Depres­sion beim Mann : Epi­de­mio­lo­gi­sches Paradoxon

10.10.2019 | Medizin


Die Aggres­sion stellt das zen­trale Ele­ment der depres­si­ven Sym­pto­ma­tik beim Mann dar – und wird daher häu­fig nicht dia­gnos­ti­ziert. Da die Sui­zid­ra­ten bei Män­nern deut­lich höher sind, obwohl die Depres­si­ons­rate gerin­ger ist, spricht man von einem epi­de­mio­lo­gi­schen Para­do­xon.

Laura Scher­ber

In der Lite­ra­tur gibt es kaum etwas Kon­stan­te­res, als die geschlechts­spe­zi­fi­schen oder Gen­der-spe­zi­fi­schen epi­de­mio­lo­gi­schen Unter­schiede zwi­schen Mann und Frau bei der Lebens­zeit­prä­va­lenz von Depres­sio­nen“, erklärt Univ. Prof. Armand Haus­mann von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Psych­ia­trie I der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Inns­bruck. Mit vier bis 20 Pro­zent haben Frauen eine zwei- bis drei­fach höhere Wahr­schein­lich­keit, im Leben eine uni­po­lare Depres­sion zu ent­wi­ckeln, als Män­ner (2,3 bis 13 Pro­zent). Bei der bipo­la­ren Stö­rung ins­ge­samt gibt es hin­ge­gen keine spe­zi­fi­schen Geschlechts­un­ter­schiede; bei der durch Hypo­ma­nie cha­rak­te­ri­sier­ten Sub­form sind wie­der über­wie­gend Frauen betrof­fen. Da die Sui­zid­ra­ten bei Män­nern deut­lich höher sind, obwohl die Depres­si­ons­rate gerin­ger ist, spricht man in die­sem Zusam­men­hang von einem „epi­de­mio­lo­gi­schen Para­do­xon“, wie Haus­mann erklärt. Mög­li­cher­weise wer­den depres­sive Erkran­kun­gen bei Män­nern oft nicht dia­gnos­ti­ziert, weil sie auf den ers­ten Blick nicht als depres­sive Sym­pto­ma­tik imponieren.

Wei­tere ent­schei­dende Gen­der-spe­zi­fi­sche Unter­schiede gibt es bei der Sym­pto­ma­tik. „Die Depres­si­ons-Sym­pto­ma­tik ist beim Mann wahr­schein­lich durch Tes­to­ste­ron bedingt eher durch Aggres­sion, Dys­pho­rie und Flucht­ten­den­zen gekenn­zeich­net“, weiß Univ. Prof. Sieg­fried Kas­per von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie am AKH Wien. Neben einer depres­si­ven Ver­stimmt­heit und der Antriebs­stö­rung sind wei­tere wich­tige Sym­ptome eine höhere Ten­denz zur Selbst­me­di­ka­tion mit Alko­hol und Niko­tin sowie eine erhöhte Risi­ko­be­reit­schaft, erkenn­bar an risi­ko­rei­chen Akti­vi­tä­ten wie schnel­lem Auto­fah­ren oder wag­hal­si­gen Berg­tou­ren. Außer­dem wei­sen depres­sive Män­ner eine höhere Sui­zid­nei­gung auf als depres­sive Frauen und neh­men sel­te­ner The­ra­pie­an­ge­bote in Anspruch. Män­ner kom­men auch sel­ten aus eige­ner Initia­tive mit einer depres­si­ven Sym­pto­ma­tik zum Arzt, son­dern fol­gen ent­we­der der Auf­for­de­rung ihrer Part­ne­rin oder kom­men aus ver­meint­lich ande­ren Grün­den zur Abklä­rung. Dazu zäh­len etwa kör­per­li­che Sym­ptome wie Enge­ge­fühl im Brust­raum, Kopf­schmer­zen, Schwit­zen, innere Unruhe oder Zit­tern, die meist direkte Sym­ptome der Depres­sion dar­stel­len. Risi­ko­fak­to­ren für die Ent­wick­lung einer depres­si­ven Sym­pto­ma­tik sind Kas­per zufolge Ver­lust­er­leb­nisse (zum Bei­spiel der Ver­lust eines Part­ners oder der Arbeits­stelle), hoher Blut­druck sowie Dia­be­tes mel­li­tus, der mit einer Beein­träch­ti­gung der sexu­el­len Funk­tion ein­her­ge­hen kann, was für die Betrof­fe­nen sehr belas­tend ist. „Der Ver­lust der Part­ne­rin ist für Män­ner in den meis­ten Fäl­len schwie­ri­ger als für Frauen, da sie meis­tens sozial bes­ser orga­ni­siert sind und sta­bi­lere Bezie­hun­gen pfle­gen“, führt Kas­per aus. Aus der Lite­ra­tur sei bekannt, dass gute soziale Bezie­hun­gen einen pro­tek­ti­ven Fak­tor dar­stel­len, wodurch Depres­sio­nen und andere psych­ia­tri­sche Erkran­kun­gen sel­te­ner ent­ste­hen, ergänzt Hausmann. 

Als Ursa­chen für die Gen­der-spe­zi­fi­schen Unter­schiede wer­den neu­ro­bio­lo­gi­sche, sozio­lo­gi­sche und psy­cho­lo­gi­sche Fak­to­ren dis­ku­tiert. Eine höhere Dichte an Östro­gen- und Pro­ges­te­ron­re­zep­to­ren in Hirn­re­gio­nen, die bei der Emo­ti­ons­ver­ar­bei­tung von Bedeu­tung sind, und im Hip­po­cam­pus, die Beein­flus­sung des sero­to­n­er­gen Neu­ro­trans­mit­ter­sys­tems durch die ova­ri­el­len Ste­ro­id­hor­mone sowie eine höhere Kon­zen­tra­tion der Monoa­mi­no­oxi­dase und damit ein ver­mehr­ter Abbau bio­ge­ner Amine steh­ten in Ver­dacht, die Ent­wick­lung einer Depres­sion zu begüns­ti­gen, so Haus­mann. Wei­tere Erklä­run­gen bezie­hen sich auf Unter­schiede in der Stres­sachse, bei Frauen eine höhere Emp­find­lich­keit gegen­über Trau­mata sowie der prä­ven­tive Cha­rak­ter des Tes­to­ste­rons. „Anhand des Kon­zepts des soge­nann­ten Late-Onset-Hypo­go­na­dis­mus ist bekannt, dass eine Ver­rin­ge­rung des Tes­to­ste­rons bei Män­nern im höhe­ren Alter mit höhe­ren Depres­si­ons­ra­ten asso­zi­iert ist“, erklärt Haus­mann. Unei­nig­keit besteht in der Lite­ra­tur hin­ge­gen über den gene­ti­schen Ein­fluss. Im Rah­men der sozio­lo­gi­schen und psy­cho­lo­gi­schen Fak­to­ren wer­den eine dys­funk­tio­nale Stress­ver­ar­bei­tung bei Män­nern, ein Gen­der Bias in der Dia­gnos­tik sowie das man­gelnde Erken­nen und Hil­fe­su­chen bei Män­nern als Ursa­chen diskutiert. 

All­ge­mein­me­di­zi­ner neh­men bei­den Exper­ten zufolge eine Schlüs­sel­rolle bei der Dia­gnos­tik und The­ra­pie von Depres­sio­nen ein, da sie die erste Anlauf­stelle dar­stel­len. Für die Dia­gnos­tik ist es not­wen­dig, den Pati­en­ten in sei­ner psycho-sozia­len Gesamt­si­tua­tion zu betrach­ten. Infor­ma­tio­nen dar­über, ob er allein oder in einer Part­ner­schaft lebt bezie­hungs­weise wie zufrie­den er mit sei­ner Bezie­hung ist, bie­ten erste Anhalts­punkte. Liegt Alko­ho­lis­mus als Kom­or­bi­di­tät vor, ist es wich­tig her­aus­zu­fin­den, ob nicht doch eine depres­sive Sym­pto­ma­tik ursäch­lich ist. „Auch sollte eine sozial grenz­wer­tige und aggres­sive Sym­pto­ma­tik nicht sofort als Per­sön­lich­keits­stö­rung miss­in­ter­pre­tiert wer­den“, betont Kasper.

Bei Ver­dacht auf eine depres­sive Sym­pto­ma­tik bei einem Mann ist beim dia­gnos­ti­schen Gespräch „ein hohes Maß an Fein­füh­lig­keit erfor­der­lich“, da das innere Gefühls­le­ben eines Man­nes häu­fig nicht direkt zugäng­lich ist, weiß der Experte aus der Pra­xis. Die direkte Frage, ob ein Pati­ent depres­siv ist, wird er mit gro­ßer Sicher­heit ver­nei­nen, da Depres­si­vi­tät von Män­nern in der Regel als Schwä­che erlebt wird und nicht in das Selbst­kon­zept passt. Daher ist es Kas­per zufolge ziel­füh­rend, sich nach sei­ner sozia­len Situa­tion und sei­nem Umfeld zu erkun­di­gen, ob es viel Streit und Aggres­si­vi­tät gibt, wobei der Pati­ent meist schon beginnt, sich über andere aus­zu­las­sen. „Als Arzt sollte man nicht ver­le­gen sein, auch nach der Sui­zi­da­li­tät zu fra­gen“, so Kas­per. Dabei sollte man nicht direkt fra­gen, son­dern bei­spiels­weise fol­gen­der­ma­ßen for­mu­lie­ren: „Das muss ja schreck­lich sein. Ist das Leben mit so einem Umfeld denn über­haupt lebens­wert?“. Wer­den die rich­ti­gen Fra­gen gestellt, fühlt sich der Pati­ent ver­stan­den, was wie­derum die Dia­gnos­tik erleich­tert und beschleunigt. 

Ver­trau­ens­volle Bezie­hung aufbauen

Bei der Inter­ak­tion mit einem depres­si­ven Pati­en­ten stellt der Auf­bau einer ver­trau­ens­vol­len Bezie­hung und eines the­ra­peu­ti­schen Kli­mas die Basis für die Behand­lung dar, weiß Haus­mann. Da sich die Krank­heits­ein­sicht und die Ein­stel­lung zu depres­si­ven Erkran­kun­gen zwi­schen Män­nern und Frauen unter­schei­det, gestal­tet sich auch die the­ra­peu­ti­sche Her­an­ge­hens­weise jeweils anders, so Kas­per. „Wäh­rend man Frauen ein zwi­schen­mensch­li­ches Modell anbie­tet, das mehr auf dem Gefühls­le­ben basiert, sind bei Män­nern mecha­nis­ti­sche Modelle wirk­sa­mer“. Laut dem Exper­ten ist es in der Argu­men­ta­tion ziel­füh­rend, die neu­ro­bio­lo­gi­schen Ursa­chen für eine Stim­mungs­ver­schie­bung in den Vor­der­grund zu rücken, und dem Pati­en­ten zu ver­mit­teln, dass ihn die Medi­ka­tion – ana­log zur Medi­ka­tion bei zu hohem Blut­druck – stär­ker macht und er dadurch noch mehr Leis­tung erbrin­gen kann. 

„Natür­lich ist es dif­fe­ren­ti­al­dia­gnos­tisch wich­tig, zu schauen, ob nicht eine gemischte Epi­sode vor­liegt, weil es bei Gabe von Anti­de­pres­siva in einer gemisch­ten Epi­sode zu Ver­schlech­te­run­gen kom­men kann“, betont Haus­mann. Den Pati­en­ten von einer Zuwei­sung zu einem Fach­arzt für Psych­ia­trie zu über­zeu­gen, erfor­dert häu­fig ein gutes Argu­men­ta­ti­ons­ge­schick. For­mu­lie­run­gen, die die Pro­ble­ma­tik mit den medi­zi­ni­schen Ursa­chen her­stel­len und dem Pati­en­ten ver­mit­teln, dass er unter­stützt wird, sind laut Kas­per beson­ders wir­kungs­voll, wie zum Bei­spiel: „Sie sind mein Pati­ent und ich schi­cke Sie nicht weg. Wir beide leis­ten uns jetzt den Luxus, dass Sie zum Fach­arzt gehen. Wenn Sie einen kom­pli­zier­ten Bein­bruch hät­ten, würde ich Sie auch zum Unfall­chir­ur­gen schicken“.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 19 /​10.10.2019