Kom­men­tar: Die Pan­de­mie der Adipositas

10.11.2019 | Medizin


Mit den Aus­wir­kun­gen der Adi­po­si­tas-Pan­de­mie befasst sich die OECD in ihrer aktu­el­len Stu­die „Tack­ling obe­sity would boost eco­no­mic and social well­be­ing“.

Kurt Wid­halm*

Die durch Über­ge­wicht beding­ten Erkran­kun­gen wer­den in den nächs­ten 30 Jah­ren 90 Mil­lio­nen Todes­fälle ver­ur­sa­chen und die Lebens­er­war­tung um drei Jahre ver­rin­gern. Die Kos­ten für Über­ge­wicht ver­ur­sa­chen bereits 3,3 Pro­zent des BIP in den OECD-Län­dern und kos­ten jeden ein­zel­nen Bür­ger 360 US-Dol­lar pro Jahr.

Die soeben erschie­nene Stu­die der OECD muss die Gesund­heits­po­li­ti­ker, Gesund­heits­fonds, Sozi­al­ver­si­che­run­gen etc. end­lich „wach­rüt­teln“. Der 256 Sei­ten umfas­sende Bericht gibt einen dra­ma­ti­schen Ein­blick in die der­zei­tige Situa­tion, die durch die „Pan­de­mie der Adi­po­si­tas“ gekenn­zeich­net ist. Wir sind mit fol­gen­den Fak­ten – jetzt durch wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chun­gen hart belegt – konfrontiert:

  1. Über­ge­wicht betrifft in 34 von 36 OECD-Staa­ten rund die Hälfte der Bevöl­ke­rung; etwa eine von vier Per­so­nen ist adi­pös (fett­lei­big).
  2. Kin­der bezah­len einen hohen Preis dafür, wenn sie über­ge­wich­tig sind: Sie haben schlech­tere Schul­erfolge, feh­len öfter in der Schule. Als Erwach­sene haben sie einen schlech­te­ren Zugang zu höhe­rer Aus­bil­dung. Sie zei­gen weni­ger „Life-Satis­fac­tion“ und wer­den drei Mal häu­fi­ger ausgespottet.
  3. Adi­pöse Erwach­sene haben ein deut­lich höhe­res Risiko für chro­ni­sche Erkran­kun­gen wie Dia­be­tes mel­li­tus und eine ver­kürzte Lebens­er­war­tung. Indi­vi­duen mit min­des­tens einer Fol­ge­er­kran­kung haben eine um acht Pro­zent gerin­gere Chance, im fol­gen­den Jahr eine beruf­li­che Anstel­lung zu erhalten.
  4. Die OECD-Staa­ten geben 8,4 Pro­zent ihres Gesamt­bud­gets für die Behand­lung von Adi­po­si­tas-asso­zi­ier­ten Fol­ge­er­kran­kun­gen aus. Dies ent­spricht 311 Mil­li­ar­den US-Dol­lar oder 209 US-Dol­lar pro Kopf und Jahr. Über­ge­wicht ist in 70 Pro­zent ver­ant­wort­lich für die Kos­ten von Dia­be­tes mel­li­tus, in 23 Pro­zent für kar­dio­vas­ku­läre Erkran­kun­gen und in neun Pro­zent für Karzinome.
  5. Prä­ven­tion von Über­ge­wicht bei Kin­dern ist von zen­tra­ler Be-
    deu­tung. Fol­gende Pro­gramm­ty­pen wären wichtig: 
    • Erhö­hung der phy­si­schen Akti­vi­tät auf 30 Minu­ten pro Tag
    • Schul-Pro­gramme: Inten­sive phy­si­sche Akti­vi­tät und Ernäh­rungs­er­zie­hung; Reduk­tion des BMI um 0,3 kg/​m2
    • Restrik­tio­nen der Wer­bung: Ver­min­de­rung der Energiezufuhr
    • Information/​Erziehung: Bei Lebens­mit­tel­kenn­zeich­nung grei­fen 29 Pro­zent der Men­schen zu gesün­de­ren Lebensmitteln.
    • Öffent­li­cher Ver­kehr: 30 Minu­ten mehr an phy­si­scher Aktivität
    • Regu­lie­run­gen: Stopp von Trans­fet­ten, Re-Ror­mu­lie­rung von Lebensmittel
  6. Imple­men­tie­rung von effek­ti­ven Präventions-Interventionen

Laut OECD besteht „urgent need“. Hier sind alle in der Poli­tik Täti­gen auf­ge­for­dert, unver­züg­lich zu han­deln. Es wird gro­ßer Anstren­gun­gen bedür­fen, Kom­pe­tenz-über­grei­fend (Bildungs‑, Gesundheits‑, Wis­sen­schafts-Minis­te­rium, Sozi­al­ver­si­che­rung etc.) nach­weis­bar wirk­same Maß­nah­men in die Wege zu lei­ten und zu imple­men­tie­ren. Es wird nicht genü­gen, „Initia­ti­ven“ wie zum Bei­spiel das Pro­jekt „Kin­der essen gesund“ des Fonds Gesun­des Öster­reich aus Steu­er­gel­dern zu finan­zie­ren – noch dazu, wo diese Initia­tive nicht eva­lu­iert wird.

*) Univ. Prof. Dr. Kurt Wid­halm, Öster­rei­chi­sches Aka­de­mi­sches Insti­tut für Ernäh­rungs­me­di­zin (ÖAIE); E‑Mail: kwidhalm@gmx.at

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 21 /​10.11.2019