Diese the­ra­peu­ti­schen Prin­zi­pien las­sen sich am bes­ten im Rah­men einer struk­tu­rier­ten Neu­ro­der­mi­tis-Schu­lung durch dafür aus­ge­bil­dete Haut­fach­ärzte oder Kin­der­fach­ärzte gemein­sam mit Psy­cho­lo­gen und Ernäh­rungs­be­ra­tern ver­mit­teln.

Wel­che Rolle spie­len Lebens­mit­tel­all­er­gien bei Neu­ro­der­mi­tis?

Wöhrl: Bei Kin­dern, die eine Neu­ro­der­mi­tis und eine Lebens­mit­tel­all­er­gie haben, ist Kuh­milch das Num­mer 1‑Allergen. Bei Kin­dern domi­niert die Milch­all­er­gie, die meis­tens ver­schwin­det und bei 15 Pro­zent stellt sich im Laufe der Puber­tät all­mäh­lich eine Lak­tose-Into­le­ranz ein. Trotz­dem wird vie­len Kin­dern Lak­tose-freie Kost zuge­mu­tet, was nicht ziel­füh­rend ist, weil in der Lak­tose-freien Milch genauso viel Milch­ei­weiß wie in nor­ma­ler Milch ent­hal­ten ist. Viele Men­schen set­zen sich mitt­ler­weile selbst auf eine Diät, ohne dass eine ent­spre­chende Dia­gnose vor­liegt, bei­spiels­weise essen sie Glu­ten-frei. Ich habe hier mitt­ler­weile einen prag­ma­ti­schen Zugang: Erwach­sene sol­len essen, was sie wol­len. Kin­der müs­sen aber vor unnö­ti­gen Diä­ten geschützt wer­den, weil sie im Wachs­tum sind und es rasch zur Man­gel­er­näh­rung eines Kin­des kom­men kann.

Wie groß ist das Risiko, wenn ein Eltern­teil vor­be­las­tet ist?

Wöhrl: Grund­sätz­lich liegt das Risiko für Neu­ro­der­mi­tis bei einem ato­pi­schen Eltern­teil bei unge­fähr 30 Pro­zent, bei zwei ato­pi­schen Eltern­tei­len oder einem ato­pi­schen Geschwis­ter­kind bei 60 Pro­zent. Was aber noch ganz wich­tig ist: Auch Diät erhöht die Wahr­schein­lich­keit, über­haupt eine All­er­gie zu ent­wi­ckeln, wenn sie noch nicht da ist. Also mein Fazit: keine Diät hal­ten, son­dern Misch­kost. Der Mensch ist ein Alles­fres­ser und das Immun­sys­tem ist dar­auf trai­niert, alles zu verdauen.

Neu­ho­fer: Wenn man zu einer Ato­pie neigt und dann zum Bei­spiel Fri­seur wird, kann das ein Trig­ger dafür sein, dass die Neu­ro­der­mi­tis ausbricht.

Wöhrl: Auch die Meno­pause dürfte ein sol­cher Fak­tor sein. Wenn die Talg­pro­duk­tion durch die Sexu­al­hor­mone abnimmt, kommt es bei vie­len Frauen ab dem 45., 50. Lebens­jahr wie­der zur tro­cke­nen Haut, die sie schon vor der Puber­tät gehabt haben.

Rap­pers­ber­ger:
Ich sage den Eltern eines betrof­fe­nen Kin­des immer, dass ich das Kind nicht hei­len kann, aber dass man Neu­ro­der­mi­tis gut behan­deln kann.

Was sollte man jeden­falls beim Zusam­men­hang zwi­schen Nah­rungs­mit­tel­all­er­gien und Neu­ro­der­mi­tis beach­ten?


Wöhrl: Die zen­trale Bot­schaft lau­tet: keine Diät ohne ordent­li­che Dia­gnose. Aus einer Unter­su­chung in Frank­reich weiß man, dass Neu­ro­der­mi­tis-Betrof­fene für Pfle­ge­pro­dukte rund 2.500 Euro im Jahr aus­ge­ben, wobei aber sol­che Pfle­ge­pro­dukte in Frank­reich ganz grund­sätz­lich bes­ser erstat­tet wer­den. Mitt­ler­weile gibt es viele Stu­dien, die sich mit den Risi­ko­fak­to­ren für die Ent­wick­lung einer Neu­ro­der­mi­tis beschäf­ti­gen. Es gibt ganz wenige schüt­zende Fak­to­ren – einer ist, auf einem Bau­ern­hof auf­zu­wa­chen, wo es Vieh gibt. Der Hund im Haus­halt ist viel­leicht pro­tek­ti­ver Fak­tor, aber nur, wenn er vor der Geburt des Kin­des im Haus­halt ist. Die Katze ist in kei­nem Fall pro­tek­tiv. Aber eines ist klar: Wenn eine All­er­gie da ist, muss das Haus­tier weg. Die Haus­tiere spie­len als All­er­gene eine viel wich­ti­gere Rolle als Nahrungsmittel.



Die Teil­neh­mer:

MMag. Maria M. Hof­mar­cher, Ökonomin/​Wien
MR Dr. Johan­nes Neu­ho­fer, Bun­des­fach­grup­pen­ob­mann Der­ma­to­lo­gie in der ÖÄK
Univ. Prof. Dr. Mat­thias Schmuth, Uni­ver­si­täts­kli­nik für Der­ma­to­lo­gie, Vene­ro­lo­gie und All­er­go­lo­gie der Med­Uni Inns­bruck
Univ. Prof. Dr. Kle­mens Rap­pers­ber­ger, Kran­ken­an­stalt Rudolfs­tif­tung Wien/​Abteilung für Der­ma­to­lo­gie und Vene­ro­lo­gie
Univ. Prof. Dr. Bea­trix Volc-Plat­zer, Sozi­al­me­di­zi­ni­sches Zen­trum Ost – Donau­spi­tal Wien/​Abteilung für Der­ma­to­lo­gie
Priv. Doz. Mag. Dr. Ste­fan Wöhrl, Flo­rids­dor­fer Allergiezentrum/​Wien

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 5 /​10.03.2019