Schmerzsyndrome des Bewegungsapparates: Störung in der Biomechanik

25.03.2019 | Medizin

Während muskuloskelettale Schmerzsyndrome der Wirbelsäule bei jüngeren Menschen meist durch muskuläre Dysbalancen und Haltungsinsuffizienzen bedingt sind, sind solche Syndrome bei 40- bis 60-Jährigen häufig Anzeichen für beginnende degenerative Umbauprozesse an Bandscheiben und Wirbelgelenken.
Laura Scherber

Schaut man sich die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten an, ist eine starke Zunahme der muskuloskelettalen Schmerzsyndrome zu beobachten. „Dies ist zu einem großen Teil mit dem hohen Lebensalter der Bevölkerung assoziiert, da degenerative Veränderungen am Bewegungsapparat mit dem Alter signifikant zunehmen“, beschreibt Univ. Prof. Tatjana Paternostro-Sluga vom Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation des Donauspitals – Sozialmedizinischen Zentrum Ost in Wien. Durch gezieltes Training der Sensomotorik, Ergonomie und Kraft beziehungsweise Ausdauer unterstützt von physikalischen Modalitäten können die Gelenke entlastet und degenerative Veränderungen verzögert oder verhindert werden.

Bei jüngeren Patienten sind die muskuloskelettalen Schmerzsyndrome der Wirbelsäule meist durch muskuläre Dysbalancen und Haltungsinsuffizienzen bedingt. „Schmerzsyndrome entstehen, weil die Biomechanik gestört ist“, erklärt Paternostro-Sluga. Bei der Diagnostik ist es laut der Expertin besonders wichtig, den Bewegungsapparat holistisch zu betrachten, um die Ursache des Schmerzes zu lokalisieren. „Bei der klinischen Untersuchung von Patienten mit Kreuzschmerzen muss der gesamte Bewegungsapparat untersucht werden. Es ist zu überprüfen, ob beispielsweise ein Beckenschiefstand oder ein Ungleichgewicht der Muskulatur vorliegen oder die Fußstatik beeinträchtigt ist“, so Paternostro-Sluga. Neben einem individuellen Therapie- und Trainingsprogramm können weitere Hilfsmittel wie Schuheinlagen, elastische Bandagen, medizinische Tapes und eine ergonomische Arbeitsplatzgestaltung dazu beitragen, die Biomechanik zu stabilisieren. „Der Bewegungsapparat ist ein Ort der Schmerzprojektion, und das für vielfältige Beschwerden, die durchaus nicht nur körperlich bedingt sein können, sondern auch psychisch“, weiß Univ. Prof. Michael Quittan vom Institut für Physikalische Medizin und Rehabilitation am Sozialmedizinischen Zentrum Süd/Kaiser Franz-Joseph Spital in Wien. Psychosoziale Faktoren wie Unzufriedenheit am Arbeitsplatz oder auch depressive Verstimmungen projizieren sich oft auf Schultern, Nacken und auf die Wirbelsäule, da es hier sehr viele Schmerzrezeptoren gibt. Besonders Patienten mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen wie zum Beispiel einer Zerebralparese oder Multipler Sklerose leiden häufig unter Schmerzen am Bewegungsapparat, so Paternostro-Sluga. Diese Schmerzsyndrome gilt es, früh zu erkennen, anzusprechen und zu behandeln.

Inzidenz steigend

Rund 80 Prozent der Gesamtbevölkerung leiden irgendwann einmal im Leben an Kreuzschmerzen, wobei der Alters-Peak zwischen dem 40. und dem 60. Lebensjahr liegt. „Die Inzidenz steigt weltweit an und ist sicher einerseits auf den sitzenden, inaktiven Lebensstil zurückzuführen und andererseits auf die in diesem Alter beginnenden Umbauprozesse an der Bandscheibe und den Wirbeln und das führt zu Schmerzen“, erklärt Quittan. Dieser Kreuzschmerz ist selbst limitierend sofern „Red Flags“ ausgeschlossen werden können, das heißt schwerwiegende Erkrankungen wie Tumore, Schmerzausstrahlungen in die Beine mit Gefühlsstörungen oder Lähmungen und akute Entzündungen. Behandlungsempfehlungen lauten wie folgt: ausreichend Bewegung, Wärmeapplikation, physikalische Therapie und wenn notwendig eine kurzfristige Schmerzmedikation. „Aus vielen wissenschaftlichen Studien weiß man, dass Bettruhe eher zu einer Verschlechterung als zur Verbesserung der Symptomatik beiträgt“, fügt Quittan hinzu. Kommt es nach zwei bis drei Wochen zu keiner Besserung, gehen die Beschwerden in das subakute Stadium und nach drei Monaten in das chronische oder chronisch-rezidivierende Stadium über, ist eine weitere Abklärung erforderlich. Die „Yellow Flags“ sind zu evaluieren, indem der Patient mit seinen Lebensumständen und in seinem psycho-sozialen Umfeld betrachtet wird. Quittan weiter: „Besonders der Arbeitsplatz sollte aus mehreren Gründen evaluiert werden: Einerseits im Hinblick auf physische Belastungen wie schweres Heben, langes Sitzen oder Vibration und andererseits auch auf psychogene Risikofaktoren wie dem möglichen Verlust des Arbeitsplatzes oder mangelnde Arbeitszufriedenheit“.

Die Diagnostik des häufig vorkommenden zervikalen Schmerzsyndroms umfasst eine genaue Abklärung der Differentialdiagnosen. Laut Paternostro-Sluga handelt es sich dabei um den Ausschluss einer spezifischen Ursache wie etwa einer Radikulopathie, einer malignen Knochenveränderung oder eines entzündlichen Prozesses. Besteht keine spezifische Ursache, wird im zweiten Schritt genau abgeklärt, inwiefern eine muskuläre Dysbalance, eine Haltungsproblematik oder eine psychische Stresssituation für die Beschwerden an der Halswirbelsäule ursächlich sind. Sofern der Patient keine Schwäche, Reflexausfälle oder sonstige Red Flags hat, wird bei Vorliegen eines zervikalen Schmerzsyndroms eine konservative Therapie initiiert. Bessert sich die Symptomatik nach zwei bis drei Wochen nicht, ist eine weiterführende bildgebende Diagnostik notwendig. Handelt es sich beim jungen Patienten um eine Haltungsinsuffizienz, sind nach der analgetischen Therapie der akuten Schmerzphase Bewegungsübungen, eine Trainingsanleitung und Instruktionen für das Verhalten im Alltag indiziert.

Bewegung und physikalische Modalitäten

Neben der Bewegungsförderung und Bewegungstherapie sind bei älteren Patienten physikalische Modalitäten wie Wärme, Massage und Elektrotherapie länger und immer wieder einzusetzen – vor allem im Hinblick auf den nicht-medikamentösen analgetischen Wirkmechanismus. Grundsätzlich habe auch das Therapieziel einen Einfluss auf die Therapie. So werde etwa bei einer Sportverletzung binnen kürzester Zeit eine Reihe von Maßnahmen gesetzt; bei degenerativen Veränderungen müsse dagegen eine moderate, langfristige Therapie angestrebt werden.

Bei rund 23 Prozent der Menschen kommt es zur Arthrose des Knies. Risikofaktoren sind Bewegungsmangel, Übergewicht und eine gewisse erbliche Prädisposition verbunden mit einer natürlichen Neigung zu Knorpelschäden. Auch Sport kann durch Überschreitung der Belastbarkeit zu Knorpelschäden bis hin zur Arthrose führen. „Die Arthrose ist eine durch Schmerzen eingeschränkte Gelenksbeweglichkeit und durch Muskelschwäche charakterisiert“, erklärt Quittan. Das erkrankte Gelenk hemmt die umgebende Muskulatur, der Muskel wird dünner und weniger leistungsfähig und dadurch wird wieder die Abnützung des Gelenks gefördert. Da die akuten Beschwerden besonders Meniskus- und Kreuzbandschäden meist mit einer Schwellung des Knies einhergehen, steht die Gelenkserguss-Kontrolle im Vordergrund. Laut dem Experten helfen Maßnahmen wie Kälte, Kompression (Kniestrumpf), eine gewisse Schonung und nicht-steroidale Antirheumatika in der Initialtherapie. Meniskus- und Kreuzbandschäden werden operativ behandelt, um der Entwicklung einer Arthrose durch die chronische Instabilität vorzubeugen. Liegt hingegen eine Arthrose durch Abnützung vor, wird laut Quittan zunächst ein konservativer Therapieversuch unternommen mit der physikalischen Schmerztherapie und bewegungstherapeutischen Maßnahmen wie Muskeltraining, bewegungskoordinativem Training, der Stärkung der kniegelenksstabilisierenden Muskulatur und dem sportspezifischen Training als höchster Form der Rehabilitation. Der Gelenksersatz als Ultima ratio ist dann indiziert, wenn die Arthrose die Bewegungsfähigkeit des Patienten massiv einschränkt. „Wir betrachten eigentlich nicht nur das Knie, sondern den ganzen Menschen“, betont Quittan. Da körperliche Inaktivität der größte Risikofaktor für Erkrankungen ist, ist es das Ziel, den Patienten wieder in den Zustand der Leistungsfähigkeit zu versetzen und zu halten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2019