Lipödem: Mischbilder sind häufig

25.09.2019 | Medizin


Das Lipödem wird immer wieder als Adipositas oder Lymphödem diagnostiziert. Tatsächlich kommen jedoch häufig Mischbilder mit diesen Erkrankungen vor. Im Gegensatz zum Lymphödem sind Hände und Finger sowie Füße und Zehen beim Lipödem nicht betroffen. Ein wichtiges diagnostisches Kriterium ist das paradoxe Schmerzempfinden.

Irene Mlekusch

Die Daten in Bezug auf Prävalenz und Inzidenz des Lipödems sind nicht einheitlich. Derzeit geht man von einer Prävalenz von acht Prozent aus. In lymphologischen Fachkliniken finden sich Angaben über die Prävalenz bis zu 18 Prozent. Univ. Prof. Erich Brenner vom Department für Anatomie, Histologie und Embryologie an der Medizinischen Universität in Innsbruck sieht die Angaben zur Prävalenz und Inzidenz problematisch, da es einerseits eine Vermischung des Lipödems mit Adipositas gibt und andererseits die Dunkelziffer hoch ist. „ORPHANET gibt die Prävalenz mit 1-9/100.000 an”, bemerkt Brenner und fügt hinzu, dass bis vor wenigen Jahren die Zahl an Diagnosen auch wirklich in diesem Bereich war. Brenner weiter: „Erst in den letzten Jahren hat es einen scheinbar starken Anstieg gegeben.” Erstmals in einer Publikation beschrieben wurde das Lipödem als Lipohyperplasia dolorosa 1940 durch die Mediziner Allen und Hines, weshalb die Erkrankung auch als Allen-Hines-Syndrom bezeichnet wird.

Eigenständige Erkrankung

Bei Patienten, die an einem Lipödem leiden, nimmt man oft an, dass sie an Übergewicht leiden und aufgrund ihres Lebensstils selbst für ihre Erkrankung verantwortlich sind. Viele Betroffene haben bereits zahlreiche Diäten und Bewegungsmaßnahmen hinter sich, ohne wesentliche Erfolge zu verzeichnen. Tatsächlich sind Mischbilder mit anderen Erkrankungen wie Adipositas oder einem Lymphödem häufig. „Das Lipödem ist kein rein kosmetisches Problem, sondern eine eigenständige Erkrankung“, sagt Univ. Prof. Richard Crevenna von der Universitätsklinik für Physikalische Medizin, Rehabilitation und Arbeitsmedizin am AKH Wien. In den meisten Fällen verläuft die Krankheit chronisch progredient, wenn sie nicht behandelt wird. Der Verlauf der Erkrankung wird in drei Stadien entsprechend der morphologischen Veränderungen eingeteilt. Im ersten Stadium ist die Haut glatt mit gleichmäßig verdickter, aber homogen wirkender Subcutis. Das zweite Stadium ist durch eine unebene wellenartige Hautoberfläche und knotenartige Strukturen im Bereich der verdickten Subcutis gekennzeichnet. Im Stadium drei findet sich schließlich eine ausgeprägte Umfangsvermehrung mit überhängenden Fettanteilen bei verdickter und indurierter Subcutis mit großen Knoten. Eine weitere Progression mit sekundärem Lymphödem – ein sogenanntes Lipolymphödem – ist in jedem Stadium möglich.

Definitionsgemäß ist das Lipödem eine bilateral symmetrische Fettverteilungsstörung mit deutlicher Disproportion zwischen Stamm und Extremitäten. Brenner sieht in der Symmetrie eine wesentliche Differentialdiagnose zum sekundären Lymphödem, welches überwiegend asymmetrisch auftritt. Zusätzlich zur Fettverteilungsstörung kann es zur verstärkten Hämatom-Neigung bei Bagatelltraumen kommen, die durch eine erhöhte Kapillarfragilität verursacht wird. Die Neigung zur Bildung von Ödemen nimmt im Tagesverlauf zu; das Hochlagern der Beine bewirkt allerdings keine Besserung der Beschwerden. „Die Diagnose ist derzeit nur klinisch möglich, da bisher keine technische Untersuchung für das Lipödem zur Verfügung steht“, sagt Brenner. Eines der wichtigsten Unterscheidungskriterien ist der Kalibersprung im Bereich der Gelenkregion, der sich als Kragen- oder Muffbildung darstellt. „Hände und Finger sowie Füße und Zehen sind beim Lipödem im Gegensatz zum Lymphödem nicht betroffen“, erklärt Priv. Doz. Barbara Binder von der Universitätsklinik für Dermatologie und Venerologie der Medizinischen Universität Graz. Das Lipödem tritt überwiegend an den unteren Extremitäten oder an den Armen und Beinen auf; ein isoliertes Lipödem der Arme hingegen kommt extrem selten vor.

Im fortgeschrittenen Stadium kann es durch Scheuereffekte zur chronisch irritativen Dermatitis, Mazerationen und Infektionen kommen. Störungen des Gangbildes mit Achsenfehlstellungen ergeben sich durch die massive Gewebszunahme an der Oberschenkelinnenseite und führen in weiterer Folge zu orthopädischen Komplikationen. Außerdem leiden die Patienten an einem Spannungsgefühl mit Berührungs- und Druckschmerz. „Das paradoxe Schmerzempfinden ist ein wichtiges diagnostisches Kriterium. Die Betroffenen spüren die Schmerzen außen am Oberschenkel stärker als innen und oft schmerzt sogar das Tragen der Kleidung“, weiß Brenner. Die Patienten beschreiben die Schmerzen meist als dumpf und drückend. Binder verweist auf das negative Stemmer-Zeichen beim Lipödem, welches beim Lymphödem positiv ist.

Familiäre Häufungen

Die Ätiologie der Erkrankung ist unbekannt. Da familiäre Häufungen bis zu 60 Prozent nachgewiesen wurden, ist für Crevenna die Erhebung der Familienanamnese unerlässlich. „Es wird eine autosomal dominante Vererbung mit inkompletter Penetranz diskutiert“, ergänzt Binder. Beim Lipödem handelt es sich prinzipiell um eine Erkrankung von Frauen mit Beginn in der Pubertät, Schwangerschaft oder Menopause. Hormonelle Veränderungen werden deshalb als mögliche Ursache diskutiert; Brenner betont aber, dass die Hypothese der hormonellen Beeinflussung des Lipödems bisher nicht bewiesen ist. „Menarche und Menopause sind hormonell gegenläufig“, gibt Brenner zu bedenken, „außerdem erkranken sehr selten auch Männer.“ Leiden Männer an einem Lipödem, so sind eher die oberen Extremitäten betroffen.

Bisher steht keine kausale Therapie für die Behandlung des Lipödems zur Verfügung. Eine möglichst frühzeitige Diagnose und Therapie entscheiden daher über die weitere Prognose. „Die Kombination von konservativen und operativen Therapiemaßnahmen ermöglicht eine ausgeprägte Befund- und Beschwerdebesserung“, bestätigt Crevenna. Ziel der konservativen Therapie ist es, einerseits die vorhandenen Symptome zu lindern und andererseits dermatologische, lymphatische und orthopädische Komplikationen zu verhindern. Die symptomatischen Maßnahmen sollten stadiengerecht und individuell erfolgen. Crevenna empfiehlt primär immer einen Therapieversuch mit konservativen Maßnahmen. Die kombinierte/komplexe physikalische Entstauungstherapie (KPE) wird beim Lipödem zur Ödem- und Schmerzreduktion eingesetzt. Zur KPE gehören die manuelle Lymphdrainage, eine Kompressionstherapie, begleitende Bewegungstherapie und Hautpflege. Wichtig ist die konsequente Anwendung der KPE, bei der auf eine initiale Entstauungsphase eine Erhaltungsphase folgt. Die Kompressionstherapie und das Tragen von Kompressionsstrümpfen oder Kurzzug-Bandagen haben keinen direkten Einfluss auf das Fettgewebe, sondern helfen dabei, zusätzliche Ödeme zu verhindern und den Lymphfluss zu stimulieren. „Kompressionsstrümpfe reduzieren Lipödeme oder halten sie konstant“, fasst Crevenna zusammen und merkt an, dass im Stadium 1 oftmals noch nahtlose, rundgestrickte Kompressionsstrümpfe der Kompressionsklasse 2 oder 3 eingesetzt werden können. Meistens wird aber auch im Stadium 1 zu einer flachgestrickten Kompressionsversorgung geraten, wobei die Strümpfe möglichst täglich oder mindestens drei Tage pro Woche getragen werden sollten. Ab dem Stadium 2 kommen ausschließlich flachgestrickte Kompressionsstrümpfe, die eine optimale Druckstabilität bieten, zum Einsatz. „Im Stadium 3 wird wie beim Lymphödem die KPE angewandt“, erklärt Crevenna. Man beginnt mit einer manuellen Lymphdrainage und anschließendem Kompressionsverband, in der Erhaltungsphase folgt das Tragen von Kompressionsstrümpfen. Die Entstauungsphase kann anfänglich schmerzhaft sein; unterstützendkann auch die apparative intermittierende Kompression eingesetzt werden.

Bei der Überlagerung von Adipositas und Lipödem spielen auch körperliche Aktivität und Ernährungsumstellung eine bedeutende therapeutische Rolle, da Übergewicht und Adipositas zur Verstärkung der Ödem-Neigung führen. „Körperliche Aktivität und Ernährungsumstellung können zwar zur Reduktion des Übergewichts beitragen. Die Lipom-bedingte disproportionale Fettgewebsvermehrung wird damit aber nicht behoben“, macht Crevenna deutlich. Binder verweist darauf, dass strenge Diäten nur einen geringen Erfolg haben, da die Disproportionen im Verhältnis gleich bleiben. „Sport, zu intensiv und gezielt auf die Extremitäten ausgerichtet, kann zu einer Hypertrophie der Muskulatur führen, was das klinische Bild des Lipödems noch verstärken kann“, so Binder. Er weist auf den steigenden Leidensdruck der Patienten bei zunehmendem Krankheitsbild hin. Einige Patienten benötigen daher begleitende Psychotherapie, um mit ihrer Krankheit und deren Folgen zurecht zu kommen.

Bei Nichtansprechen: Liposuktion

Kommt es trotz konservativer Therapie zur Progredienz oder spricht die Therapie nicht an, bleibt die Liposuktion in örtlicher Betäubung mittels Tumeszenz-Lokalanästhesie mit stumpfen Mikrosonden als Standardverfahren. Je nach Befund können mehrere Operationen notwendig sein, um die natürliche Körperform wiederherzustellen und Ödeme und Schmerzempfindlichkeit zu reduzieren. „Wenn Symptome wie Schmerzen, Schweregefühl und Schwellung im Vordergrund stehen und die Lebensqualität deutlich einschränken, ist eine Liposuktion anzuraten“, sagt Binder. Deutliche Disproportionen stellten außerdem eine Indikation zur Operation dar. Die Liposuktion dient nicht der Gewichtsreduktion, weshalb die Indikation bei einer begleitenden morbiden Adipositas äußerst kritisch gestellt und gegebenenfalls andere therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden sollten.



Morbus Dercum

Eine weitere seltene Erkrankung, die mit generalisiertem Übergewicht oder Adipositas und symmetrisch schmerzhaftem Fettgewebe einhergeht, ist der Morbus Dercum, auch bekannt als Adiposis dolorosa oder Lipomatosis dolorosa. Das Leiden tritt normalerweise im Alter zwischen 35 und 50 Jahren auf und betrifft Frauen fünf- bis 30-mal häufiger als Männer. Die Ätiologie ist bisher unklar und auch zur Prävalenz gibt es keine exakten Angaben. Die Diagnose wird klinisch gestellt, wobei zuerst sämtliche Differentialdiagnosen ausgeschlossen werden müssen. Zusätzlich zu den bereits genannten Symptomen weisen viele Betroffene auch Müdigkeit oder Erschöpfung auf sowie eine erhöhte Neigung zu Hämatomen, Schlafstörungen, Gedächtnisstörungen, Depressionen, emotionale Instabilität oder Ängstlichkeit. Bisher gibt es keine einheitliche Behandlungsempfehlung. Im Gegensatz zum Lipödem finden sich bei Patienten mit der nodulären Form des Morbus Dercum vermehrt schmerzhafte Lipome.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2019